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Eine Referenz – Zum dritten Male

Claudio Monteverdi: Vespero della Beata Vergine
Sir John Eliot Gardiner, Leitung
The Monteverdi Choir
The English Baroque Soloists
Les Pages du Centre de Musique Baroque de Versailles (Ltg. Olivier Schneebeli)
DVD und Blue-ray 105 Min., 2014
© ALPHA Classics/Outhere Music 2015
ALPHA 705
EAN  3  760014  197055

Koch1

Wenn ein „Hochkaräter“ auf dem Gebiet der Alten Musik wie Sir John Eliot Gardiner ein solch bedeutendes Werk des Seicento wie Monteverdis Marienvesper zum dritten Mal einspielt, dann ist das so, wie wenn Nikolaus Harnoncourt zum dritten Mal Bachs Matthäus-Passion vorlegt oder Herbert von Karajan Beethovens Sinfonien-Zyklus zum vierten Mal (es gibt natürlich noch viele andere Beispiele). Dafür muss (sollte) es gewichtige Gründe geben, und die Erwartungen dürfen hoch sein zu Recht. Dazu darf man außerdem noch wissen, dass nach eigenem Zeugnis Monteverdi Gardiners „favorite composer“ ist, und dass mit Gardiners Aufführung der Marienvesper vor 50 Jahren am King’s College in Cambridge sozusagen „alles begann“. Damals, noch als Student der Arabistik und Mediävistik, begann Gardiner seine Karriere als Musikhistoriker und Praktiker für Alte Musik wie wir ihn heute kennen. Und aus dieser  seiner ersten Produktion heraus gründete er auch seinen deshalb so genannten Monteverdi Choir. Genaueres dazu, auch zum Komponisten, seiner Marienvesper und den einschlägigen aufführungspraktischen Fragen kann man dem überaus informativen und auch unterhaltsam zu lesenden Booklet-Text zu dieser neuesten Einspielung entnehmen, offenbar einer Niederschrift von Gardiners Einführungsvortrag 2014 anlässlich der Jubiläumsaufführung der Marienvesper, am gleichen Ort und auf den Tag genau nach fünfzig Jahren. Wer noch mehr aus erster Hand erfahren will, der sehe sich auf YouTube das 20-minütige Video „J.E. Gardiner talks about Monteverdi: Marien Vesper 1610“ an, hochgeladen 2013, aber offenbar zu seiner zweiten Einspielung von 1989 gehörend, dem Live-Mitschnitt eines Konzerts im Markus-Dom, seit 2003 auch als DVD optisch zugänglich (seine erste Einspielung, noch aus der Vinyl-Ära, stammt von 1974).

Vorliegende Aufnahme nun muss kurz nach besagter Jubiläumsaufführung entstanden sein, aber nicht in Cambridge, auch nicht in San Marco, sondern in der wunderbaren hochbarocken Schlosskapelle von Versailles, vielen bekannt als Aufführungsort großer Werke aus Renaissance und Barock durch Spezialisten wie Ton Koopman, Paul McCreesh, Hervé Niquet, William Christie oder Paul Van Nevel, um nur einige zu nennen. Alpha hat ins Digipack gleich zwei Scheiben gelegt: eine DVD und das Gleiche auch nochmal als Blue-ray Disc. Bezüglich der rein musikalischen Güte bleibt die Aufnahme von 1989 immer noch frisch und konkurrenzfähig, nicht aber hinsichtlich der akustischen und optischen Qualität. Hier hat Gardiner höchst überzeugend seine Auffassung darüber demonstriert, wie man Auge und Ohr mit barockem Auftrumpfen von Pracht und Prunk überwältigen kann. Offenbar wurde die Live-Aufführung der Vesper zur „Original-Tageszeit“ gemacht, sodass man gut zusehen kann, wie die letzten Sonnenstrahlen des Spätnachmittags allmählich abgelöst werden vom Chiaroscuro des blau werdenden Lichts von Draußen und dem Gold der beleuchteten Altäre. Langsam navigieren dazu die Kameras über Marmor, korinthische Säulen und die herrlichen Fresken in den Deckengewölben, nach Voltaire alles „ein erstaunlicher Firlefanz“. Der Topos vom „strahlenden D-Dur des Anfangsakkords“ ist hier kein leerer Gemeinplatz, und wenn die Echo-Solisten im „Audi Coelum“ von der gegenüberliegenden Empore zu hören sind, dann glauben wir, dass Monteverdi, der damals mit allen ihm zur Verfügung stehenden Kompositions- und Instrumentierungsmitteln „Eindruck schinden wollte“ (so Gardiner), sicher auch von Techniken wie Surround Sound ( DTS-HD  5.1) gerne Gebrauch gemacht hätte. Ein Vorteil der Blue-ray Disc ist hier, dass man „in Echtzeit“ zwischen 5.1 und 2.0 hin- und herschalten und so den Klang experimentierend vergleichen kann: Einmal hört man die Chöre nahe und unmittelbar, das andere Mal den Echo-Chor in entfernter diffuser Akustik, was dafür aber sehr „sphärisch“ aber eben auch „echt“ klingt, so, als säße man als Zuhörer im Kirchenschiff. Darum verstehe ich den Amazon-Rezensenten nicht wegen seines Punktabzugs ob vermeintlicher „akustischer Schwächen“ („man wähnt sich im Raum irgendwo zwischen Stehpult und den Celli …“). Lediglich den im Begleitheft besonders hervorgehobenen „Binaural Sound“ (eine mit modernen Simulationsprozessoren weitergeführte Technik der früheren Kunstkopf-Stereophonie) konnte ich mit meinen primitiven I-Phone-Headphones nicht so richtig würdigen.

Es werden aber nicht nur schöner Bombast und Firlefanz geboten: Gerade in seinen zwischen die liturgisch originären Teile der Vesper eingestreuten monodisch und solistisch besetzten Concerti zu Texten aus dem Hohen Lied, von Gardiner als „Monteverdis Joker“ bezeichnet, verstehen er und die Musiker, auch das Herz zu rühren mit subtilerer Schönheit. Leider weder im Booklet noch beim Abspann konnte ich herausfinden, wer von den Solisten nun welche Solopassagen gesungen hat – das war bei der Aufnahme von 1989 besser dokumentiert, ist aber nicht entscheidend für die Bewertung …

Besonders hervorheben möchte ich noch die drei hervorragenden Zinkenisten. Etwas Besseres in dieser Kunst habe ich bisher noch nicht gehört. Sie tragen ganz wesentlich zu diesem festlichen Sound bei.

Ich denke, man kann mit Fug und Recht sagen, dass Sir Eliot Gardiner  hier eine neue Referenz-Einspielung gelungen ist, zum Kauf auch denjenigen zu empfehlen, die bereits seine San-Marco-Aufnahme besitzen.

[Hans von Koch, März 2016]