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Henzes Skandal-Oratorium – aktueller denn je

SWR Classic SWR19082CD; EAN: 7 4731390828 8

Fast 49 Jahre nach dem wohl größten Konzertskandal Nachkriegsdeutschlands hat das neu zusammengelegte SWR Symphonieorchester unter Peter Eötvös 2017 die erst zweite CD-Einspielung von Hans Werner Henzes Oratorium „Das Floß der Medusa“ in der Hamburger Elbphilharmonie aufgenommen. Die Solisten waren Camilla Nylund, Peter Schöne und Peter Stein – nicht nur akustisch ein echter Glücksfall, den man nun auch zuhause anhören kann.

Der angesetzten Hamburger Uraufführung von Hans Werner Henzes (1926-2012) „Oratorio vulgare e militare in due parti“ Das Floß der Medusa durch den Komponisten war am 9.12.1968 durch einen massiven Polizeieinsatz ein jähes Ende bereitet worden; der Skandal erzeugte einen derartigen Presserummel, dass man darüber wohl ganz vergessen hat, sich ästhetisch weiter mit Henzes vielleicht erstem, wirklich großformatigen „politischen“ Werk auseinanderzusetzen. Schon im Vorfeld hatte seinerzeit Der Spiegel polemisiert, Henze sei nur „der alte Ästhet, der gepflegte Epigone, der geschmäcklerische Eklektizist“. Geblieben ist ein Mitschnitt der Generalprobe durch den NDR (auf Deutsche Grammophon) – die eigentliche Uraufführung fand 1971 im Wiener Musikverein statt; danach war es lange still um das Stück.

Nachdem Henze 1990 den unmittelbaren Schluss revidiert hatte – der Schlagzeug-Rhythmus des „Ho-Ho-Ho-Tschi-Minh“-Protestrufs wird melodisch umwölkt – gab es auch nur spärlich Aufführungen. Dass das aufwändige Stück gerade in den letzten Jahren – zufällig oder bereits geplant? – nun öfters zu hören ist, mag in Koinzidenz zur Flüchtlingskrise im Mittelmeer mit zehntausenden Opfern nicht wirklich verwundern. In jedem Fall erweist sich Henzes Mahnung als aktueller denn je. Die historische Schiffskatastrophe von 1816 – ihr folgte noch ein Justizskandal – war drei Jahre danach von Théodore Géricault in seinem berühmten Gemälde La Radeau de la Méduse festgehalten worden, das Henze als emotionale Basis verwendet. Das Oratorien-Libretto von Ernst Schnabel kennt neben dem großen Chor einen Sprecher (Charon), den Seemann Jean-Charles (Bariton) und die allegorische Figur la Mort (Sopran); die räumliche Aufteilung des Chores sieht vor, dass die Sänger*innen nach und nach von der Seite des Lebens auf die Seite des Todes wechseln. Das klingt in der alten Aufnahme – insbesondere die Sopranistin betreffend – wie künstlich am Mischpult hergestellt; in der Neuaufnahme hört man davon wenig, dafür ist die räumliche Abbildung insgesamt überzeugender.

Alle Vokalisten der Neuproduktion erweisen sich als vortrefflich: Camilla Nylunds Sopran klingt durchaus gefährlich, das nervig Schrille von Edda Moser fehlt ihr jedoch glücklicherweise. Peter Schöne erreicht zwar nicht ganz die eindringliche Wärme von Dietrich Fischer-Dieskau, zeigt aber dennoch berührende Ausdrucksstärke – und singt weniger falsche Noten. Die eigentliche Überraschung ist Regisseur Peter Stein: rhythmisch sicher und klanglich Charles Regniers Charon nicht unähnlich, ist sein Vortrag immer voller Anteilnahme und verzichtet völlig auf das leicht Spöttische, Regniers Markenzeichen, in Henzes Oratorium freilich eher deplatziert. Die Chöre intonieren sicherer, wie eigentlich alles an der neuen Aufnahme werden sie zudem akustisch deutlich besser eingefangen – und die Freiburger Domsingknaben sind dem Knabenchor von 1968 haushoch überlegen.

Peter Eötvös hat erst 2016 selbst ein Orchesterstück komponiert, das die Flüchtlingsthematik reflektiert: Alle vittime senza nome. Unter seiner souveränen Leitung klingt das Riesen-Orchester nun ebenfalls durchsichtiger, einzelne Klangfarben kommen besser zur Geltung; Eötvös versteht vollkommen die Henze-typischen musikalischen Zeichen. Der Dramaturgie als Ganzes entlockt er so manchen Gänsehaut-Moment. So fügt sich in der SWR-Aufnahme alles geradezu perfekt zusammen und präsentiert dem Zuhörer Henzes komplexes, aber aufrüttelndes Oratorium – jenseits aller Skandale und Eklektizismus-Diskussionen – als das, was es ganz sicher ist: ein musikalisches Meisterwerk.

