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Ein Quartett für den Frieden: Robert Simpsons Streichquartett Nr. 10

CD: Hyperion CDA66225; EAN: 0 34571 16225

Noten: Roberton Publications 95448

Robert Simpson war Symphoniker durch und durch. Wie nur wenige andere Komponisten seiner Zeit beherrschte der 1921 geborene Brite die Kunst des Spannungsaufbaus über lange Strecken hinweg. Motivisch dicht gearbeitet, meist nur wenige motivische Zellen fortwährend variierend, dabei von einer nirgends nachlassenden Bewegungsenergie getragen, sind seine rund 60 Kompositionen durchweg Meisterleistungen in der Gestaltung großer Zusammenhänge. In einigen seiner Werke finden sich Abschnitte, die zum Eruptivsten gehören, was im 20. Jahrhundert geschrieben worden ist. So entfalten beispielsweise die Ecksätze der Fünften Symphonie eine geradezu manische Aktivität; zwei Blechbläserstücke werden durch ihre Titel Volcano und Vortex hinreichend charakterisiert; und der Schlussteil der Siebten Symphonie dürfte wohl der mächtigste Eissturm sein, den je ein Komponist durch den Konzertsaal hat tosen lassen.

Simpson komponierte nicht aus der abgesicherten Position akademisch kodifizierter Regeln heraus. Seine Motivtransformationen, seine Stimmführung, seine Harmonik wirken im besten Sinne abenteuerlich. Die Form eines Stückes war für ihn nichts, das sich im Vorhinein festlegen ließe, sondern ergab sich immer aus dem jeweiligen Kompositionsprozess, der durchaus auch für den Komponisten selbst Überraschungen bereit halten konnte. Das Verhältnis zwischen Schöpfer und Schöpfung während des Schaffens umschrieb er einmal dergestalt, dass er sich daran erfreue, ein wildes Tier („beast“) loszulassen und es dann zu reiten.

Die Ausbrüche und großen Steigerungen der Simpsonschen Musik stehen freilich stets in einem Kontext, der auch Momente der Ruhe und Einkehr umfasst. Die beiden erwähnten Symphonien enden leise und enthalten ausgedehnte langsame Abschnitte, die sich kaum übers piano erheben. Auch große Teile der raschen Sätze Simpsons spielen sich im piano-Bereich ab. Der häufige Gebrauch von Vortragsbezeichnungen wie tranquillo, dolce und cantabile sollte zudem eine Warnung davor sein, den Komponisten auf die schroffen und kantigen Charakteristika seines Schaffens zu reduzieren.

Die Weltanschauung dieses Mannes, der fähig war Musik von äußerster Heftigkeit zu schreiben, war zutiefst pazifistisch. Er wuchs in einer Familie auf, deren sämtliche Mitglieder in der Heilsarmee aktiv waren. Seinen eigenen Angaben zufolge wurde er als Neunjähriger zum entschiedenen Gegner aller kriegerischer Handlungen, nachdem er auf einer Heilsarmee-Veranstaltung die Rede eines ehemaligen Soldaten über dessen Erlebnisse im Ersten Weltkrieg gehört hatte. Beeindruckt vom Wirken Albert Schweitzers schwankte Simpson als junger Mann eine Zeit lang, ob er Musiker oder Mediziner werden sollte. Als er nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zum Kriegsdienst eingezogen wurde, verweigerte er den Dienst an der Waffe und verbrachte den Rest des Krieges als Mitglied einer mobilen Sanitätseinheit. In der Nachkriegszeit verfolgte er das atomare Wettrüsten der beiden Machtblöcke mit großer Sorge. Zunehmend abgestoßen von dem aufrüstungsfreudigen Kurs der Regierung Thatcher verließ er Großbritannien 1986 und zog nach Irland.

Ein schwerer Schlaganfall riss Simpson 1991 aus der produktivsten Phase seines Lebens. Hatte er in den vorangegangenen zehn Jahren rund die Hälfte seines Lebenswerks geschaffen, so gelang es ihm bis zu seinem Tode 1997 nur noch, ein bereits begonnenes Streichquintett fertigzustellen. Zu den Projekten, die Simpson nicht mehr realisieren konnte, gehört seine Zwölfte Symphonie, die als Chorsymphonie gedacht war. Es hat sich allerdings ein Programm erhalten, demzufolge das Werk die Evolution des Lebens zum Thema haben und auf eine pazifistische Botschaft hinauslaufen sollte:

„I. The formation of the sun and solar systems in a gas cloud.

