Vier hochinteressante Spätwerke Claudio Santoros

Naxos 8.574406; EAN: 7 47313 44067 2

Auch die zweite Folge der geplanten Naxos-Gesamtaufnahme sämtlicher 14 Symphonien des Brasilianers Claudio Santoro (1919–1989) erweist sich als hörenswerte Fundgrube. Neben den Symphonien Nr. 11 & 12 spielt das Goiás Philharmonic Orchestra unter seinem britischen Chef Neil Thomson noch das Concerto Grosso für Streichquartett & Orchester sowie Três Fragmentos sobre BACH.

Das Orquestra Filarmônica de Goiás hatte bereits mit der ersten Folge sämtlicher Symphonien Claudio Santoros absolut begeistert – siehe unsere Rezension hier, wo man ebenfalls grundlegende Infos zum Komponisten nachlesen kann. Nun legt der brasilianische Klangkörper unter seinem britischen Chef Neil Thomson noch eins drauf: Dergestalt, dass sowohl in der Symphonie Nr. 12 ‚Sinfonia concertante‘ als auch dem Concerto Grosso insgesamt 11 Mitglieder des Orchesters zudem anspruchsvolle Soloparts meistern.

Die vier hier vorgestellten Orchesterwerke stammen alle aus Santoros letzter Schaffensphase nach seiner Rückkehr 1978 aus Deutschland, wo er ein knappes Jahrzehnt an der Musikhochschule Heidelberg-Mannheim eine Dirigierprofessur bekleidet hatte. Nach einer Zeit ausgiebigen Experimentierens mit Avantgarde-Elementen wie Elektronik, Aleatorik, teilweise graphischer Notation usw. zeigt sich nun eine gewisse Konsolidierung seines Stils, wobei er die vorherigen Erfahrungen jedoch keineswegs über den Haufen wirft, sondern auf sehr persönliche Weise in traditionellere Formen integriert. So hören wir im Concerto Grosso (1980) für Streichquartett und Streichorchester neben strikt motivischer Arbeit auch Clusterbildungen sowie aleatorische Momente. Ein intensives Werk für die ja nach wie vor seltene Besetzung; der Verzicht auf Bläserfarben bewirkt zusätzliche Dichte.

Die nur knapp 17-minütige 11. Symphonie (1984) charakterisiert der Verfasser des informativen Booklettexts, Gustavo de Sá, als überwiegend tragisch. Gerade die herausgestellten Soli (Oboe bzw. Violine) im Kopfsatz evozieren von Beginn eine desolate Atmosphäre. Das höchst virtuose Scherzo – es gibt keinen eigenen, langsamen Satz – dient lediglich zur Vorbereitung des sich aus bisherigem Material gewaltig zusammenballenden Konflikts des Finales, der sich schließlich geradezu kataklysmisch entlädt – emotional überwältigend. Anscheinend darf man den Hinweis am Schluss der Partitur („Brahms Haus, 12-6-84, Baden-Baden“) als deutlichen Fingerzeig auf gewisse Allusionen zu Brahms 1. Symphonie durchaus ernst nehmen.

Entstanden zum 300. Geburtstag des Barockmeisters, benutzen die Três Fragmentos sobre BACH für Streichorchester das Namensmotiv auf vielfältige Weise durchaus im Sinne serieller Techniken, greifen dabei jedoch ebenso auf barockes Handwerk (Fuge) zurück. Wieder dominiert eine düstere Stimmung, der die formal hochorganisierte Ordnung quasi wie ein tröstliches Regulativ entgegenwirkt. Für ein Jugendorchester – wofür die Stücke eigentlich konzipiert wurden – wären Santoros BACH-Fragmente in der Tat eine gewaltige Nummer; den brasilianischen Profi-Musikern gelingt selbstverständlich eine absolut souveräne Darbietung.

Die 12. Sinfonie (1987, 1988/89 nochmals revidiert) hat ihren Ursprung in 15 Solostücken für einen Jugendwettbewerb 1983 in Rio de Janeiro. Santoro wollte diese zunächst als „Fantasia Concertante“ orchestrieren und zusammenfassen, nutzte sie aber schließlich als Basis für die Symphonie, die tatsächlich eine echte „Concertante“ ist. Kontrastierend, sich öfters zum Duo ergänzend, gibt dieses Stück den neun Solisten – Flöte, Oboe, Klarinette, Horn, Trompete, Posaune, Violine, Bratsche und Violoncello – dann reichlich Gelegenheit zum befreiten Musizieren, ist endlich von freundlicher Farbigkeit, immenser klanglicher Finesse, ohne den hohen Anspruch an die symphonische Gattung preiszugeben. Nur zu schade, dass der Komponist das inspirierte Werk nicht mehr hören durfte: Die Uraufführung fand erst 2019 in São Paulo statt.

Neil Thomson legt mit seinem wirklich fantastischen Orchester erneut eine Glanzleistung nach der anderen hin: Abgesehen von der großartigen Spielfreude der erwähnten Solisten, gelingt es allen beteiligten Musikern, die Gratwanderung zwischen Santoros formaler Strenge und einer stellenweise überbordenden Emotionalität feinsinnig nachzuzeichnen und allen Parametern guten orchestralen Miteinanders völlig gerecht zu werden. Offenkundig ist man sich der kulturellen Bedeutung dieser Naxos-Reihe für die weltweite Reputation der bislang unterbelichteten klassischen Musik Brasiliens klar bewusst – und drei der vier präsentierten Werke sind hier sogar wieder Erstaufnahmen. Großes Lob gebührt darüber hinaus ebenso der stimmigen Tontechnik. Dieses Repertoire hat eindeutig die ganz große Bühne verdient! Man darf sich schon auf Santoros 8. Symphonie freuen, die im Juli erscheinen soll.

[Martin Blaumeiser, Juni 2023]

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