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Chopin bei Nacht

Alpha Classics, ALPHA 359; EAN: 3 760014 193590

Auf zwei CDs spielte Nelson Goerner alle 21 Nocturnes von Frédéric Chopin ein (Opp. 9, 15, 27, 32, 37, 48, 55, 62, Op. 72 Nr. 1 sowie cis-Moll und c-Moll Op. Post.). Die Doppel-CD erschien bei Alpha Classics.

Der Begriff der Nocturne evoziert sogleich ein ganz bestimmtes Bild von einer ruhigen, verträumten Landschaft, von Mondenschein und vom Blick auf die funkelnden Sterne; unangetastete Ruhe und Zartheit, frei von all den weltlichen Problemen, und dem Schlafe nahe. Wie viel mehr sich doch tatsächlich hinter diesem Begriff verbirgt, beweist Chopin in seiner knapp zweistündigen Sammlung von 21 Nocturnes: Innerliches Aufbegehren, Trübung, Haltlosigkeit, Melancholie und Suche nach etwas Übergeordneten. Jede Nocturne steht für sich, eröffnet eine eigene Welt und definiert die Gattung auf eigene Weise.

Nelson Goerner stellte es sich zur Aufgabe, den gesamten Zyklus einzuspielen mit all den Unterschieden dieser Werke. Das charakteristisch Träumerische findet hier ebenso seinen Platz wie das Aufwühlende, die Ruhe Durchbrechende. Goerner verliert sich nicht in Sentimentalität, sondern findet die Konturen, Ecken und Kanten. Die ausgiebigen Ornamente, die bei Chopin eine Kunst für sich darstellen und sich gelegentlich zu umfangreichen Läufen oder diffizilen Figurationen ausweiten, behalten bei Goerner – was selten zu hören ist – auch tatsächlich den Ausschmückungscharakter, wobei der übergeordnete Gesamtkontext nicht unterbrochen oder verfälscht wird. Der einzelne Ton erhält Bedeutung, der Anschlag hat nicht das oft zu vernehmende Immaterielle, sondern eine gewisse Prägnanz. Trotzdem achtet Goerner größtenteils auf kantablen Fluss der melodischen Linie (Ausnahme ist die Nocturne Op. 15, Nr. 3, bei welcher der Fokus der Linie nicht über die langen Noten hinüberreicht) und auf das entspannende Streben hin zu einer Zieltonart. Zu wünschen wäre vielleicht teils noch eine genauere Betrachtung des harmonischen Geflechts, das so facettenreich und ergiebig ist in diesen kleinen Juwelen: die Wertigkeit der linken Hand sollte trotz der eigentlichen Begleitfunktion zu der singenden Oberstimme nicht vergessen werden, denn erst die dort enthaltenen, teils auf mehrere Oktaven verstreuten Akkorde bringen die Musik voran und verleihen den Werken die fest verankerte Struktur. Goerner erlaubt sich einige Freiheiten, gerade auch im Tempo, ist dabei aber stets darauf bedacht, dass das klangliche Resultat als Ganzes „funktioniert“. Nie lässt er sich zu übermäßigen oder überflüssigen Rubati verleiten, er gibt die Kontrolle über das Geschehen nicht aus der Hand; und er greift aktiv ein, statt sich nur treiben zu lassen.

[Oliver Fraenzke, November 2017]

Mehr Martynow, mehr Blüthner … !

Ludwig van Beethoven/Franz Liszt: Sinfonie Nr. 9 Klaviertranskription
Yury Martynow (historischer Blüther-Flügel ca. 1867)
Beatriz Oleaga, Alt
CD 70‘52 Min., 9/2015
©& ALPHA Classics/Outhere Music 2015
ALPHA  227
EAN  3  760014  192272

Kürzlich habe ich auf einem Flohmarkt die (in mehrfacher Hinsicht) etwas angestaubte, in Thomas Manns Geleitwort zur deutschen Übersetzung enthusiastisch als Künstler-Roman begrüßte Biographie  „Joseph Haydn, His Art, Times, and Glory“ des (damals dann schon amerikanischen) Journalisten Heinrich Eduard Jacob aus dem Jahr 1950 für 20 Cent erstanden. Manchmal ist die Art, wie damals über Musik geschrieben wurde, heute allenfalls noch als Skurrilität betrachtet zu ertragen. Doch werden wir nicht überheblich! Was halten Sie von der folgenden Passage aus diesem Buch?

