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30 Jahre Pfohl-Woyrsch-Gesellschaft e.V. – Bericht vom Symposium 2024

[Anmerkung des Verfassers: Der folgende Text ist ein Bericht über das zweitägige musikwissenschaftliche Symposium, das die in Hamburg ansässige Pfohl-Woyrsch-Gesellschaft e. V. anlässlich des 30. Jahrestages ihrer Gründung im September 2024 veranstaltete. Der Verfasser ist selbst Mitglied der Gesellschaft und hielt im Rahmen dieses Symposiums einen Vortrag. Im Anschluss daran schrieb er auf Bitten der Organisatoren einen Bericht, um in knapper Form den Inhalt der Veranstaltung festzuhalten. Ursprünglich war angedacht, den Text an eine im Druck erscheinende Musikzeitschrift zur Veröffentlichung zu geben. Nachdem die Zeitschrift Bedenken angemeldet hatte, da es sich bei dem Verfasser um einen der Mitwirkenden handelte, entschied selbiger in Übereinstimmung mit den Organisatoren des Symposiums, das Maß voll zu machen und zur Personalunion von Teilnehmer und Verfasser noch die des Herausgebers hinzuzufügen. Ich betrachte die folgenden Zeilen als Bericht. Wenn er gelegentlich den Charakter einer Rezension, gar einer zustimmenden, annimmt, so geschieht dies in Anerkennung der wissenschaftlichen, künstlerischen und organisatorischen Leistungen meiner geschätzten Kolleginnen und Kollegen. N.F. Schuck, Januar 2025]

Seit 30 Jahren pflegt die Pfohl-Woyrsch-Gesellschaft das Andenken zweier Komponisten, die im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert maßgeblichen Einfluss auf das Musikleben Hamburgs ausübten: Ferdinand Pfohl (1862–1949) und Felix Woyrsch (1860–1944). Einander in gegenseitiger Wertschätzung verbunden, waren sie sehr verschiedene Künstler. Pfohl, der in einem impressionistischen Stil vorrangig Lieder, Klavierwerke und orchestrale Programmmusik schuf, war zugleich ein Virtuose des Wortes und als solcher einer der einflussreichsten Musikkritiker seiner Generation. Diese Tätigkeit ließ ihn zeitweise als schöpferischen Musiker verstummen, sodass die meisten seiner Kompositionen entweder Früh- oder Alterswerke sind. Im Gegensatz zu Pfohl geizte Woyrsch mit verbalen Äußerungen, sodass wir über seine Persönlichkeit wenig wissen. Sein Lebensmittelpunkt war Altona, die einst selbstständige Nachbarstadt, die erst nach Hamburg eingemeindet wurde, als ihr Städtischer Musikdirektor Woyrsch bereits in den Ruhestand getreten war. Neben seinem über vierzigjährigem Wirken als Kirchenmusiker und Leiter der Altonaer Singakademie gelang es ihm, erstmals in Altona regelmäßige Symphoniekonzerte zu etablieren. Sein kompositorisches Werk, im klassischen Gattungskanon verankert, ist sehr breit gefächert, wobei sich mit der Zeit der Schwerpunkt von Opern, Oratorien, Chören und Liedern auf Kammermusik und Symphonik verlagert und die Harmonik herber und kühner wird.

Anlässlich ihres 30. Gründungstages veranstaltete die Pfohl-Woyrsch-Gesellschaft am 20. und 21. September 2024 in Kooperation mit dem KomponistenQuartier Hamburg im Lichtwarksaal der Carl-Toepfer-Stiftung ein wissenschaftliches Symposium. Zwischen den beiden Vortragsreihen gaben der Sänger Johannes Wedeking (Bass) und die Pianistin Tatjana Dravenau einen Liederabend mit Werken beider Komponisten.

