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Beglückender Abend des BRSO unter François-Xavier Roth bei der musica viva

Antoine Tamestit und François-Xavier Roth © Severin Vogl

Im Konzert der musica viva am 12. April 2024 im Münchner Herkulessaal spielte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter François-Xavier Roth die Uraufführung des Bratschenkonzerts von Francesco Filidei (Solist: Antoine Tamestit), „Cloudline“ der US-Amerikanerin Elizabeth Ogonek sowie Iannis Xenakis‘ unglaublich herausforderndes Werk „Aïs“ – mit dem Bariton Georg Nigl und dem Schlagzeuger Dirk Rothbrust. Zu Ehren des kürzlich verstorbenen Komponisten und Dirigenten Peter Eötvös hatte man dessen Stück „Sirens’ Song“ zusätzlich aufs Programm gesetzt.

Im März 2024 haben wir innerhalb von nur elf Tagen gleich drei echte Weltstars der Neuen Musik verloren: Aribert Reimann, Maurizio Pollini, und am 24. 3. den Ungarn Peter Eötvös (Jahrgang 1944). Der war als Komponist bereits 1980 mit einem Kammermusikwerk bei der musica viva vertreten, hat dann ab 1989 regelmäßig das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks für dieses Format geleitet und dabei Musiker wie Publikum stets begeistert. 2019 war ein komplettes Programm Eötvös‘ eigener Musik gewidmet (wir berichteten). Grund genug, nach einer empathischen Würdigung durch Winrich Hopp und einer Schweigeminute eines seiner letzten Orchesterwerke – Sirens‘ Song von 2020 – erklingen zu lassen.

Schon hier spürt man, dass François-Xavier Roth und das BRSO einen großen Abend haben. Tatsächlich ist das Stück für mittelgroßes Orchester, in dem der Komponist versucht „hörbar zu machen, was Odysseus niemals zu Gehör bekommen hat“ (Eötvös) rhythmisch relativ simpel gestrickt. Harmonisch bilden zunächst Quint- und Tritonus-Schichten die Basis für liebreizende, zugleich ungreifbare Glissandi und wunderbare Bläser-Klangmischungen. Später kommen – von den Bässen ausgehend – Quartschichtungen hinzu; da wird’s schon gefährlicher – und die Bläser mutieren zu „Killervögeln mit Frauenköpfen“. Die Streicher ziehen die Zuhörer jedoch nach und nach in den Abgrund – fast unmerklich, ohne dass es laut würde. In einer kurzen Coda – quasi Dur – bleibt nur das sonnendurchflutete, ruhige Meer: hübsche, völlig nachvollziehbare Musik, die mit ihrer Schönheit auch das Publikum betört.

Francesco Filidei (*1973), der gerade an einer Oper nach Umberto Ecos Der Name der Rose arbeitet, hat die drei Sätze seines gut halbstündigen Konzerts für Viola und Orchester so ziemlich mit allen technisch-klanglichen Möglichkeiten gespickt, die sich für das – verglichen mit der Violine – solistisch immer noch etwas unterbelichtete Instrument anbieten. Der lange erste Satz Die Gärten von Vilnius ist eine Umarbeitung von Filideis gleichnamigem Cellokonzert. Hierbei bezieht sich der Komponist ausdrücklich beispielsweise auf die Tradition von Ottorino Respighis Tondichtungen. Die Verbindung von struktureller Klarheit – hier u. a. symmetrische bzw. „kreisförmige“, fraktale Motivbildungen – und beeindruckender Instrumentationskunst, etwa der konsequenten Auffächerung von Geräuschen über das totale Klangspektrum, sind wie immer bei ihm völlig faszinierend; ebenso, wie er die Solo-Viola dramaturgisch einsetzt. Der Mittelsatz ist rein humoristisch, sozusagen ein einziger, comic-artig vertonter Bratschenwitz. Antoine Tamestit muss hier auf „metronomische“ Vorgaben der Schlagzeuger Skalen, Flageolets usw. „üben“ – was natürlich schiefläuft. Die halbszenische Solistenpose wird dadurch völlig dekonstruiert: zur Posse. Dasselbe geschieht mit dem Material im Orchester, deutlich erkennbar etwa der C-Dur-Schlussfuge von Verdis Falstaff entnommen; die Einleitungstakte dazu werden – mittendrin – gar wörtlich zitiert. Aberwitzig ironisch erinnert dieses gut getimte Intermezzo den Rezensenten an den Mittelsatz TSIAJ („This Scherzo Is A Joke“) von Charles Ives‘ Klaviertrio. Das melancholische Finale – gegen Schluss erklingen nochmals Fragmente aus den Sätzen zuvor – bietet schließlich Tamestit die Gelegenheit, auf seiner Stradivari zu singen. Hinreißend, wie sich diese erfüllte Präsenz seiner Persönlichkeit auf den fast ausverkauften Herkulessaal überträgt: großer Beifall für ein musikalisch vielschichtiges Konzert.

