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Écoles de Paris — Paris pour École

EDA Records, EDA 048; EAN: 8 403087 10048

Das Album Écoles de Paris – Paris pour École vereint Werke vierer Komponisten, die wesentlich vom Paris der 1920er Jahre geprägt worden sind: George Antheil, Jacques Ibert, Simon Laks und Marcel Mihalovici. Es spielen Mitglieder des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin unter Leitung von Johannes Zurl. Als Solisten sind Adele Bitter (Violoncello) und Holger Groschopp (Klavier) zu hören.

Frank Harders-Wuthenow wirkt seit Jahrzehnten nicht nur im Musikverlagsgeschäft, sondern ist auch einer der beschlagensten und kenntnisreichsten Musikforscher weltweit. Hauptfeld seiner Erkundungen ist gleichermaßen die verfemte wie überhaupt die unterschätzte und vernachlässigte Musik des 20. Jahrhunderts, wo er ein sehr gutes Gespür hat, wie die Spreu vom Weizen zu trennen ist. Außerdem hat er eine ausgesprochene Gabe für die dramatisch schlüssige Zusammenstellung von Programmen, und schon alleine von daher gehört er zu denjenigen, wie weniger Wert auf enzyklopädische Vollständigkeit und Übersichtlichkeit legen als auf eine künstlerisch anregende Gesamtgestaltung. Also ist es keine Überraschung, wenn eine CD mit erlesenstem gemischten Programm der klassischen Moderne auf seinem Label EDA Records erscheint – die übrigens mit tollen Überraschungen aufwartet.

Gleich vorweg: das Album weist einen hervorragend einstimmenden und informierenden, recht umfangreichen Begleittext aus der Feder des Produzenten auf. Es handelt sich allesamt um Komponisten, die im Paris der 1920er Jahre heranreiften und es mitgeprägt haben. Natürlich könnten – gerade auch von den vielen Migranten – auch ganz andere dabei sein, wie Alexandre Tansman, Tibor Harsányi, Gösta Nystroem, Arthur Lourié, Bohuslav Martinu, Conrad Beck, Filip Lazar, Knudåge Riisager oder Uuno Klami, um nur einige wenige zu nennen. Aus dieser immensen Vielfalt sind drei Meister herausgegriffen, mit deren Werk die Welt nur sehr randständig bis überhaupt nicht vertraut ist, die in Kombination mit einem französischen Meister vorgestellt werden.

Den Anfang macht der einzige Franzose, Jacques Ibert – am besten durch seine Konzerte für Flöte und für Saxophon sowie durch seine Bläsermusik bekannt –, mit seinem so kurzweiligen wie knapp geformten dreisätzigen Konzert für Cello und Bläserdezett (doppeltes Holz sowie je ein Horn und eine Trompete) von 1925. Die Musik sprüht von trocken artikuliertem Witz, weist eine größere Nähe zu Strawinsky aus als spätere Werke Iberts und auch jene beinahe trivialen, zum Mitpfeifen einladenden Motive, wie wir sie beispielsweise aus seinen köstlichen Trois pièces brèves für Bläserquintett kennen. Alles funkelt, alles blitzt, und Solistin Adele Bitter gewinnt aus der heiklen Aufgabe, mit dem dominant kompakten Klang des Bläserensembles zu konzertieren, ein veritables Fest des unvorhersehbaren Dialogs. Natürlich ist das ‚Neoklassizismus‘, mit einer einleitenden Pastorale und einer finalen Gigue, die eine skurrile ‚Romance‘, die sich so gar nicht schwelgerisch gibt, umrahmen. Diese Romance gleicht einer unnahbar flunkernden Dame, mindestens mit Sonnenbrille, aber so was Anzügliches darf ich heute vielleicht nicht sagen.