„War man mit einem Klavier allein und hatte keine Erinnerung mehr an die Möglichkeiten anderer Instrumente: welche Klangwunder standen da auf! Eine homophone Figur auf dem Klavier wirkte unerreicht in ihrer Einmaligkeit und Betontheit, ihrer überredenden Gewalt. Und die Harmonik: wo gab es noch solche harmonischen Wirkungen bei einem anderen Instrument? Einer Terz auf dem Klavier, einer Quarte kam keine sonst gleich. Nach einer Viertelstunde Klavierspiel hat sich die Alleinherrschaft des Klaviers so völlig etabliert, dass sein Klang absolut geworden ist und jeder andere daneben abfällt. Die Flöte wirkt hart, nasal und kalt, die Geige quäkt und scheint sentimental. Aber wer würde überhaupt noch Stimmen hören wollen? Das Klavier schafft ja die vollkommene Illusion des Orchesters. Dieses Instrument, das zu keinem andern eine Verwandtschaftsbeziehung hat, ist unbegreiflicherweise fähig, alle anderen zu ersetzen. Jawohl, man macht ‚Klavierauszüge‘, und die meisten sind gelungen. Zeichnungen nach Gemälden sind schlecht. Ein Klavierauszug ist nichts anderes als eine Zeichnung nach einem Orchestergemälde – und trotzdem ist er meistens gut, er drängt zusammen, er macht klar. Er fängt die Gedanken der Meister ein, die sonst wie Wolken, nicht immer fassbar, durch den Orchesterhimmel schwimmen, und bannt sie fest, macht sie unvergesslich.“

Ein Klavierauszug meistens gut? Vollkommene Illusion des Orchesters? Zu Liszts Zeiten waren ja Klavierbearbeitungen das, was jetzt der Plattenschrank ist – die Grundlage für Konzert im Wohnzimmer. Wozu dann heute solch ein altmodisches Surrogat? Ein originelles Geschenk für Leute, „die schon Alles haben“? Ein Ersatz für eine Aufführung von Beethovens Neunter ist Yury Martynovs CD wahrlich nicht – kann sie nicht und will sie nicht sein. Sie ist etwas ganz Anderes. Dazu unbedingt lesenswert ist, was Arrangeur Franz Liszt selbst dazu sagt, zu finden als weitläufiges Zitat im sehr schönen und informativen Booklet der vorliegenden Produktion. Und was erst Martynov daraus macht! Da möchte man denen glauben, die mit unwiderlegbaren Gründen sagen, dass Beethovens ureigenes Instrument das Klavier war, so genuin klaviermäßig klingt das Alles unter Martynovs Händen: ein Molto Vivace in kraftvollem Galopp mit einem rhythmischen Drive, der der Satzbezeichnung alle Ehre macht, ein hinreißend melancholisches Adagio molto cantabile, das sich anfühlt, als wäre es nie einem anderen Instrument zugedacht gewesen …

Aber was machen Liszt und Martynov aus dem berühmten, für eine Klavierbearbeitung mehr als problematischen Finale dieser Chor-Sinfonie, die damals nach Liszts eigenen Worten die meisten Musiker als „ein gar erschreckliches Schrecknis“ betrachteten? Dieser Klaviersatz, in dieser Einspielung, ist etwas völlig Neues geworden, etwas völlig Anderes als Beethovens Original, und, um es gleich – und ganz persönlich – zu gestehen: Ich höre den Satz in dieser Form sogar lieber als im Original. Jemandem, der mit einer – sit venia verbo – manchmal etwas schwülstigen Ästhetik des angehenden 19. Jahrhunderts (und ich gebe es zu: auch mit Faust Teil 2 habe ich meine Probleme) wenig anzufangen weiß, ist in der Tat dieses Instrumentalwerk „ersatzweise“ leichter zugänglich. Das hört sich dann eher an wie eine „Improvisation zur Europa-Hymne“.  Mal zögerlich suchend und verträumt, dann wieder schroff entschlossen werden wir hier – ganz „klavieristisch“ – von Martyrov durch eine wild zerklüftete Landschaft voll unerwarteter Schönheiten geführt. An manchen Stellen könnte man fast meinen, sich in einer Sturm-und-Drang-Fantasie Carl Philipp Emmanuel Bachs verirrt zu haben.