II. The appearance of the most primitive form of live.

III. Division into plant and animal kingdoms.

IV. The active, aggressive animal – the growth of intelligence.

V. Violence. The aggressive stimulus to inventiveness.

VI. Wisdom. At all times it has existed, but has never been able to prevent the pervasive violence.

VII. The species has hitherto been able to survive its own violence, but no longer. Now it can destroy itself.

VIII. Non-violence or non-existence (Martin Luther King). The laws of chance provide for no other solution.“

Ein ausdrücklich dem Thema „Frieden“ gewidmetes Werk existiert jedoch aus Simpsons Feder: das Streichquartett Nr. 10, dem er den Titel For peace gab. Es entstand 1983 im Auftrag des dem Schaffen des Komponisten besonders verbundenen Coull Quartet, das am 23. Juni 1984 in der University of Warwick die Uraufführung spielte. Im Vorwort zur Partitur schrieb Simpson, diese Musik sei „kein Ausdruck quälender Angst“, sondern „versuche den Zustand des Friedens zu definieren“. Wie das Programm zur Zwölften Symphonie verrät, sieht Simpson den Frieden als Entschluss der Menschen gegen die Entfesselung der zerstörerischen (und selbstzerstörerischen) Kräfte, die ihnen durch die Evolution zuteil geworden sind. Es geht um den bewussten Umgang mit etwas, das in der Welt ist und weder ungeschehen gemacht, noch geleugnet werden kann. Frieden zu halten ist mithin ein Akt der Entscheidung und des Handelns.

Wie schlägt sich das in der Musik nieder? Simpson hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass er nichts davon hielt, die auf Quintverwandtschaften aufgebaute Tonalität durch präfixierte Systeme wie die Zwölftontechnik zu ersetzen. Er arbeitet immer mit tonalen Bezügen. Allerdings vermeidet er weitgehend den Einsatz klassischer Dominantharmonien und hält stattdessen die Musik nahezu durchgehend in einem harmonischen Schwebezustand. Bereits die Themen selbst durchschreiten in der Regel mehrere tonale Zentren. Simpson denkt polyphon und bildet durch Stimmführung eine Vielzahl Vorhaltsdissonanzen unterschiedlicher Spannungsgrade, die er oft nicht auflöst. Daraus ergibt sich, dass in seiner Musik über lange Strecken Dissonanzen auf Dissonanzen folgen. Verwundert es angesichts dieser Stilmittel, dass er sein Komponieren als einen Ritt auf einem wilden Tier beschrieb? Eine latente Spannung ist also bei Simpson immer vorhanden, auch im Streichquartett „für den Frieden“. In diesem Werk enthält er sich nach eigenen Worten der „Agressionen, nicht aber der starken Gefühle“. Die Herausforderung bestand für den Komponisten offenbar darin, mit Stilmitteln, die zur Schärfung des Tons und zur Zuspitzung konflikthafter Situationen bestens geeignet sind, ein Werk friedlichen Grundcharakters zu schaffen.

Simpsons Zehntes Streichquartett ist dreisätzig und dauert ungefähr 27 Minuten. Einem Allegretto-Kopfsatz (3/4-Takt) folgt ein ganz kurzes, scherzoartiges Prestissimo (2/4-Takt). Das Finale ist ein langsamer Satz (Molto Adagio, 3/4-Takt, am Ende 9/8-Takt bei gleichem Tempo), der allein etwa zwei Drittel der Gesamtspielzeit einnimmt. Satzfolge und Proportionen des Werkes erinnern an Beethovens Klaviersonate op. 109, allerdings ist nicht bekannt, ob Simpson – immerhin einer der besten Beethoven-Kenner – eine Anspielung an dieses Stück beabsichtigt hat. Alle drei Sätze sind überwiegend leise gehalten, aber jeder von ihnen steigert sich gegen Ende zu einem Höhepunkt im fortissimo, bevor sich die Musik wieder beruhigt. Dass der Frieden durchaus gefährdet ist, macht vor allem der letzte Satz deutlich. Sein Hauptgedanke ist ein Doppelthema, dessen zwei Stimmen vorwiegend in konsonanten Zusammenklängen geführt werden, wobei sich keine eindeutige Tonika durchsetzt. Es gewinnt im Laufe des Satzes durch rhythmische Variation ein wenig an Lebhaftigkeit, ohne dadurch seine ruhige Grundstimmung einzubüßen. Auch verbleibt die Musik über weite Strecken in der Zweistimmigkeit. Umso mehr überrascht das Fugato im letzten Satzdrittel. Mit der Ruhe ist es hier schlagartig vorbei: Alle vier Instrumente spielen durchweg fortissimo, immer kleinere Notenwerte dominieren das Geschehen und scheinen das Adagio in ein entfesseltes Allegro verwandeln zu wollen. Da besinnt sich die Musik plötzlich eines anderen und sinkt ins pianissimo zurück. Die erste Violine spielt eine graziöse Melodie, ein letztes Mal erscheint das Hauptthema in seiner Anfangsgestalt, und das Werk verklingt in einem ganz leisen Quartsextakkord.