Darauf folgt das Hauptwerk, die horrend herausfordernde Étude en deux parties für konzertantes Klavier, Bläser, Celesta und Schlagzeug von 1951. Mihalovici, rumänischer Jude und Pariser Weltbürger, engster Vertrauter George Enescus und vielleicht sein bedeutendster Nachfolger (ihm hat Enescu die Vollendung seiner späten Symphonie de Chambre, jenes grandios einsätzigen Meisterwerks, anvertraut), geht in seiner gereiften Tonsprache selbstverständlich davon aus, dass die Musiker in der Lage sein müssen, eine hohe Komplexität zu entschlüsseln und zu bewältigen. Es folgt hier auf einen langsamen Satz von mysteriös vorbereitendem Charakter in durchbrochener Faktur ein zügiger Satz mit jazzigen und rumänischen Anteilen, die auf sehr organische und unaufdringliche Weise ins anspruchsvolle Gewebe eingewoben sind. Dies ist absolut keine gefällige Musik, man muss die ständig kräftige Dissonanz-Würzung schon mögen, um Zugang zu finden, wird aber dann sehr reich belohnt. Die Energie wird lange unterschwellig gehalten, bevor sie sich gegen Ende exaltierter manifestieren darf. Zwar ist die Instrumentation sehr abwechslungsreich, wobei Mihalovici es liebt, die Klanggruppen einander opponieren zu lassen, doch ist er vor allem ein symphonischer Architekt, der alles von Anfang an auf den Schluss hin berechnet. Und ein bisschen Mysterium darf ja auch dann noch bleiben.

George Antheil hat mich mit seinem humorvoll draufgängerischen Concerto for Chamber Orchestra (für Bläseroktett, wie Strawinsky) in einem Satz von 1932 überrascht. Nicht das Freche, Frische, Grelle, Schlagkräftige, das ist ja für seine frühe Musik selbstverständlich; sondern die gelassene Souveränität seiner Provokation! Es ist äußerst präzise und treffsicher geschrieben und verdankt natürlich unendlich viel dem neusachlichen Strawinsky. Und zugleich ist es eben ein amerikanischer Strawinsky, so amerikanisch, wie selbst der Großmeister der Chamäleon-Possen es nie sein sollte. Diese Musik ist unmittelbar verständlich und hat das Zeug, mit poppiger Direktheit die Zuhörer zu gewinnen.

Auch das abschließende dreisätzige Concerto da camera für Klavier, Bläser und Schlagzeug von 1963, geschrieben vom polnischen Juden und KZ-Überlebenden Simon (Szymon) Laks, ist leicht zugänglich, und überdies von einer idyllischen Fröhlichkeit (also mehr naturhaft als die großstädtische Musik Antheils) mit einem ganz wunderbar den Problemen und Forderungen der Welt entrückten langsamen Mittelsatz. Das ist musikantische Musik im besten Sinne, für den Klaviersolisten sehr dankbar, gerade auch in der an Bach’sche Inventionen gemahnenden Kontrapunktik (Finale!) – ein zeitloses Werk, das genau so auch hätte dreißig Jahre früher oder sechzig Jahre später (=heute) entstehen können. Diesem Schaffen liegt eine autonome Haltung zugrunde, die die Parteifragen der Gegenwart (fortschrittlich oder rückständig und dergleichen) vollkommen transzendiert hat. Es war Laks offensichtlich gleichgültig, wie die Fachwelt urteilte, und er hatte Schlimmeres überlebt als deren Ignoranz – und stimmte, als unmittelbar Betroffener, offenkundig nicht Adorno zu, der ja proklamiert hat, nach Auschwitz könne man kein Gedicht (bei Laks: Lied) mehr schreiben. („… nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frisst auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben…“ – viele haben aus diesem dystopischen Giftbecher getrunken.) Denn Laks lebte mehr im Jetzt – und in sich – als all jene, die bis heute Vergeltung, Wiedergutmachung oder Verweigerung fordern. Die Aufführungen dieser insbesondere hinsichtlich Balance und Rhythmus sehr heiklen Werke sind durchgehend von überdurchschnittlich seriöser Qualität, und herausragend ist das Klavierspiel Holger Groschopps, der sich gleichzeitig als feiner Kammermusiker und echter Virtuose vorstellt – also ganz so, wie es die somnambul verschattete, katakombisch klaustrophobische Faktur Mihalovicis unbedingt einfordert und auch der Indian-Summer-Ausgelassenheit des abgeklärten Laks entspricht.

In seiner feinziselierten Buntheit kann dieses vortrefflich zusammengestellte Album nur empfohlen werden. Strawinskys Bläser-Oktett übrigens ist nicht enthalten, wie das Cover suggerieren mag, sondern nur online zu hören – was aber keine Rolle spielt, denn dieses Werk ist ja schon viel öfter aufgenommen worden als alle vier anderen Werke dieses Programms zusammen.