Obwohl viel kürzer, kann Cloudline (2021) der jungen Amerikanerin Elizabeth Ogonek (*1989) – wie Filidei persönlich anwesend – Publikum wie Rezensent fast noch mehr begeistern. Selten hat man ein derartig natürliches, offenkundiges Gespür erlebt, für Orchester zu schreiben. Einerseits ausgehend von Wolken als Naturphänomen, andererseits dem Wunsch – und für die Uraufführung in der gigantischen Londoner Royal Albert Hall absolute Notwendigkeit –, mikrotonale Multiphonics der Klarinetten für einen größeren Klangkörper regelrecht zu instrumentieren, überzeugt dieses Werk auf ganzer Linie – bis ins Detail sensibelst austariert und im wohlklingenden Ergebnis einfach staunenswert.

Im krassen Gegensatz zu solcher Ästhetik steht Iannis Xenakis‘Aïs“ (= Hades), ein Auftragswerk für die musica viva von 1980 (UA 1981). Diese Auseinandersetzung mit dem Tod verlangt neben dem üblichen Riesenorchester einen Solo-Schlagzeuger – vor dem Orchester platziert und ganz vortrefflich: Dirk Rothbrust. Hauptprotagonist ist allerdings der Bariton, mit einer Partie, die – wie eigentlich das gesamte Stück – eine bewusste Zumutung darstellt. Über weite Strecken in höchster Lage der Kopfstimme, später in unglaublich schnellen Wechseln zwischen extrem tiefer – nur da hat man eine Chance, Textfragmente zu verstehen – und wiederum exponierter Falsettlage, muss sich der Solist sichtbar nicht nur gesangstechnisch, sondern ebenso emotional total verausgaben. Georg Nigl gelingt das einmal mehr überragend. Ob singend, schreiend oder deklamierend: Nigls Gestaltung geht an die Nieren, und er ist wohl der erste Sänger, der hier nicht wie ein unfreiwilliger Kastrat klingt, sondern von Beginn an dunkelste Ernsthaftigkeit zu transportieren vermag. Die leichte, leider suboptimale, da durch die benutzten Monitore zu sehr in die Breite gezogene Verstärkung, ist eher ein notwendiges Übel. Vor solch einem Künstler, der ja mit gleicher Energie einen Eisenstein (Fledermaus) gibt, kann man sich nur verneigen.

Das BRSO, von jeher mit einem verblüffend guten Zugang zur kompakten Musik Xenakis‘, legt diesmal wieder eine echte Glanzleistung hin. Man spürt förmlich die Begeisterung für diese alles andere als leichte Kost. Und Roth leitet das gesamte Konzert – auch er dirigiert ohne Taktstock – handwerklich präzise, hat zudem die unglaubliche Vielfalt verschiedenster Klänge mit klarer Vorstellung verinnerlicht und sie in den Proben seinen Musikern offensichtlich kongenial sehr nahegebracht. Trotz aller Herausforderungen wirkt er auf dem Podium völlig entspannt. In allen vier Werken zeigt das BRSO sich in Bestform, ist wirklich zu 100% souverän bei der Sache. Der Saal belohnt Solisten, Dirigent und Orchester schließlich mit Bravos und ungewohnt langanhaltendem Applaus. Wie gesagt: ein ganz besonderer Abend.

