Schlagwort-Archive: Norrköping Symphony Orchestra

Pendereckis 6. Symphonie und zwei Konzerte unter Antoni Wit

Naxos 8.574050; EAN: 7 47313 40507 7

Die als letzte von Krzysztof Pendereckis insgesamt acht Symphonien entstandene Sechste „Chinesische Lieder“ liegt nun in einer weiteren Einspielung mit dem Norrköping Symphony Orchestra unter Antoni Wit vor. Auf der Naxos-Produktion erklingen zudem das Trompeten-Concertino (2015) und das Concerto Doppio von 2012 in der Version für Violine und Violoncello. Die Solisten sind Jarosław Bręk (Bassbariton), David Guerrier (Trompete), Aleksandra Kuls (Violine), Hayoung Choi (Violoncello) sowie Hsin Hsiao-ling (Erhu).

Die Zählung der acht Symphonien Krzysztof Pendereckis (1933‒2020) verließ bereits früh die Chronologie: So wurde etwa die 3. Symphonie erst nach der vierten und fünften fertig. Eine 6. Symphonie war bereits für Ende 1996 bei den Münchner Philharmonikern angekündigt worden. Nach den Premieren der 7. Seven Gates of Jerusalem“ (1997) und 8. „Lieder der Vergänglichkeit“ (2005 bzw. 2007) rechnete eigentlich niemand mehr mit der noch fehlenden 6. Symphonie; und so entstanden schon CD-„Gesamtaufnahmen“ eben ohne eine solche. Penderecki hatte allerdings seit 2008 an einem Liederzyklus gearbeitet, der – wie Gustav Mahlers Lied von der Erde – altchinesische Dichtungen in der deutschsprachigen Übertragung Hans Bethges vertonen sollte. Die insgesamt acht Lieder, gesetzt für Bassbariton und relativ kleines Orchester, wurden 2017 vollendet und erschienen dann schließlich als 6. Sinfonie (Chinesische Lieder). Nach der Uraufführung in Guangzhou kamen für die Dresdner Aufführung im März 2018 noch vier Zwischenspiele für Erhu – das vielleicht typischste, lediglich zweisaitige Streichinstrument Chinas – hinzu.

Penderecki hat sich ja bekanntlich vorwerfen lassen müssen, vom Avantgardisten zum hemmungslosen Romantiker mutiert zu sein. Wie schon in der 8. Symphonie bedient der Komponist auch in der Sechsten ausgerechnet Texte auf Deutsch. Im Unterschied zu Mahlers Lied von der Erde, wo dieser alle angesprochenen individuellen Befindlichkeiten der altersweisen chinesischen Lyrik gleich in allgemeinen Weltschmerz umdeutet, bleibt Penderecki bei der Einsamkeit seines Protagonisten. Das ist feine Kammermusik, subtil instrumentiert, und interessanterweise nicht so stark mit Penderecki-typischen Intervallfolgen infiltriert wie lange bei ihm üblich. Ja, man darf sich an romantische Liederzyklen erinnert fühlen und ein im engeren Sinne erwartbarer symphonischer Zusammenhang ist schwer erkennbar.

Antoni Wit (*1944), noch Schüler von Henryk Czyż, Stanisław Skrowaczewski und Nadia Boulanger, erlangte als Karajan-Preisträger schnell Weltruhm. Sein größter Verdienst liegt im unermüdlichen Einsatz für zeitgenössische polnische Komponisten, insbesondere Lutosławski und Penderecki, dessen Orchesterwerke er fast komplett für Naxos eingespielt hat – meist in herausragender Qualität. Bislang kamen dafür fast ausschließlich Warschauer Orchester zum Einsatz. Das vorliegende Programm benötigt zwar weniger große Klangkörper; das Norrköping Symphony Orchestra – zuletzt gelobt für seine Aufnahmen der Symphonik Allan Petterssons – fremdelt nun allerdings ein wenig mit der Musik des polnischen Meisters.