[Christoph Schlüren, Februar 2024]

Vom “bad boy” zum “good boy”

Avi-music, 8553239; EAN: 4 260085 532391

Alessandro Fagiuoli und Alessia Toffanin vollziehen die Wandlung des “Bad boy of music“, George Antheil, zu einem der Tradition zugewandten Komponisten anhand seiner vier Violinsonaten nach. Chronologisch beginnen sie mit der viersätzigen Ersten Sonate, die Olga Rudge gewidmet ist, und der Ezra Pound „best of friends“ zugeeigneten einsätzigen Zweiten Sonate je von 1923. Ein Jahr später entstand die Dritte Sonate, welche auf vorliegender CD erstmalig eingespielt wurde, und uns mit ganz anderen Klängen verdutzt. Nach einer Pause von über 20 Jahren schrieb Antheil seine Vierte Sonate 1947/48 als „New Second Violin Sonata“, nachdem er die ursprünglich zweite aberkannte.

Bevor George Antheil zum anerkannten Filmmusikkomponisten wurde und mit seinen freudestrahlenden wie eingängigen letzten Symphonien zum Publikumsliebling avancierte, intendierte er genau das Gegenteil: als Vorreiter des Futurismus wollte er sich einen Namen machen, provozieren und aufreiben, das Instrument zur Maschine verstümmeln. Heute kann man sich kaum vorstellen, dass das Ballet mécanique und A jazz symphony (2. Version) vom gleichen Autor stammen.

Als Antheil 1923 seine Erste Violinsonate schrieb, gelang ihm direkt der große Wurf hin zu einer eigenständigen, provokanten und doch durch ihren aberwitzigen Schwung mitreißenden Sonate. Ein gleichbleibendes Motto durchzieht die vier Sätze, in denen jeweils wenig Entwicklung stattfindet zugunsten von kubistischer Aneinanderreihung verschiedenartiger Elemente, die in sich höchstens rhythmisch fortgesponnen werden. Dabei verlangt Antheil dem Streichinstrument barbarische Vortragsarten ab, dass es gar dem Klang einer Säge gleichkommen soll. Die beiden langsameren, aber nicht weniger intensiven Mittelsätze entführen uns in den Orient, bevor mit dem Presto-Finale der Kopfsatz noch weiter in die Höhe getrieben wird. Im gleichen Jahr entstand die Zweite Sonate, in welcher die Mechanisierung des Klaviers ihr Maximum erreicht, wenn der Pianist am Ende die Tasten gegen zwei Trommeln eintauscht. Darüber hinaus adaptiert Antheil alle möglichen damals populären Melodien, indem er sie ihren Genres entreißt, verzerrt und schließlich verstümmelt in seine Sonate integriert. Stilistisch erscheint sie wie aus einem Guss mit dem Erstlingswerk, jazzige bis vertrackte Rhythmen, Klangtrauben am Klavier und brutale Strichweisen auf der Geige.

Merkwürdig zurückgehalten und reduziert wirkt dagegen die ein Jahr später entstandene Dritte Violinsonate. Entweder darf sie als glühende Verehrung für oder aber als kühner Raubzug gegen Strawinsky angesehen werden darf: So ziemlich alles in dem etwa 18 Minuten langen Satz lässt sich in deutliche Verbindung mit dem Russen bringen. Am offenkundigsten ist der Bezug zu Petruschka, die Antheil inspirierte mitsamt ihrer Bitonalität, den Melodien des Jahrmarkts (Antheil zeigte natürlich besonderes Interesse an der Drehleier), den wuselnden Klangflächen und den hemmungslosen Überlagerungen scheinbar nicht zusammenpassenden Materials; aber auch Sacre du printemps erhält einen Ehrenplatz in diesem Werk. Von den vier Sonaten mag dies die sperrigste und undankbarste sein, aber nur auf den ersten Blick, denn unter der Oberfläche verblüfft die meisterlichen Setzkunst, der formalen Konzeption und die klangliche Differenzierung.

Als Antheil 1933 nach New York zurückkehrte, hinterließ er eine klaffende Lücke im Verzeichnis seiner ‚ernsten‘ Werke und finanzierte sich mit Filmmusiken seinen Lebensunterhalt, erst 1945 entstand eine Sonatine für Violine und Klavier, die nun aber nichts mehr vom „Bad boy of music“ aufwies, sondern ganz im Gegenteil traditionsbewusst und weitgehend verständlich war. Die Vierte Violinsonate entstand genau in der Zeit dieses Umschwungs mit klassisch-dreisätziger Form und nachvollziehbaren Entwicklungen. Da Antheil seine ursprünglich zweite Sonate nun verleumdete, sollte dieses Werk als „New second violin sonata“ den Platz des 25 Jahre früheren Werks einnehmen.