[Martin Blaumeiser, 13. April 2024]

Henzes Skandal-Oratorium – aktueller denn je

SWR Classic SWR19082CD; EAN: 7 4731390828 8

Fast 49 Jahre nach dem wohl größten Konzertskandal Nachkriegsdeutschlands hat das neu zusammengelegte SWR Symphonieorchester unter Peter Eötvös 2017 die erst zweite CD-Einspielung von Hans Werner Henzes Oratorium „Das Floß der Medusa“ in der Hamburger Elbphilharmonie aufgenommen. Die Solisten waren Camilla Nylund, Peter Schöne und Peter Stein – nicht nur akustisch ein echter Glücksfall, den man nun auch zuhause anhören kann.

Der angesetzten Hamburger Uraufführung von Hans Werner Henzes (1926-2012) „Oratorio vulgare e militare in due parti“ Das Floß der Medusa durch den Komponisten war am 9.12.1968 durch einen massiven Polizeieinsatz ein jähes Ende bereitet worden; der Skandal erzeugte einen derartigen Presserummel, dass man darüber wohl ganz vergessen hat, sich ästhetisch weiter mit Henzes vielleicht erstem, wirklich großformatigen „politischen“ Werk auseinanderzusetzen. Schon im Vorfeld hatte seinerzeit Der Spiegel polemisiert, Henze sei nur „der alte Ästhet, der gepflegte Epigone, der geschmäcklerische Eklektizist“. Geblieben ist ein Mitschnitt der Generalprobe durch den NDR (auf Deutsche Grammophon) – die eigentliche Uraufführung fand 1971 im Wiener Musikverein statt; danach war es lange still um das Stück.

Nachdem Henze 1990 den unmittelbaren Schluss revidiert hatte – der Schlagzeug-Rhythmus des „Ho-Ho-Ho-Tschi-Minh“-Protestrufs wird melodisch umwölkt – gab es auch nur spärlich Aufführungen. Dass das aufwändige Stück gerade in den letzten Jahren – zufällig oder bereits geplant? – nun öfters zu hören ist, mag in Koinzidenz zur Flüchtlingskrise im Mittelmeer mit zehntausenden Opfern nicht wirklich verwundern. In jedem Fall erweist sich Henzes Mahnung als aktueller denn je. Die historische Schiffskatastrophe von 1816 – ihr folgte noch ein Justizskandal – war drei Jahre danach von Théodore Géricault in seinem berühmten Gemälde La Radeau de la Méduse festgehalten worden, das Henze als emotionale Basis verwendet. Das Oratorien-Libretto von Ernst Schnabel kennt neben dem großen Chor einen Sprecher (Charon), den Seemann Jean-Charles (Bariton) und die allegorische Figur la Mort (Sopran); die räumliche Aufteilung des Chores sieht vor, dass die Sänger*innen nach und nach von der Seite des Lebens auf die Seite des Todes wechseln. Das klingt in der alten Aufnahme – insbesondere die Sopranistin betreffend – wie künstlich am Mischpult hergestellt; in der Neuaufnahme hört man davon wenig, dafür ist die räumliche Abbildung insgesamt überzeugender.

Alle Vokalisten der Neuproduktion erweisen sich als vortrefflich: Camilla Nylunds Sopran klingt durchaus gefährlich, das nervig Schrille von Edda Moser fehlt ihr jedoch glücklicherweise. Peter Schöne erreicht zwar nicht ganz die eindringliche Wärme von Dietrich Fischer-Dieskau, zeigt aber dennoch berührende Ausdrucksstärke – und singt weniger falsche Noten. Die eigentliche Überraschung ist Regisseur Peter Stein: rhythmisch sicher und klanglich Charles Regniers Charon nicht unähnlich, ist sein Vortrag immer voller Anteilnahme und verzichtet völlig auf das leicht Spöttische, Regniers Markenzeichen, in Henzes Oratorium freilich eher deplatziert. Die Chöre intonieren sicherer, wie eigentlich alles an der neuen Aufnahme werden sie zudem akustisch deutlich besser eingefangen – und die Freiburger Domsingknaben sind dem Knabenchor von 1968 haushoch überlegen.