Der erste Tag des Symposiums war Woyrsch gewidmet. Andreas Dreibrodt (Neumünster), Pionier in der Erforschung des Woyrsch-Nachlasses, beschrieb die Rezeptionsgeschichte der Musik des Komponisten, ihr allmähliches Verschwinden aus dem Repertoire und die zunehmende Beachtung, die ihr seit der Wiederaufführung des Oratoriums Da Jesus auf Erden ging anlässlich des 800. Hamburger Hafengeburtstags 1989 zuteil wird. Einen entscheidenden Wendepunkt bedeutete der 150. Geburtstag Woyrschs 2010. Seitdem hat die Repräsentation seines Schaffens auf Tonträgern und im Notendruck bedeutende Fortschritte gemacht. (Es folgte der Vortrag des Verfassers dieser Zeilen über die sechs zwischen 1908 und 1941 entstandenen Symphonien Woyrschs: eine Betrachtung hinsichtlich Form und Harmonik, sowie der stilistischen Entwicklung des Komponisten.) Cornelia Picej (Graz) und Hazal Akyaz (Linz) verfolgten die Rezeptionsgeschichte des Oratoriums Totentanz in Österreich. Der Totentanz, in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg international erfolgreich und eines den meistgespielten deutschen Oratorien, erklang in Österreich bislang nur zweimal. Picej und Akyaz berichteten über die Hintergründe der Aufführungen 1926 in Linz unter Georg Wolfgruber (Vater) und 1949 in Wels unter Georg Wolfgruber (Sohn), wobei sie auch biographische Irrtümer über die beiden gleichnamigen Dirigenten aufklären konnten. Ein Vortrag über Woyrschs bedeutendsten Schüler Ernst Gernot Klussmann (1901–1975), Autor von zehn Symphonien und fünf Opern, beschloss den ersten Teil des Symposiums. Der Komponist Wolfgang-Andreas Schultz (Wedel), Schüler Klussmanns (und Ligetis), erzählte vom persönlichen Umgang mit seinem Lehrer, umriss dessen Biographie und schilderte die Entwicklung Klussmanns von einer post-brahmsischen Tonsprache bis zur Dodekaphonie. Besondere Aufmerksamkeit widmete er Klussmanns persönlicher Zwölftonmusik aus dreiklangsbasierten Reihen. Die späten Opern des Komponisten klingen trotz strengster Reihenkonstruktion auffallend geschmeidig, eher an Richard Strauss erinnernd als an Schönberg.

Die zweite, Pfohl gewidmete Vortragsreihe, wurde am folgenden Tag durch Andreas Willscher (Hamburg) mit einer Einführung in Pfohls kompositorisches Schaffen eröffnet. Willscher, selbst Komponist, hat die erste Biographie über Pfohl samt Werkverzeichnis verfasst und zahlreiche von dessen Werken bearbeitet. Anhand von Kompositionen verschiedener Gattungen beschrieb er Pfohls Klangideal, das stets ins Orchestrale tendiert, sowie seine Vorliebe für Synkopen und Nonakkorde. Tristan Eissing (Halle) widmete sich dem Musikkritiker Pfohl und analysierte mittels statistischer Auswertung von Stichproben aus über 800 Rezensionen, welche Schwerpunkte dieser in seinem Schreiben über musikalische Aufführungen setzte. Beispielsweise nahm in seinen Opernkritiken die genaue Beurteilung der stimmlichen Qualität und interpretatorischen Leistung der Sänger und vor allem der Sängerinnen den größten Raum ein, während er die Werke selbst meist nur dann besprach, wenn es sich um Neuheiten handelte. Pfohls Beziehungen zur Hasse-Gesellschaft in Hamburg-Bergedorf wurden von Wolfgang Hochstein (Geesthacht) ausführlich dargestellt. Mehr als ein Vierteljahrhundert in Bergedorf ansässig, hielt Pfohl seit 1913 Vorträge im Rahmen von Veranstaltungen der Gesellschaft, wobei sich diese Zusammenarbeit in den 1930er Jahren intensivierte. Auch wurden Geburtstagskonzerte zu Pfohls Ehren durchgeführt. Da ein Großteil dieser Aktivitäten in die Zeit des Nationalsozialismus fällt, widmete sich Hochstein auch dem Verhältnis Pfohls zu den damaligen Machthabern. Zwar hat sich Pfohl als Bewunderer Wagners positiv zur Förderung der Bayreuther Festspiele durch die Nationalsozialisten geäußert, doch waren ihm, seit er 1933 in einem Vortrag anlässlich des 100. Geburtstags von Brahms dessen jüdische Freunde und Vorliebe für Zigeunermusik hervorgehoben hatte, Auftritte im Rundfunk untersagt. Als Anhänger der nationalsozialistischen Ideologie kann Pfohl jedenfalls nicht bezeichnet werden. Johannes Wedeking (Haan), der Sänger des Liederabends, berichtete von dem Fund Pfohlscher Liedmanuskripte im Deutschen Literaturarchiv Marbach, der die Geschichte der „Halkyonischen Akademie für unangewandte Wissenschaften“ erhellt, einem von dem Dichter Otto Erich Hartleben gegründeten Künstlerbund. Die Manuskripte, darunter auch bislang unbekannte Lieder, belegen die enge Zusammenarbeit Pfohls und Hartlebens bei der Entstehung der Mondrondels auf Texte aus Hartlebens Nachdichtung von Girauds Pierrot Lunaire. Der letzte Vortrag stammte von Simon Kannenberg (Detmold), dem Anreger und Hauptorganisator des Symposiums, und befasste sich mit der Rhapsodie Twardowsky für Mezzosopran, Männerchor und Orchester, die u. a. von Max Reger geschätzt und aufgeführt wurde. Neben einer Einführung in den Sagenkreis um den „polnischen Faust“ Twardowsky, stellte Kannenberg das Werk ausführlich vor und ging seiner Aufführungsgeschichte nach, die 1932 mit einer Darbietung im Hamburger Rundfunk (vorläufig?) endete.