Aufgrund ihrer horrenden technischen Schwierigkeiten wurden diese Sonaten wie allgemein ein Großteil des Solo- und Kammermusikwerk Antheils nur selten aufgeführt – die Dritte der Violinsonaten wurde auf dieser CD gar erstmalig eingespielt. Alessandro Fagiuoli und Alessia Toffanin stellen sich in dieser Aufnahme gleich allen vier dieser Sonaten und liefern ein nicht nur mechanisch einwandfreies Ergebnis ab. Flexibel finden sich die beiden Musiker in allen Stilwelten zurecht, die Antheil erschließt, bleiben schwungvoll und gewitzt, ohne die notwendige Strenge zu bewahren. Sie genießen förmlich die Skurrilität und Entrücktheit dieser Werke, gehen in den abenteuerlichen Klangeffekten auf. Dabei bewahren sich Fagiuoli und Toffanin davor, sich nur auf das reine Geräusch zu konzentrieren: es gelingt ihnen auch, die einzelnen Teile in Bezug zu setzen. In den frühen Sonaten blicken sie unter die triumphierende Oberfläche und erkennen die wahre Substanz. Wie gestaltungsfähig die beiden Musiker tatsächlich sind, merkt der Hörer spätestens in der späten Vierten Sonate, die durch ihre innere Ausgewogenheit und formale Stimmigkeit noch feineres Gespür von den Darbietenden verlangt. Hier trumpfen die Musiker dieser Aufnahme mit großen Bögen, harmonischem Verständnis und formaler Stringenz auf, kontrastieren durch vielseitige Tonfärbung und präzise abgestufte Artikulation. Eine rundum gelungene Aufnahme, die mitreißt und die Spannung die gesamten 80 Minuten Spieldauer aufrechterhält.

[Oliver Fraenzke, Mai 2020]

Rückkehr zur Gunst des Publikums

Chan 10982; EAN: 0 95115 19822 3

John Storgårds dirigiert das BBC Philharmonic Orchestra mit Orchesterwerken von George Antheil. Zu hören sind die Symphonien Nr. 3 „American“ und Nr. 6 „After Delacroix“ sowie Archipelago, der Hot-Time Dance und die Filmmusik Spectre of the Rose.

Während sich andere Komponisten seiner Generation immer neueren Experimenten und stilistischen Extremitäten hingaben, kehrte George Antheil zurück zur weitgehend tonalen Musik und somit auch zur Gunst des Publikums. Als Enfant Terrible machte er in jungen Jahren von sich sprechen und legte bisweilen sogar einen Revolver auf den Flügel, um während seiner futuristischen Klaviersonaten nicht gestört zu werden. Doch als er Europa verließ und wieder in der Heimat, den USA, lebte, trieb es ihn dazu, sich der Entwicklung eines eigenen, amerikanischen Stils zu verschreiben, der nicht zuletzt auch die Massen ansprechen solle. Die Symphonik erschien ihm als prädestinierte Ausdrucksform für solch ein Vorhaben und Antheil widmete sich Jahrelang intensiv dezidiert der Symphonik, schrieb und verwarf zahlreiche Skizzen.