Peter Eötvös hat erst 2016 selbst ein Orchesterstück komponiert, das die Flüchtlingsthematik reflektiert: Alle vittime senza nome. Unter seiner souveränen Leitung klingt das Riesen-Orchester nun ebenfalls durchsichtiger, einzelne Klangfarben kommen besser zur Geltung; Eötvös versteht vollkommen die Henze-typischen musikalischen Zeichen. Der Dramaturgie als Ganzes entlockt er so manchen Gänsehaut-Moment. So fügt sich in der SWR-Aufnahme alles geradezu perfekt zusammen und präsentiert dem Zuhörer Henzes komplexes, aber aufrüttelndes Oratorium – jenseits aller Skandale und Eklektizismus-Diskussionen – als das, was es ganz sicher ist: ein musikalisches Meisterwerk.

[Martin Blaumeiser, März 2020]

Fassliche Bildhaftigkeit und entwaffnende Ironie

© Astrid Ackermann

Als Dirigent – auch eigener Werke – quasi Dauergast bei der Münchner musica viva, widmete sich das Konzert am 3. Mai 2019 ausschließlich drei Kompositionen des großen ungarischen Musikers Peter Eötvös (*1944), alle neueren Datums: „The Gliding oft the Eagle in the Skies“, „Alle vittime senza nome“, und das vor drei Jahren bei den Salzburger Festspielen aus der Taufe gehobene „Halleluja – Oratorium balbulum“ nach einem genial-ironischen Text des 2016 verstorbenen Dichters Péter Esterházy.

Wenn man nach dem ersten Konzert sucht, das Peter Eötvös für die Münchner musica viva dirigiert hat, muss man lange zurückgehen: Am 7. April 1989 leitete der begnadete Interpret nicht nur Neuer Musik das BR Symphonieorchester mit Werken von Birtwistle, B. A. Zimmermann und Lachenmann. Seitdem ist Eötvös mit schöner Regelmäßigkeit in München zu sehen und zu hören. Viele unvergessliche Momente sind darunter: Man denke nur an Stockhausen oder die Uraufführung von Lachenmanns My Melodies erst vor einem knappen Jahr. Es spricht für die Konzertreihe, dass Peter Eötvös als – damals noch nicht international arrivierter – Komponist sogar schon 1980 mit einem Stück für Schlagzeug und Orgel auf dem Programm stand. Nun, kurz nach seinem 75. Geburtstag, wurde es mal Zeit, seiner Musik einen kompletten Abend zu widmen.

Unter der Leitung des Komponisten spielt das BR-Symphonieorchester zunächst The Gliding oft the Eagle in the Skies, ein Auftragswerk des Baskischen Nationalorchesters (UA: 2012), das Eötvös später nochmals überarbeitet hat. Zu dem titelgebenden Bild wurde der Komponist durch baskische Folklore inspiriert, die auch rein musikalisch in das gut zehnminütige Stück eingeht, ohne jedoch wörtlich zitiert oder imitiert zu werden – natürlich fallen sofort die vorne platzierten Cajónes oder die absichtsvoll gegeneinander verstimmten Harfen auf. Die Bildhaftigkeit von Eötvös aktueller Musiksprache zielt aber weniger auf direkte Mimesis als darauf, unmittelbar verständlich Gefühlszustände zu vermitteln – hier das von Freiheit.

Wesentlich umfangreicher und von tiefem Ernst getragen dann das 2016 entstandene, dreisätzige Alle vittime senza nome, für gleich vier der bedeutendsten italienischen Orchester. Darin wird die Flüchtlingstragödie im Mittelmeer thematisiert, allerdings nicht als „Requiem“, sondern vielleicht eher durch „Porträts“ individueller Gesichter der Opfer, ihrer Erwartungen, Hoffnungen und Ängste. Aber auch die Schönheit und Gewalt des Meeres bildet als Folie stets den Hintergrund – freilich weniger plakativ, als man es von Maxwell Davies oder Dallapiccolas Oper Ulisse her kennt. Auf das anscheinend gerade von deutschen Ohren hierbei womöglich erwartete Pathos verzichtet Eötvös dagegen völlig. Er hat es auch nicht nötig, Neues um jeden Preis zu bringen; seine Orchestersprache ist hoch genug entwickelt, um jeglichen Inhalt zu transportieren. Die dirigiertechnische Präzision und Intensität, mit der Eötvös das Orchester zu höchster klanglicher Differenzierung bringt, bei der aber jedem Detail auch eine Sinnhaftigkeit zukommt, ist wie immer absolut beeindruckend und das Publikum bereits vor der Pause wirklich begeistert.