Der Liederabend, der nach Ende der ersten Vortragsfolge die Überleitung von Woyrsch zu Pfohl bildete, machte nicht nur die verschiedenen Ansätze beider Komponisten in ihren Liedkompositionen deutlich, sondern beeindruckte auch durch das ungewöhnliche Unterhaltungstalent Johannes Wedekings, der zwischen den Liedvorträgen geistreiche, leichtfüßig vorgetragene Überleitungen voller kulturgeschichtlicher und philosophischer Anspielungen einflocht.

Eine Veröffentlichung der auf dem Symposium gehaltenen Vorträge ist geplant.

[Norbert Florian Schuck, Oktober 2024]

Für Hausmusik und Klavierunterricht: Klussmanns Xenien

Sikorski SIK0201; ISMN: 9790003033143

Sie suchen nach Klaviermusik des 20. Jahrhunderts für den Hausgebrauch? Nach Stücken von geringer Schwierigkeit, die trotzdem anspruchsvoll komponiert sind und ihrem Spieler Vergnügen bereiten? Antiquarisch fiel mir vor kurzem ein Heft mit sechs kurzen Klavierstücken in die Hände, von denen ich meine, dass sie diesen Anforderungen gerecht werden. Es handelt sich um die Xenien op. 27 von Ernst Gernot Klussmann. Sie sind bei Sikorski erschienen und wurden erstmals 1951 veröffentlicht, können aber nach wie vor vom Verlag bezogen werden, weswegen hiermit ausdrücklich auf sie hingewiesen sei.

Ernst Gernot Klussmann wurde 1901 in Hamburg geboren, war also etwas jünger als Paul Hindemith und Johann Nepomuk David, gleichaltrig mit Ernst Pepping, und etwas älter als Günter Raphael und Kurt Hessenberg. Wie diese wuchs er noch in der Tradition des späten 19. Jahrhunderts auf – sein Kompositionslehrer war der als Symphoniker und Oratorienkomponist hochbedeutende Altonaer Musikdirektor Felix Woyrsch – und suchte ab den 1920er Jahren neue Wege. Auch für Klussmann wurde der Eindruck barocker Polyphonie bedeutsam. Eine Vorliebe für kontrapunktischen Tonsatz, die sich in zahlreichen als Choralbearbeitung, Passacaglia oder Fuge gestalteten Sätzen niederschlägt, prägt sein gesamtes Schaffen. Seit 1942 als Musikpädagoge in seiner Geburtsstadt wirkend, genoss Klussmann den Ruf eines hervorragenden Lehrers. Als Komponist war er vor allem durch seine ab 1928 entstandenen ersten fünf Symphonien bekannt geworden. Hatte er in diesen Werken streng tonal zentriert komponiert, so vollzog er in den 50er Jahren einen radikalen Stilwandel, indem er sich der Zwölftonmusik zuwandte. Unter Verwendung der Zwölftonmethode, die er, ähnlich wie Alban Berg, Nikos Skalkottas oder Alberto Ginastera, zunehmend frei behandelte, schrieb er bis zu seinem Tode 1975 weitere fünf Symphonien und mehrere Opern.

Die Xenien gehören zu den letzten nicht-zwölftönigen Werken Klussmanns. Es handelt sich eindeutig um Nebenwerke, allerdings um Nebenwerke eines reifen Meisters, der kurz zuvor seine Fünfte Symphonie beendet hatte. Der Symphoniker zeigt sich in diesen Stücken, von denen das kürzeste eine halbe, das längste drei Druckseiten umfasst, als konzentriert arbeitender Miniaturist. Kein Takt ist hier zu viel, und jeder hat Anteil an einer konsequent vorangetriebenen, in sich geschlossenen Entwicklung. Klussmann lädt den Spieler ein und macht ihm Mut, indem er mit einem sehr einfachen, zweistimmigen Stück beginnt, das nur 24 Takte dauert, „Modernismen“ ganz dezent einsetzt (erniedrigter Leitton, offene Quintparallele) und sich geradewegs vom Blatt spielen lässt. Nichtsdestoweniger werden beide Hände bereits hier selbstständig behandelt.