Wie für die meisten amerikanischen Komponisten etablierte sich in Antheils Musik der Jazz als unentbehrliches Element. Bernstein erklärte in einem seiner „Young People‘s Concerts“ die Entwicklung der amerikanischen Musik und stellt anschaulich dar, wie die Elemente des Jazz immer weiter Fuß fassten in den „klassisch“-amerikanischen Stil. Die American Symphony von  Antheil lässt eben dies spüren: Synkopische Rhythmen und jazzige Harmonien verleihen ihr erst den „amerikanischen“ Flair, den Antheil zum Ausdruck bringen will. Archipelago lebt ebenfalls von Jazzrhythmen, zieht jedoch eine ganz andere Art der Instrumentation mit ein, die sich auf Antheils Zeit in Frankreich zurückführen lässt. Der Hot-Time Dance entfernt sich erstaunlich weit vom Jazz, obgleich gerade dieses Stück den Stil bereits im Titel trägt – viel mehr tönt freudige und unbekümmerte Zirkusmusik durch. Auf Frankreich bezieht sich auch Spectre of the Rose zurück, genauer gesagt auf die Harmonik und Instrumentation von Maurice Ravel. Die Musik gibt sich schlicht und beinahe naiv, versprüht dennoch einen Funken außergewöhnlicher Ideen. Das einzige Werk auf dieser CD, das überhaupt keine hörbaren Jazzelemente beinhaltet, ist die an Schostakowitsch gemahnende sechste Symphonie „after Delacroix“, das üppigste und weitschweifendste dieser Werke. Antheil geriet oft in die Kritik für seinen wieder-tonalen, gefälligen Stil und für die effekthascherische Orchestration. Das beiliegende, ausführlich informierende Booklet von Mervyn Cooke zitiert Rezensionen über die sechste Symphonie, welche sie „hohl und Hollywoodartig“ nannten und ihr vorwarfen, sie habe „die leere Vehemenz einer Wahlkampfrede“. Wenngleich das Pathos in Antheils Orchestermusik durchaus dazu einläd, sie nicht ganz ernst zu nehmen, darf doch nicht der Ideen- und Farbenreichtum in dieser Musik vernachlässigt werden, der packende Drive und die eingängige Melodie, welche mit kecken Rhythmen unterlegt wird.

Storgårds holt eine beachtenswerte Vielfalt an orchestralen Farben aus dieser Musik heraus. Er gibt sich nicht der Versuchung hin, in den opulenten Passagen die Kontrolle über den Klang abzugeben, sondern behält die Zügel durchgehend in den Händen. Zeitgleich gelingt es ihm und dem Orchester, die Musik vollkommen mühelos und zwanglos darzustellen, die Spielfreude hörbar zu machen. Die BBC Philharmonic sind souverän aufeinander eingestimmt und präsentieren einen ausgewogenen, durchhörbaren Sound, welcher der jazzbeeinflussten Musik ebenso gerecht wird wie der etwas abstrakteren in der sechsten Symphonie.

[Oliver Fraenzke, März 2019]

Die verspielte Seite des Bad Boy

Capriccio, C5309; EAN: 8 45221 05309 7

Musik von George Antheil ist auf vorliegender CD mit der Deutschen Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz unter Karl-Heinz Steffens zu hören. Neben der Erstfassung von A Jazz Symphony (1925) und dem Ersten Klavierkonzert, jeweils mit dem Solisten Frank Dupree, erklingt die Orchestersuite zu Capital of The World und Archipelago „Rhumba“.

George Antheil wusste, wie man sich selbst darstellen kann: Mit schockierenden Klavierauftritten, bei welchen nicht selten ein Revolver auf dem Klavier lag, mit eigenwilligen Ensemblebesetzungen, die auch mal 16 selbstspielende Klaviere und Flugzeugsirenen vorsehen, und mit verbaler Propaganda, welche ihn sich selbst in seiner Autobiographie als „Bad Boy of Music“ präsentieren ließ.

Neben einer Handvoll solch ohrenbetäubender Werke wie dem berühmten Ballet mécanique oder der Airplane Sonata schrieb Antheil allerdings auch eine überraschend große Menge Musik, die sein selbstgeschaffenes Image so überhaupt nicht bestätigen will. Vor allem der Jazz, welcher damals mehr als heute als reine Populärmusik galt, reizte ihn, so dass er ihn immer wieder in seine Musik einband, subtil wie in späteren Jahren in seiner Fünften Symphonie (Joyous) oder offenkundig wie in der „A Jazz Symphony“ oder in der auf gleichem Material beruhenden „Jazz Sonata“. Aber auch die Operette und der Wiener Walzer zogen Antheil an, in Wien wollte er neben Alban Berg unbedingt die Bekanntschaft von Franz Lehár und Emmerich Kálmán machen – was auch in seine Musik einging!