Im Rahmen dieser kurzen Vorstellung ist es unmöglich, auf die ganzen Feinheiten ausführlich einzugehen, die dieses Quartett (wie auch die übrigen Streichquartette Simpsons) bietet. Wer hören will, wie Robert Simpson sich die musikalische Umsetzung des Friedens dachte, greife zu der Einspielung, die das Coull Quartett 1986 für Hyperion gemacht hat. Die Partitur ist 1990 bei Roberton Publications erschienen.

[Norbert Florian Schuck, März 2022]

Ein großartiger Porträtfilm

Im Münchner Monopol-Kino läuft derzeit Daniel Kutschinskis wunderbarer Porträtfilm ‚4’ über das ‚Quatuor Ebène’, eine der großartigsten Kammermusikformationen unserer Zeit. Wir haben die gut besuchte 14 Uhr-Vorstellung am Neujahrstag besucht, zu der überraschend auch der Regisseur erschienen war.

4

Ein Porträtfilm über ein Streichquartett, zumal über ein junges, ist keine einfache Angelegenheit. Es ist etwas ganz Anderes, sich auf eine einzelne Musikerpersönlichkeit zu fokussieren, oder auch, effektreich ein großes Orchester vorzustellen. Aber vier Musiker, die nicht gerade das spielen, was der oberflächliche Hörer für attraktive klassische Musik hält, möglichst gleichberechtigt in den Mittelpunkt zu rücken und dabei keine trockene oder auch allzu fachlich spezialisierte Arbeit abzuliefern, ist doch eine echte Herausforderung.

Der in München lebende Regisseur Daniel Kutschinski ist einen ganz anderen Weg gegangen. Die Voraussetzung, überhaupt mit dem Drehen zu beginnen, war gewachsene Freundschaft und innige Vertrautheit mit den Musikern. In diesem Film wird nicht erklärt, nichts kommentiert, nicht interpretiert. Es geschieht, was eben sowieso geschieht, und das Leben schreibt seine eigenen Geschichten. Das Resultat ist zunächst natürlich ein gigantischer Materialberg, doch in schon unglaublicher Weise ist es Kutschinski und Andrea Schönherr gelungen, daraus einen stringent fesselnden ‚Spielfilm’ zu machen, der in intuitiver Spannungsentwicklung ohne das Bedürfnis nach logischem Über- oder Unterbau sich selbst erklärt für all diejenigen, denen das Leben, die Realität an sich Erklärung genug ist, wenn sie genau beobachtet und intelligent als Netz von lebendigen Bezügen erfahren wird. Denn das tut dieser Film: Er ist ein Muster an phänomenologisch geöffneter, wahrnehmender, wacher, mitfühlender, den Beziehungsreichtum auslotender Haltung.

4.2

Die Kameraführung von Arnd Buss-von Kuk ist schlicht grandios und würde jedem ambitionierten Spielfilm zur Ehre gereichen, zumal die Kunst der Nahaufnahme so wendungsreich mit Leben erfüllt ist, als wäre der Betrachter einfach mittendrin – und hier geschieht immer etwas, was uns fesselt. Auch der Ton, den Marc Parisotto verantwortet, genügt allerhöchsten Ansprüchen, und das heißt nicht nur bei den Musikbeispielen – die erstaunlich wenig Gesamtanteil aufweisen – einiges, sondern ganz besonders in den Backstage- und Kneipenszenen, die niemals vorher eingerichtet wurden, also jedesmal ihr ganzes chaotisches Potential entfalten durften. Die Regie besticht durch eine maximal unprätentiöse und äußerst präzise Hand. Wo Absicht ist, merkt man sie nicht, und wo keine war, könnte sie ebenso dabei gewesen sein. Es ist, als ob der Film von selbst geschieht, und nichts könnte den Zuschauer authentischer einführen in die Konzertwelt der klassischen Musik, die jeden Abend aufs Neue ein Sprung ins kalte Wasser ist, wenn man nicht in den Sicherheiten der Routine verkommen will. Und das tun die vier jungen Männer des französischen Quatuor Ebène nicht: Sie hinterfragen in einem fort, sich und die anderen, alle Gewissheiten, und man hat den Eindruck, dass kein Steinchen dabei ist, das nicht einmal oder mehrmals umgedreht worden wäre.  Herrlich können sich alle vier Charaktere entfalten, und es entsteht eine ungeheure Nähe, wie ich sie noch in keinem Dokumentarfilm – und sowieso in keinem Musikfilm – gesehen habe: eine Nähe, die untrüglicher Beweis nicht nur des engen Bands zwischen den Musikern, sondern auch mit dem Regisseur und seinem Team ist.