Im zweiten Teil dann das großformatige Halleluja – Oratorium balbulum, ein aberwitziges Stück, in dem ein stotternder Prophet – Vorbild: Notker Balbulus von St. Gallen – und ein etwas besoffener Engel (völlig präsent und stimmlich ausgezeichnet: Eric Stokloßa und Iris Vermillion) ein Zeitbild von heute erschaffen, in dem eben keine Vorhersagen mehr möglich sind. Bereits beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs oder 9/11, die als Stationen herangezogen werden, war das so. Daran kann auch der ständig musikalische Halleluja-Zitate – von Monteverdi bis Gospel und als Höhepunkt, sich überlagernd, Mozart mit Bruckner – singende Chor nichts ändern. Ein Narrator (großartig desillusioniert: Matthias Brandt) führt – etwas zuviel als Selbsterklärbär – durch das Geschehen. Obwohl es tatsächlich um existentielle Fragen geht, ist der Text von Péter Esterházy von spöttischster Ironie, manchmal bewusst an der Grenze zum Flachwitz („Die Fleischbrühe der Kultur ist ganz dünn…“) – wohl typisch ungarischer Humor eines großen Europäers. Die Musik ist stilistisch entsprechend vielseitig, voller musikhistorischer Anspielungen, sprüht nur so von Ideen, aber trifft wiederum immer klar auf den Punkt. Das ist keine verschrobene Avantgarde, sondern richtet sich durchaus und unmissverständlich an ein „großes“ Publikum. Der Herkulessaal, die Ausführenden eingeschlossen, hat jedenfalls seinen Spaß, auch wenn davon manchmal etwas im Halse stecken bleibt. Peter Eötvös liefert einen echten Grund zum Feiern und der Schlussapplaus ist dann demonstrativ euphorisch.

[Martin Blaumeiser, 5.5.2019]

Ein Triumph für Helmut Lachenmann

Musica Viva: Herkulessaal, München; Helmut Lachenmann; Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Peter Eötvös (Leitung), Pierre-Laurent Aimard (Klavier)

Helmut Lachenmann und Peter Eötvös (Foto von: Astrid Ackermann)

Auch Anfang Juni 2018 bietet die musica viva wieder drei Konzerte. Heute (9.6.) noch das Stifterkonzert mit dem Chamber Orchestra of Europe, gestern und vorgestern zweimal – was ziemlich ungewöhnlich ist – ein ausschließlich Werken Helmut Lachenmanns (* 1935) gewidmetes Programm im Herkulessaal, darunter die Uraufführung der 36-minütigen Musik für acht Hörner und Orchester „My Melodies“. Letztere wurde zu einem Triumph für den Komponisten. Ich besuchte die zweite Aufführung am Freitag, dem 8.6.2018.

Helmut Lachenmann galt ja über Jahrzehnte als ein Komponist, der völlig non-konformistisch für eine Ästhetik der Verweigerung stand. Nicht nur erwartete er von seinem Publikum ein offenes Ohr für gänzlich neuartige Klänge – an sich noch kein Alleinstellungsmerkmal. Vielmehr liefen auch derart viele sichtbare Aktionen der ausführenden Musiker hörbar gewissermaßen „ins Leere“, was schon ungemein provozieren konnte, aber den Blick des Hörers auf sich selbst als oft nur Konsumierenden frei legte.