[Martin Blaumeiser, März 2020]

Die Musikgeschichte im Blick

Johannes X. Schachtner: Works for Ensemble, Ensemble Zeitsprung, Markus Elsner

Das Ensemble Zeitsprung unter Markus Elsner spielt Werke von Johannes X. Schachtner, der im Jahr der Entstehung dieser Aufnahme Artist in Residence des Ensembles ist. Auf dem Programm steht der Symphonische Essay von 2008 in der dritten Fassung von 2015/16, Aufstieg von 2010, Air – an Samuels Aerophon und Quatre tombeaux de vent von 2013 sowie die Inventionen III bis V, Hopscotch (2013), Canon – tribute to Johanna M. Beyer und Battery (je 2016). Die Gesangspartien in Quatre tombeaux de vent übernimmt Thérèse Wincent, Peter Schöne hören wir in Aufstieg.

 

Johannes X. Schachtner zählt zu den erfolgreicheren Komponisten der jüngeren Generation, er wird von Julia Fischer, Ulf Schirmer und anderen regelmäßig programmiert und tritt auch selbst als Dirigent auf die Bühne. Was Schachtner besonders macht, ist seine überragende Kenntnis der gesamten Musikgeschichte, die sich nicht zuletzt in seinem Werk wiederspiegelt. Der Komponist verirrt sich nicht in Modernismen und dem Bestreben nach ewig noch Neuerem, sondern reflektiert das Vorhandene und bezieht es mit ein. Und je mehr er dies tut, je „moderner“ werden auch die Werke, denn hier entfaltet sich etwas, das eigenständig und unerhört ist. Der Hörer kann es verstehen und nachvollziehen, wird nicht erschlagen von rein intellektuell erdachten Klangkonstellationen.

Am bezwingendsten erscheinen die frühesten beiden Werke dieser CD: Der Symphonische Essay und Aufstieg. Der symphonische Essay ist eine verdichtete Form einer ursprünglichen Kammersymphonie von 2008 und demonstriert noch immer symphonische Kontraste und Dualität. Errichtet ist sie über einer Idee aus Beethovens 8. Symphonie, die immer wieder herausscheint, sich aber nicht in den Vordergrund drängt. Die Form ist gereift und kompakt, schlüssig in ihrer Ausdehnung. Der Komponist beweist in diesem Werk, wie viel er von Instrumentation und dem Miteinander der Musiker versteht, wobei er sich nicht scheut, auch einmal tonal zu werden. Aufstieg basiert auf Texten von Johanna Schwedes und legt den Fokus darauf, diesen in der Musik abzubilden. So lässt Schachtner die Worte verständlich klingen und bereichert sie durch Musik, fragmentiert und setzt wieder zusammen. Dabei unterstreicht er die wichtigen Passagen subtil und überakzentuiert sie nicht, was einem kontinuierlichen Fluss durch die Texte zugutekommt. Die Sopranpartie in den Quatre tombeaux de vent ist da schwebender und umnebelt, anders als die klare und geerdete Baritonstimme in Aufschwung. Interessant sind auch die Inventionen (tatsächlich in ihrer ursprünglichen Bedeutung, wie wir sie von Bach kennen), in denen je das Schlagzeug eine tragende Rolle spielt. In jeder Invention wird es von neuen Perspektiven betrachtet und so erhalten wir ein Bild auf dieses Instrument, das Jahrhundertelang nur in orchestralen Kontexten wichtig war und erst im 20. Jahrhundert als Solist zum Vorschein trat.

Das Ensemble Zeitsprung zeichnet sich durch seine Gewissenhaftigkeit aus: Markus Elsner und seine Musiker wissen, wie wichtig und bedeutend ihre Aufgabe ist und, dass gerade bei moderner Musik eine schlechte Aufnahme auf das Stück und nicht die Musiker zurückgeführt wird, wodurch das Werk auf diese Weise schnell zugrunde gehen kann. Entsprechend viel Arbeit und genaue Reflexion stecken in der Darbietung der Musiker und wird hörbar. Mehr sogar, wir nehmen nicht nur wahr, dass die Musik verstanden wird, sondern, dass sie eine Herzensangelegenheit für alle Beteiligten ist. So wird die Musik lebendig, frisch und unverbraucht dargeboten, die Freude an ihr überträgt sich unweigerlich auf den Hörer.

[Oliver Fraenzke, Mai 2018]