Wunderbar ist auch, dass das Quartett keinerlei Hemmungen hat, seinen Mentor Eberhard Feltz, den großen Berliner Quartett-Ausbilder, in Erscheinung treten zu lassen. Hierbei musste, der Gesamtdramaturgie und –länge (94 Minuten) geschuldet, weitgehend auf die Erfahrbarmachung des Methodischen verzichtet werden („das wäre“, so Kutschinski im anschließenden Publikumsgespräch, „ein anderer Film geworden“), aber eindrücklich genug bleibt es allemal, um mehr erfahren zu wollen über solche Zusammenarbeit und überhaupt darüber, was so hinter den Kulissen geschieht, bevor wir die Künstler in Konzerten und Aufnahmen hören können.

4.3
Regisseur Daniel Kutschinski    © Kornelia Wagner, 2016

 

Näher kann man fremden Menschen im Kino nicht kommen, ohne dass diese je in geschmackloser Weise bloßgestellt würden, dabei kommt nichts zu kurz: Intimität, auch Obszönität, jede Menge Humor, Theatralik des täglichen Lebens, die ganze Tiefe im Auge des zu Betrachtenden tranferiert sich ins Auge des Betrachters, der eben nicht wie ein Voyeur behandelt wird und entsprechend dazu auch weder Veranlassung noch Gelegenheit bekommt. Er kann zufiefst berührt werden, ohne wirklich sagen zu können warum, und es braucht keine Effekthascherei oder Sentimentalität, um das echte Gefühl zu haben, dabei zu sein, wie Musik entstehen kann, was zwischen Menschen entsteht auf dem Weg dorthin, wie ‚Hochkultur’ nichts anderes ist als der Ausdruck des Innersten im Moment. Schubert oder Bartók, das Quatuor Ebène und Meister Feltz, Daniel Kutschinski und sein Team, in diese Lichterkette reiht sich der Besucher ein und wird empfangen, teilzuhaben an etwas durch und durch Echtem, das keinen Augenblick bedeutender sein möchte als es ist: die Magie des Augenblicks, der Korrelation der gegenwärtigen Momente, in dieser Hinsicht kann die Musik Symbol des Lebens sein, und umgekehrt. Alles hängt von der Haltung ab, wenn erst einmal die Voraussetzungen geschaffen sind. Es ist eine einzige Liebeserklärung.

Ich persönlich finde es schockierend, dass dieser großartige Film, der wie kein anderer prädestiniert ist, auch junge Menschen natürlich in die Welt der klassischen Musik einzuführen, bisher von keinem europäischen Fernsehsender gezeigt wurde, ja sogar – unter dem Verweis, dies sei leider ‚Hochkultur’ – auch jetzt noch nirgends zur Sendung in Planung ist. Er hat sofort bei der ersten Vorstellung in Los Angeles den ersten Preis des dortigen Dokumentarfilmfestivals gewonnen, und eigentlich hätte dies der Beginn einer anhaltenden Erfolgsstory sein müssen. Was soll denn unser ‚Bildungsauftrag’ überhaupt noch wert sein, wenn so ein großartiges Produkt darin keine Chance hat? Wofür zahlen wir dann alle diese Steuer an die Öffentlich-Rechtlichen, wenn wir alle deren verantwortlichen Programmmachern so grundsätzlich gleichgültig, oder diese durchgehend so inkompetent oder ignorant sind? ‚4’ müsste in den Schulunterricht aller Bundesländer aufgenommen werden, als nationales Kulturgut des 21. Jahrhunderts – aber eine solche Kategorie muss erst noch begründet werden.

[Christoph Schlüren, Januar 2017]

Weitere Termine:
München, Monopol-Kino: 4. 1. (17.00), 6. 1. (14.40), 7. 1. (13.10), 8. 1. (14.40), 14. & 15. 1. (je 12.10).
Bad Endorf, Marias Kino: 5. 1. (20.00), 6. & 8. 1. (je 11.00)
Regensburg, Filmgalerie im Leeren Beutel: 8., 15. & 22. 1. (je 11.00 Matinée)
Tübingen, Arsenal: 15. 1. (11.30)
Bonn, REX: 15. 1. (11.00), 18. 1. (17.00)
Köln, ODEON: 15. 1. (13.30), 18. 1. (17.00)
Hamburg, Abaton: 21. & 28. 1. (je 13.00), 5. 2. (11.00)
Leipzig, Astoria: 22. 1. (13.00)
Salzburg, Das KINO: 25. & 26. 1. (je 20.00), 27. & 28. 1. (je 16.00), 29. 1. (12.00), 5. 2. (10.00)
Luzern, Stattkino: 5., 12., 19. & 26. 2. (je 11.00 Matinée)
Bamberg, Lichtspiel: 19. 2. (12.00)