Ein echter Schwachpunkt der Wit-Aufnahme ist der leider kürzlich viel zu jung verstorbene Bariton Jarosław Bręk. Verglichen mit Stephan Genz auf der Erstaufnahme der Symphonie unter Wojciech Rajski stört der überdeutliche polnische Akzent Bręks, mehr jedoch seine seltsam unbeteiligte, über Strecken fehlende Ausdeutung des Textes – fast so, als wisse er nicht, von was er da singen soll. In den mittleren Sätzen IV. und V. (Die wilden Schwäne/ Verzweiflung) erweist sich sein deutlich dunkleres Timbre als vorteilhaft, aber selbst hier wirkt der Vortrag blass. Das Orchester bleibt bei der Symphonie ebenfalls nur präzis routiniert, kann höchstens punktuell mal emotional mitreißen. Wenigstens aufnahmetechnisch gewinnt die Neueinspielung, ist durchsichtiger und dynamisch besser ausbalanciert als die recht mulmige CD Accord Veröffentlichung. Kurios allerdings, dass die vier kurzen Erhu-Zwischenspiele mit Hsin Hsiao-ling völlig gesondert ein halbes Jahr später in Hong Kong aufgezeichnet wurden.

Viel besser gelingen die beiden konzertanten Werke: Pendereckis Concerto doppio – 2012 ursprünglich für Violine und Viola konzipiert – ist, so wie sein Bratschenkonzert, inzwischen auch für andere Besetzungen, selbst für Akkordeon, adaptiert worden. Dem Rezensenten gefällt die Fassung für Violine und Cello – die Violastimme wird dazu durchgängig nur nach unten oktaviert – eigentlich besser als das Original. Der zusammengenommen nun größere Ambitus der beiden Solistinnen bietet den in diesem Konzert überwiegenden Duopassagen differenziertere Klangmöglichkeiten. Die polnische Geigerin Aleksandra Kuls – u. a. Schülerin von Kaja Danczowska und Wienawski-Preisträgerin – und die Südkoreanerin Hayoung Choi – Siegerin des Queen Elizabeth Competition 2022 für Cello – übertreffen hier an gestalterischer Energie sogar die Interpreten der Urfassung in Pendereckis eigener Aufnahme. Wit bewegt sich in gewohntem Fahrwasser mit nachtwandlerischer Sicherheit und inspiriert dabei ebenso das schwedische Orchester.

Vom gut 10-minütigen Trompeten-Concertino (2015) existieren bereits mehrere Aufnahmen. David Guerrier, 2003 Erster Preisträger des ARD-Wettbewerbs und seit Anfang des Jahres Solotrompeter der Berliner Philharmoniker, musiziert das dankbare, zugleich denkbar traditionelle viersätzige Stück mit Hingabe und vollster Überzeugung, perfekt von Wit unterstützt – eine makellose Darbietung, die nur begeistern kann. Für Sammler ist die mit dieser CD vollständige „echte“ Gesamtaufnahme aller Penderecki-Symphonien unter Antoni Wit wohl ein Muss, obwohl eine rundum befriedigende Wiedergabe der 6. Symphonie noch aussteht. Die Konzerte verdienen eine uneingeschränkte Empfehlung.

Vergleichsaufnahmen: [6. Symphonie] Stephan Genz, Polska Filharmonia Kameralna Sopot, Wojciech Rajski (CD Accord ACD 270-2, 2019); [Concerto doppio – Fass. für Violine & Viola] Bartłomiej Nizioł, Katarzyna Budnik, Jerzy Semkow Polish Sinfonia Iuventus Orchestra, Krzysztof Penderecki (DUX 1537, 2018)

[Martin Blaumeiser, August 2024]

Musik für Bauch und Seele mit Spaßgarantie

Cpo 777 875-2; EAN: 761203787524

Grete3

Manche Familien sind über Generationen hinweg der Musik verbunden. Die Familie Jurowski ist so eine Familie: Opa Vladimir – Komponist, Sohn Michail – Dirigent, Enkel Vladimir – ebenfalls Dirigent (wurde kürzlich unter etwas merkwürdigen Umständen zum Chef des RSO Berlin erklärt). Schön ist es, wenn sich die Generationen quasi die Hand reichen, so, wie auf diesem neuen Album des Labels cpo.