Beide dieser unorthodoxen Einflüsse der – im damaligen Denken – „leichten Muse“ schlagen sich in der Erstfassung der Jazz Symphony von 1925 nieder. Das Paul Whiteman (Dirigent der Uraufführung von Gershwins Rhapsody in Blue) gewidmete und im Übrigen ausdrücklich nicht in die Nummerierung der großen Symphonien aufgenommene einsätzige Orchesterwerk kombiniert futuristische Techniken wie Clusters mit möglichst originalgetreu nachzustellenden Jazzeffekten – über dem Trompetensolo steht gar geschrieben: „Use all the tricks of the trade“, und im Vorwort zur Zweitfassung von 1955 hob der Komponist hervor, dass die Uraufführung von einem „all-negro orchestra assembled by Handy“ (William C. Handy, 1873-1958, Komponist, Trompeter und Bandleader, der oft als „Vater des Blues“ bezeichnet wurde) gespielt wurde. Die Orchestration weist ebenfalls „native american“-Züge auf, zwei Banjos und eine Steamboat Whistle werden zum Einsatz gebracht. Zugleich ist die Symphonie ein Rundumschlag gegen andere dem Jazz nahestehende Werke wie Milhauds La création du monde, Gershwins Rhapsody in Blue oder Joplins Entertainer, die alle aufgegriffen – wenngleich nie wörtlich zitiert – und pfiffig persifliert werden. Als Finale erklingt ein Walzer, der beinahe von Lehár herrühren könnte, endete er und damit das ganze Werk nicht in einem übermäßigen Dreiklang, was den Hörer etwas verdutzt zurücklässt.

Angedeutete Zitate, die offensichtlich scheinen und doch nicht wörtlich erklingen, finden sich ebenfalls im Klavierkonzert von 1922, das anmutet, als würde es unter dem Einfluss Strawinskys stehen. Tatsächlich machte Antheil kurz zuvor Bekanntschaft mit dem Russen, und so erklären sich Anlehnungen an Le sacre du printemps und noch mehr an Petruschka, was ja ursprünglich ein Klavierkonzert hätte werden sollen und den Orchesterpianisten vor horrende solistische Anforderungen stellt.

Russische Idole sind auch in der Suite aus dem Ballett Capital of the World erkennbar, die Klangwelt von Prokofieff ist nicht fern, und der letzte Satz, Knife Dance and Farruca, erinnert nicht nur durch den Titel an Chatschaturjans Säbeltanz. Noch mehr als bei den vorherigen Werken sticht der Kontrast zwischen Bad Boy und Komponist leichter Musik ins Auge, Antheil komponierte tatsächlich neben dem Ballett auch ca. dreißig Filmmusiken. Etwas Exotisches schwingt in dieser Musik – gerade auch im abschließenden Archipelago „Rhumba“ – mit: farbenfroh, beschwingt, parlierend. Antheil war eben nicht nur der Schock-Pianist und Komponist einer Hand voll wilder Ausnahmewerke, sondern auch begabter Schöpfer unbeschwerter, exotischer und farbenprächtiger Musik für leichteren Hörgenuss.

Sichtlich Spaß haben die Musiker der Deutschen Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz unter Karl-Heinz Steffens. Das Orchester trägt nicht zu dick auf in all den üppigen Passagen, bleibt transparent und luminös, und lässt sich dabei nicht die dankbaren Effekte entgehen, die Antheil in seinen Partituren offeriert. Zumal die Tiefen sind präsent und schmettern bei Bedarf voluminös hervor. Unerwartete Umschwünge kommen so unvermittelt zum Zug, dass der Hörer geradezu ins Stocken gerät, und allgemein erhält die Musik ihre unverbrauchte Frische.

Feinfühlig im Anschlag und subtil in der Klangwahrnehmung ist der junge Pianist Frank Dupree als Solist in A Jazz Symphony (gut abgestimmt mit den anderen zwei Pianisten Adrian Brendel und Uram Kim) sowie im Klavierkonzert. Er kennt seine Funktion im Orchester und kann sich auch bei Bedarf zurückhalten, selbst zur Begleitung werden oder gleichberechtigt in ein Wechselspiel einstimmen. Flächig Komponiertes lädt er nicht expressiv auf, was der Musik allerdings auch entgegenkommt, und gestaltet dafür umso individueller in den sanfteren Passagen. Er realisiert den klaren Kontrast zwischen den harten non-legato-Stellen und den unentschieden zärtlichen Ruhepunkten.

Den rundum informativen und auf mir bislang nicht bewusste Aspekte hinweisenden Booklettext verfasste der Wiener Musikforscher Christian Heindl.

[Oliver Fraenzke, August 2017]