Das Orchesterkonzert im Herkulessaal beginnt mit einem Werk für Klavier solo, der halbstündigen Serynade von 1997/98, Lachenmanns Frau Yukiko Sugawara gewidmet. Pierre-Laurent Aimard spielt auf seinem eigens mitgebrachten Flügel mit bewundernswerter Genauigkeit und Hingabe dieses Kaleidoskop ausgefeiltester (Nach-)klänge. Denn nicht die zahlreichen, oft großflächigen Cluster spielen hier die Hauptrolle, vielmehr die – mit meist vorher stumm niedergedrückten Tonkombinationen initiierten – durch präziseste Pedalisierung erzwungenen Resonanzen, die dann, quasi im Raum schwebend, übrig bleiben. Man hatte sich mit Einverständnis des Komponisten für eine für mein Empfinden etwas zu offensichtliche Verstärkung entschieden, um dies alles in dem großen Saal hörbar zu machen. Faszinierend, welch unerwartete Welten sich hier trotz weitestgehend ‚konventioneller‘ Bedienung des Instruments (ja, es gibt ein paar einzelne, präparierte Töne) sich hier auftun. Das Stück zerfällt allerdings im Verlauf zunehmend in Einzelereignisse.

Danach kommt ein recht kurzes, dafür umso kurzweiligeres und bissiges Stück, Marche fatale in der Fassung für großes Orchester. Der erste Höreindruck, es handele sich um eine allzu effektvolle, geradezu vordergründige Marschadaption mit einigen bekannten Zitaten, täuscht. Diese Collage stellt vielmehr den Marsch an sich als eine irgendwie faschistoide „Handlung“ dar. Mit Verfremdungen innerhalb der erwartbaren periodischen Struktur, einer lustvoll überzeichneten Instrumentation (Celesta!) mit Betonung bestimmter Formanten und einer Augmentation ins Riesenhafte, die im Halse stecken bleibt, wird der Marsch als selbstbetrügerische Huldigung an jedwedes Herrschaftssystem derart lächerlich gemacht, dass sich der Rezipient ernsthaft die Frage stellen muss, was das in einem Konzertrahmen überhaupt zu suchen hat. Dass dies ohne erhobenen Zeigefinger mit rein musikalischen Mitteln geschieht, ist wieder typisch für Lachenmanns Kunst der Nicht-Musik.

Nach der Pause dann das lang erwartete Stück für acht Solohörner und Orchester. Tatsächlich ist My Melodies ein Konzertstück, indem die acht wunderbaren Solisten des BR-Symphonieorchesters inklusive einer Stipendiatin – kurzfristig bestens von Hildegard Schön einstudiert – zwar zwischendurch immer mal für etliche Takte pausieren, aber als Ensemble wie ein Apparat (Lachenmann) sprechen und alles auszukosten scheinen, was überhaupt auf dem Horn möglich ist. Auch das übrige, großbesetzte Orchester (allein 8 Schlagzeuger) nutzt ein gigantisches Spektrum klanglicher Möglichkeiten. Und das einzige Moment an Verweigerungshaltung besteht hier wohl in Lachenmanns Anspruch, sich nicht auf seinem reichen Erfahrungsschatz auszuruhen, sondern offenkundig ständig Neues, Ungewohntes zu erfinden und das Publikum unentwegt wach zu halten. Hier gibt es Witziges, Skurriles, einen „großen Atem“ (ganz wörtlich zu nehmen), Tänzerisches, aber auch tiefenpsychologisch großartige Ausdeutungen und blendend orchestral umgesetzte Gesten – so etwa der für meine Ohren dann trotz aller Opulenz im Hornensemble „verängstigte“ Schluss. Höchstes Lob natürlich auch an den wie immer souverän und entspannt agierenden Dirigenten Peter Eötvös, unter dessen Händen sich die Musiker so sicher wie in Abrahams Schoß fühlen dürfen. Die 36 Minuten vergehen wie im Fluge, Publikum wie Darbietende geben sich gerne Lachenmanns versprochenem Wechselbad hin, Langeweile existiert für keine Sekunde. My Melodies ist schlicht großartig und wird ja auch von anderen bedeutenden Klangkörpern gespielt werden. Man sollte dem Komponisten hier nicht vorschnell eine gewisse Altersmilde unterstellen: Da ist noch so viel Biss drin! Rührend, wie Lachenmann am Schluss am liebsten das gesamte Orchester in den Arm nehmen möchte, echte Begeisterung beim Publikum.