Somit hat nun auch Yury Martynov – nach Scherbakow, Biret, Katsaris und Leslie Howard – seinen Zyklus der Liszt-Bearbeitungen von Beethovens neun Sinfonien abgeschlossen. Ich besitze bereits die Aufnahmen von Scherbakow und Howard, möchte ihre Interpretationen aber hier nicht demonstrativ mit der Vorliegenden vergleichen. Ich liebe und schätze sie alle Drei. Den goldenen Apfel bekommt jedoch Martynov, vor allem auch wegen des wunderbar weichen und doch so farbig-obertonreichen Klangs des historischen Blüthner-Flügels, gespielt  in der für ihre Akustik weltberühmten Doopsgezinde Kerk von Haarlem (NL). Für mich sind (die leider so seltenen) Aufführungen auf Blüthner-Flügeln immer etwas ganz Besonderes, und ich kann uns allen nur wünschen: Mehr Martynow, mehr Blüthner … !

[Hans von Koch, März 2016]

– reupload aufgrund technischer Fehler-

Eine Referenz – Zum dritten Male

Claudio Monteverdi: Vespero della Beata Vergine
Sir John Eliot Gardiner, Leitung
The Monteverdi Choir
The English Baroque Soloists
Les Pages du Centre de Musique Baroque de Versailles (Ltg. Olivier Schneebeli)
DVD und Blue-ray 105 Min., 2014
© ALPHA Classics/Outhere Music 2015
ALPHA 705
EAN  3  760014  197055

Koch1

Wenn ein „Hochkaräter“ auf dem Gebiet der Alten Musik wie Sir John Eliot Gardiner ein solch bedeutendes Werk des Seicento wie Monteverdis Marienvesper zum dritten Mal einspielt, dann ist das so, wie wenn Nikolaus Harnoncourt zum dritten Mal Bachs Matthäus-Passion vorlegt oder Herbert von Karajan Beethovens Sinfonien-Zyklus zum vierten Mal (es gibt natürlich noch viele andere Beispiele). Dafür muss (sollte) es gewichtige Gründe geben, und die Erwartungen dürfen hoch sein zu Recht. Dazu darf man außerdem noch wissen, dass nach eigenem Zeugnis Monteverdi Gardiners „favorite composer“ ist, und dass mit Gardiners Aufführung der Marienvesper vor 50 Jahren am King’s College in Cambridge sozusagen „alles begann“. Damals, noch als Student der Arabistik und Mediävistik, begann Gardiner seine Karriere als Musikhistoriker und Praktiker für Alte Musik wie wir ihn heute kennen. Und aus dieser  seiner ersten Produktion heraus gründete er auch seinen deshalb so genannten Monteverdi Choir. Genaueres dazu, auch zum Komponisten, seiner Marienvesper und den einschlägigen aufführungspraktischen Fragen kann man dem überaus informativen und auch unterhaltsam zu lesenden Booklet-Text zu dieser neuesten Einspielung entnehmen, offenbar einer Niederschrift von Gardiners Einführungsvortrag 2014 anlässlich der Jubiläumsaufführung der Marienvesper, am gleichen Ort und auf den Tag genau nach fünfzig Jahren. Wer noch mehr aus erster Hand erfahren will, der sehe sich auf YouTube das 20-minütige Video „J.E. Gardiner talks about Monteverdi: Marien Vesper 1610“ an, hochgeladen 2013, aber offenbar zu seiner zweiten Einspielung von 1989 gehörend, dem Live-Mitschnitt eines Konzerts im Markus-Dom, seit 2003 auch als DVD optisch zugänglich (seine erste Einspielung, noch aus der Vinyl-Ära, stammt von 1974).