Michail Jurowski dirigiert hier zwei sehr reizvolle Werke seines Vaters Vladimir Jurowski. Jener war bei niemand Geringerem als Nikolai Mjaskowski in die Lehre gegangen, der bekanntlich zu den zwar noch immer vernachlässigten, nichtsdestotrotz aber bedeutenden Sinfonikern Russlands im 20. Jahrhundert zählte. Mjaskowski (der selbst bei Glière, Liadow und Rimsky-Korsakow studierte) hat einige der wichtigsten Komponisten der UdSSR ausgebildet, darunter u.a. Aram Chatchaturjan, Dmitri Kabalewski und Boris Tschaikowsky. Wer in Mjaskowskis Kompositionsklasse ging, der hatte auf jeden Fall Chancen auf eine Karriere in Sowjetrussland.
Vladimir Jurowski hingegen verstarb früh, und sein Œuvre geriet vielleicht auch deswegen in Vergessenheit. Zugegebenermaßen ist die auf diesem Album zu hörende fünfte Sinfonie und die Kollektion „sinfonischer Bilder“ die den neugierig machenden Titel „Russische Maler“ trägt, auch kompositorisch nicht dasselbe Niveau wie man es bei den prominenteren Schülern Mjaskowskis finden kann. Auch das ausführende Norrköping Symphony Orchestra lässt in fast allen Orchestergruppen durchscheinen, dass es nicht zur Elite der nordeuropäischen Sinfonieorchester gezählt werden kann, wenngleich es sich sehr erfolgreich bemüht, seine allerdings allzu offensichtlichen Schwächen vergessen zu machen.
Trotz dieser Einschränkungen möchte ich diese CD mit russischer Sinfonik jedem wärmstens ans Herz legen, der sich für tonale russische und nordeuropäische Orchestermusik des 20. Jahrhunderts begeistern kann. Warum? Weil diese Platte einfach Laune macht!
Diese CD ist schlicht und ergreifend eine große Spaßmaschine: Diese einfach klasse klingende Musik, die sofort ins Ohr geht, riesig besetzt und sehr effektvoll in Szene gesetzt, diese Anklänge an die Musik von Jurowskis Zeitgenossen, die eine Vergleichbarkeit mit Werken etwa Kurt Atterbergs, Gavriil Popovs oder in Teilen auch Dmitri Schoastakowitschs durchaus erlauben. Das ist einfach so unterhaltsam, dass man dran bleibt, und es verliert auch nach einigen Durchläufen keinen Reiz – was wiederum durchaus für die Kompositionen spricht.
Die fünfte Sinfonie ist riesig besetzt, inklusive einer megalomanisch eingesetzten Kirchenorgel im – am wenigsten überzeugenden – letzten Satz. Am meisten begeistert mich der erste Satz mit seiner sinistren Hintergründigkeit, seinem effektvollen Dynamikspektrum, den schlau eingesetzten Bläserpartien, den nachtglänzenden Streichern und dem „schostakowitschesken“ Schluss. Das hat man zu Jurowskis Zeit in den USA auch nicht besser oder effektvoller gemacht.
Leider fallen die beiden anderen Sätze der Sinfonie im Vergleich zum ersten etwas ab, was die Jurowski-Fünfte im Endeffekt daran hindert, zu den wirklich großen Werken ihrer Zeit gezählt werden zu können.
Die „Russischen Maler“ sind im Vergleich zur Sinfonie geradezu brav, was wohl auch die Bilder gewesen sein mögen, die der Komposition zum Vorbild dienten – zumindest legen deren Titel das nahe. Bilder, die Titel tragen wie „Iwan Tsarewitsch reitet den Grauen Wolf“, „Winterszene“ oder „Porträt einer unbekannten Frau“ klingen dann eben musikalisch entsprechend.
Ein Fazit für diese CD zu ziehen ist also alles andere als einfach: Einerseits haben objektiv betrachtet weder die Werke noch die Interpreten eine unumwundene Empfehlung verdient, andererseits macht dieses Album einfach so viel subjektiven Spaß, dass ich es immer wieder in den CD-Player schiebe und mich daran erfreue. Wer also den Kopf ausschalten kann, bekommt hier Musik für Bauch und Seele mit viel russischem Flair und einer 1A-Spaßgarantie.

[Grete Catus, November 2015]