  [Martin Blaumeiser, Juni 2018]

     Helmut Lachenmann bei jpc

Die Macht der Rhythmik

NEOS 10819; EAN: 4 260063 108198

Der japanische Perkussionist Isao Nakamura spielt Werke für Schlagzeug solo. Es erklingen zwei der Acht Stücke für vier Pauken von Elliott Carter, Saëta und Improvisation, „dasselbe ist nicht dasselbe“ von Nicolaus A. Huber, Mauricio Kagels Solo aus Exotica, Ta-Ryong IV (Die Kehrseite der Postmoderne) von Younghi Pagh-Paan, Thunder aus Triangel von Peter Eötvös, Rebonds von Iannis Xenakis sowie Sen VI von Toshio Hosokawa.

Erst im 20. Jahrhundert wurde das Schlagwerk als Soloinstrumentarium entdeckt. Zuvor gab es Werke für gestimmte Pauken und Schlagstabspiele wie Xylophon oder Metallophon, die sich früh großer Beliebtheit erfreuten, doch die Rhythmik verlor erstaunlich spät die Bindung an die melodischen Komponenten. Und das, obgleich die Symphoniker schon im frühen 19. Jahrhundert dem Schlagwerk immer größere Bedeutung zumaßen, man denke alleine an die Pauke in Beethovens Violinkonzert oder die erweiterte Schlagzeugbesetzung in Berlioz‘ Symphony fantastique.

Isao Nakamura verbannt die Melodie auf vorliegender CD in den Hintergrund, abgesehen von Pauken verwendet er kein Instrument mit definierbarer Tonhöhe. Die Pauke kommt bei Carter zum Einsatz, dessen komplex durchkonstruierte Kompositionsstudien „Acht Stücke für vier Pauken“ ihren Reiz aus der Beschränkung des Materials ziehen. Durch diese entstehen phantastische Effekte, die Carter nicht überreizt und darüber hinaus sogar dezidiert vorschreibt, maximal vier der acht Stücke in einem Programm zu spielen. Eötvös reduziert noch weiter, in Thunder kommt lediglich eine einzige Basspauke zum Einsatz. Das „Donnern“ entsteht durch Verstimmen des Instruments mit Hilfe des Fußpedals, wodurch der Klang in kürzester Zeit mehrere Ganztöne fallen oder steigen kann. Die Beschränkung auf nur ein Instrument findet sich auch in Hubers „dasselbe ist nicht dasselbe“ für Snare Drum, was mit einer Viertelstunde Laufzeit allerdings eine spürbare Überlänge aufweist, die wenigen Effekte der Snare Drum nutzen sich zu schnell ab, um die Spannung so lange Zeit aufrecht zu erhalten. Ähnlich lang, doch dichter und kurzweiliger gestalten sich die Rebonds von Xenakis, der mit genauen Proportionen und dem Wechsel zwischen verschiedenartigen Schlaginstrumenten einen hypnotischen Bogen spannt. Hosokawa schreibt zahlreiche gestische Anweisungen vor, die Stille ist omnipräsent. Vieles dieser Musik ist bedauernswerterweise ohne optische Dokumentation nicht darstellbar, und doch bezaubern die spärlichen Klangereignisse eben dadurch, dass sie sich rar machen. Die meisten unterschiedlichen Klänge erleben wir in Pagh-Paans Ta-Ryong IV – vielleicht sogar zu viele, um die Form noch schlüssig ausfallen zu lassen. Kagel besticht durch gezielte Skurrilitäten, der Text für einen obligaten Gesangspart darf frei erfunden werden: Lacher sind vorprogrammiert. Kagel nahm sich selbst nicht allzu ernst, das verleiht ihm Frische und Unverbrauchtheit.

Die Zuneigung zu allen Stücken spiegelt das Spiel von Isao Nakamura wider, voller Inbrunst stürzt er sich auf jedes einzelne Stück dieses Programms. Er versteht, den Klang minutiös zu differenzieren und so lange an ihm zu feilen, bis exakt das Resultat erscheint, was er sich herbeigewünscht hat. Nakamura kann sekundenschnell zwischen Ernst und Witz changieren, seine Begeisterung für beide Welten ist offenkundig. Die Komponisten könnten sich keinen geeigneteren und passionierteren Interpreten für ihre Stücke wünschen, nicht zufällig sind drei der hier aufgenommenen Stücke Nakamura gewidmet.

[Oliver Fraenzke, März 2018]