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Smyphonie und Solokonzert in einem

Alpha 395, EAN: 3 760014 193958

Wir hören eine Liveaufnahme des Zweiten Klavierkonzerts B-Dur op. 83 von Johannes Brahms, die bereits am 20. Mai 2009 entstand und nun veröffentlicht wurde. Es spielt das NHK Symphony Orchestra aus Tokyo unter Tadaaki Otaka, Solist ist Nelson Goerner.

Der Pianist Nelson Goerner ist einer der Stars von Alpha Classics und liefert in kurzen Abständen beachtliche Aufnahmen. Für Alpha spielte er bereits Werke von Beethoven, Chopin (eine Rezension der Nocturnes auf The New Listener) und Debussy für Klavier solo ein, mit Tedi Papavrami zudem Sonaten von Fauré und Franck. Nun zieht es Goerner zu Brahms und wieder zu symphonischer Musik: Gemeinsam mit dem NHK Symphony Orchestra Tokyo und Tadaaki Otaka spielt er das Zweite Klavierkonzert von Johannes Brahms. Dieser knapp 50-minütige Koloss steht für sich alleine in der Musikgeschichte, indem er die klassischen Ideale der Ausgewogenheit und Folgerichtigkeit der Entwicklung aufrechterhält und zugleich in jeder Note modern erscheint. Brahms‘ Klavierkonzert hebt sich von den Virtuosenwerken der Zeit ab, das Klavier wird nicht zur Schau gestellt, sondern gliedert sich in einen symphonischen Kontext ein, der bezwingt. Leichter zu spielen ist es für den Pianisten nicht, ganz im Gegengeit; nur entspringen die Anforderungen der Musik selbst und nicht der Idee der solistischen Präsentation. Es finden sich erstaunlich viele Techniken wieder, die aus dem Schaffen Chopins hervorgehen und in dessen Etüden und Balladen kultiviert werden.

Zu Beginn des Kopfsatzes werfen Goerner und Otaka formale Fragen auf, untergliedern die einzelnen Abschnitte und setzen immer wieder neu an. Wo ist da die Entwicklung und Kontinuität? Antworten erhalten wir nach und nach, Stück für Stück bauen die Musiker etwas auf, das Sinn ergibt. Jede neue Variation und Abwandlung fügt eine neue Facette hinzu und spätestens in der Reprise klart sich das Bild auf dieses architektonische Meisterwerk auf. Das Konzept funktioniert und erstaunt, denn nur wer aktiv mithört und versucht, zu verbinden, wird am Ende belohnt.

Wie symphonisch Brahms sein Klavierkonzert ansah, zeigt der zweite Satz: Vor dem langsamen Satz schiebt er ein Scherzo ein, welches üblicherweise nichts im Solokonzert, dafür sehr wohl etwas in der Symphonie zu suchen hat. Schwungvoll klingt es in der vorliegenden Aufnahme, energisch und kräftig. Der Wechsel vom d-Moll ins D-Dur sticht hervor, Otaka gibt ihm Gewicht. Noch mehr natürlich markieren die Musiker die Modulation nach Fis-Dur im langsamen Satz, wodurch überirdische Sphären erreicht werden und der Hörer durch diese plötzliche Magie ins Stutzen gerät. Allgemein nehmen die Musiker den dritten Satz zart und innig, behalten zeitgleich aber gewisse Bodenständigkeit. Leichtigkeit verströmt das Finale, wenngleich es im Hintergrund nicht weniger ernst oder geerdet ist. Der Rhythmus wird beschwingt umgesetzt, beinahe tänzerisch. Etwas mehr hätten die Kontraste hervorgehoben werden können, besonders bezüglich der Dynamik, wo gerade der Pianobereich noch leiser realisierbar wäre. Überzeugend ist der Anschlag Goeners, er markiert und setzt feine Akzente, erzeugt viele Schattierungen und Klangfarben. Goerner wie Otaka wissen um die weitläufige Form des Klavierkonzerts und halten stets den Kontext im Auge.

[Oliver Fraenzke, Mai 2018]

Chopin bei Nacht

Alpha Classics, ALPHA 359; EAN: 3 760014 193590

Auf zwei CDs spielte Nelson Goerner alle 21 Nocturnes von Frédéric Chopin ein (Opp. 9, 15, 27, 32, 37, 48, 55, 62, Op. 72 Nr. 1 sowie cis-Moll und c-Moll Op. Post.). Die Doppel-CD erschien bei Alpha Classics.

Der Begriff der Nocturne evoziert sogleich ein ganz bestimmtes Bild von einer ruhigen, verträumten Landschaft, von Mondenschein und vom Blick auf die funkelnden Sterne; unangetastete Ruhe und Zartheit, frei von all den weltlichen Problemen, und dem Schlafe nahe. Wie viel mehr sich doch tatsächlich hinter diesem Begriff verbirgt, beweist Chopin in seiner knapp zweistündigen Sammlung von 21 Nocturnes: Innerliches Aufbegehren, Trübung, Haltlosigkeit, Melancholie und Suche nach etwas Übergeordneten. Jede Nocturne steht für sich, eröffnet eine eigene Welt und definiert die Gattung auf eigene Weise.

Nelson Goerner stellte es sich zur Aufgabe, den gesamten Zyklus einzuspielen mit all den Unterschieden dieser Werke. Das charakteristisch Träumerische findet hier ebenso seinen Platz wie das Aufwühlende, die Ruhe Durchbrechende. Goerner verliert sich nicht in Sentimentalität, sondern findet die Konturen, Ecken und Kanten. Die ausgiebigen Ornamente, die bei Chopin eine Kunst für sich darstellen und sich gelegentlich zu umfangreichen Läufen oder diffizilen Figurationen ausweiten, behalten bei Goerner – was selten zu hören ist – auch tatsächlich den Ausschmückungscharakter, wobei der übergeordnete Gesamtkontext nicht unterbrochen oder verfälscht wird. Der einzelne Ton erhält Bedeutung, der Anschlag hat nicht das oft zu vernehmende Immaterielle, sondern eine gewisse Prägnanz. Trotzdem achtet Goerner größtenteils auf kantablen Fluss der melodischen Linie (Ausnahme ist die Nocturne Op. 15, Nr. 3, bei welcher der Fokus der Linie nicht über die langen Noten hinüberreicht) und auf das entspannende Streben hin zu einer Zieltonart. Zu wünschen wäre vielleicht teils noch eine genauere Betrachtung des harmonischen Geflechts, das so facettenreich und ergiebig ist in diesen kleinen Juwelen: die Wertigkeit der linken Hand sollte trotz der eigentlichen Begleitfunktion zu der singenden Oberstimme nicht vergessen werden, denn erst die dort enthaltenen, teils auf mehrere Oktaven verstreuten Akkorde bringen die Musik voran und verleihen den Werken die fest verankerte Struktur. Goerner erlaubt sich einige Freiheiten, gerade auch im Tempo, ist dabei aber stets darauf bedacht, dass das klangliche Resultat als Ganzes „funktioniert“. Nie lässt er sich zu übermäßigen oder überflüssigen Rubati verleiten, er gibt die Kontrolle über das Geschehen nicht aus der Hand; und er greift aktiv ein, statt sich nur treiben zu lassen.

[Oliver Fraenzke, November 2017]