Vorliegende Aufnahme nun muss kurz nach besagter Jubiläumsaufführung entstanden sein, aber nicht in Cambridge, auch nicht in San Marco, sondern in der wunderbaren hochbarocken Schlosskapelle von Versailles, vielen bekannt als Aufführungsort großer Werke aus Renaissance und Barock durch Spezialisten wie Ton Koopman, Paul McCreesh, Hervé Niquet, William Christie oder Paul Van Nevel, um nur einige zu nennen. Alpha hat ins Digipack gleich zwei Scheiben gelegt: eine DVD und das Gleiche auch nochmal als Blue-ray Disc. Bezüglich der rein musikalischen Güte bleibt die Aufnahme von 1989 immer noch frisch und konkurrenzfähig, nicht aber hinsichtlich der akustischen und optischen Qualität. Hier hat Gardiner höchst überzeugend seine Auffassung darüber demonstriert, wie man Auge und Ohr mit barockem Auftrumpfen von Pracht und Prunk überwältigen kann. Offenbar wurde die Live-Aufführung der Vesper zur „Original-Tageszeit“ gemacht, sodass man gut zusehen kann, wie die letzten Sonnenstrahlen des Spätnachmittags allmählich abgelöst werden vom Chiaroscuro des blau werdenden Lichts von Draußen und dem Gold der beleuchteten Altäre. Langsam navigieren dazu die Kameras über Marmor, korinthische Säulen und die herrlichen Fresken in den Deckengewölben, nach Voltaire alles „ein erstaunlicher Firlefanz“. Der Topos vom „strahlenden D-Dur des Anfangsakkords“ ist hier kein leerer Gemeinplatz, und wenn die Echo-Solisten im „Audi Coelum“ von der gegenüberliegenden Empore zu hören sind, dann glauben wir, dass Monteverdi, der damals mit allen ihm zur Verfügung stehenden Kompositions- und Instrumentierungsmitteln „Eindruck schinden wollte“ (so Gardiner), sicher auch von Techniken wie Surround Sound ( DTS-HD  5.1) gerne Gebrauch gemacht hätte. Ein Vorteil der Blue-ray Disc ist hier, dass man „in Echtzeit“ zwischen 5.1 und 2.0 hin- und herschalten und so den Klang experimentierend vergleichen kann: Einmal hört man die Chöre nahe und unmittelbar, das andere Mal den Echo-Chor in entfernter diffuser Akustik, was dafür aber sehr „sphärisch“ aber eben auch „echt“ klingt, so, als säße man als Zuhörer im Kirchenschiff. Darum verstehe ich den Amazon-Rezensenten nicht wegen seines Punktabzugs ob vermeintlicher „akustischer Schwächen“ („man wähnt sich im Raum irgendwo zwischen Stehpult und den Celli …“). Lediglich den im Begleitheft besonders hervorgehobenen „Binaural Sound“ (eine mit modernen Simulationsprozessoren weitergeführte Technik der früheren Kunstkopf-Stereophonie) konnte ich mit meinen primitiven I-Phone-Headphones nicht so richtig würdigen.

Es werden aber nicht nur schöner Bombast und Firlefanz geboten: Gerade in seinen zwischen die liturgisch originären Teile der Vesper eingestreuten monodisch und solistisch besetzten Concerti zu Texten aus dem Hohen Lied, von Gardiner als „Monteverdis Joker“ bezeichnet, verstehen er und die Musiker, auch das Herz zu rühren mit subtilerer Schönheit. Leider weder im Booklet noch beim Abspann konnte ich herausfinden, wer von den Solisten nun welche Solopassagen gesungen hat – das war bei der Aufnahme von 1989 besser dokumentiert, ist aber nicht entscheidend für die Bewertung …

Besonders hervorheben möchte ich noch die drei hervorragenden Zinkenisten. Etwas Besseres in dieser Kunst habe ich bisher noch nicht gehört. Sie tragen ganz wesentlich zu diesem festlichen Sound bei.

Ich denke, man kann mit Fug und Recht sagen, dass Sir Eliot Gardiner  hier eine neue Referenz-Einspielung gelungen ist, zum Kauf auch denjenigen zu empfehlen, die bereits seine San-Marco-Aufnahme besitzen.

[Hans von Koch, März 2016]