Nr. 2, in e-phrygisch, die durch einen ruhelosen, elegischen Ton besticht, steht in langsamem 3/4-Takt und wird von einem durchgehenden Achtelduktus getragen. Das Stück schult beide Hände gleichermaßen im Spiel gesanglicher Melodielinien: Erst tauschen Rechte und Linke nach vier Takten die Stimmen, dann erhält jede Hand eine ostinate Begleitung, zu welcher die jeweils andere auf einfache Weise mehrstimmig spielt. Herbe Dissonanzen, die sich aus der Stimmführung ergeben, verleihen der Musik zusätzlichen Reiz.

Das dritte Stück ist ein sehr sparsam gesetzter, nur in wenigen Takten die Zweistimmigkeit verlassender Ländler. Die linke Hand übernimmt kurz in der Mitte die Melodie, hat aber ansonsten eine durchgehend staccato vorzutragende, in gleichmäßigen Vierteln gehaltene Begleitung aus Quarten und Tritoni zu spielen. Die Dynamik muss der Spieler aus der Musik herausfühlen, da der Komponist lediglich den Schluss (in F statt des erwarteten E) mit einer Angabe versehen hat (pp).

Auch die „ruhig bewegte“, aber durchaus beschwingt wirkende Nr. 4 (g-Moll) gibt der linken Hand über weite Stecken eine gleichmäßige Begleitung zu spielen, diesmal allerdings in Form ständiger Quintsprünge. Harmonisch ist das Stück offensiver modern als die vorigen: Die rechte Hand spielt zahlreiche Sekundparallelen, und in den G-Schlussakkord mischen sich ein F und ein A. Spieltechnisch geschult werden die Hände hier durch die Umkehrung der Motive in der zweiten Hälfte des Stücks.

Die an fünfter Stelle stehende Invention, die gleich zu Beginn E und G in der Linken auf Es in der Rechten treffen lässt und die gleiche Konstellation zum Schluss in die Dissonanz E-G-D „auflöst“ (es wirkt tatsächlich entspannend), ist das einzige Stück der Reihe, das größere Ansprüche an die Fingerfertigkeit stellt. Die Hände tauschen hier untereinander eine melodisch prägnante Stimme und albertibassartige Sechzehntelfigurationen aus, wobei sich in letzteren eine latente Zweistimmigkeit verbirgt, die vom Spieler zur Geltung zu bringen ist.

Nach diesem verhältnismäßig „virtuosen“ Stück beschließt Klussmann seine kleine Sammlung mit einer Air in e-Moll (3/4-Takt), deren Schwierigkeitsgrad etwa demjenigen des zweiten Stücks entspricht. Wie dieses strahlt Nr. 6 strenge, apollinische Schönheit aus. In der rechten Hand entfaltet sich ein den Grundton immer nur streifender, sich erst am Schluss auf ihm niederlassender Melodiebogen, der im Laufe des Stückes mehrere Oktaven durchmisst, während die linke mit einer in gleichmäßigen Vierteln pochenden, meist dreistimmigen Begleitung grundiert. Sehr interessant ist es zu verfolgen, wie Klussmann mittels Sekundrückungen die Musik durch immer neue harmonische Zwischenstufen führt und sie dabei allmählich zu glühender Intensität steigert. Großartig wirkt insbesondere der Abgesang, der melodisch, erst in der Rechten, dann in der Linken, G-Dur durchmisst, dieses aber in der jeweils anderen Stimme mit der Quartsextakkordfolge E-, D-, C-, B-, As-, Ges-, F-, Es- und D-Dur umkleidet. Ich stehe nicht an, das Xenion Nr. 6 ein kleines Juwel zu nennen. Es dürfte sich auch ideal dazu eignen, Klavierschüler mit den Reizen freier Stimmführung bekannt zu machen.

Der Titel, den der Komponist der Sammlung gegeben hat, bezieht sich wohl nicht auf die Tradition spöttischer Epigramme, wie sie in der deutschen Literatur von den Xenien Goethes und Schillers begründet wurde – dazu sind Klussmanns eher introvertierte Stücke zu wenig keck. Eher scheinen mir hier im ursprünglichen Wortsinne „Gastgeschenke“ vorzuliegen – Dinge also, die ins Haus mitgebracht werden. Um Hausmusik handelt es sich eindeutig: um Stücke zum Selbstspielen oder zum Gebrauch im Klavierunterricht. Zu beiderlei seien die Xenien op. 27 von Ernst Gernot Klussmann wärmstens empfohlen.

[Norbert Florian Schuck, Februar 2022]