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Écoles de Paris — Paris pour École

EDA Records, EDA 048; EAN: 8 403087 10048

Das Album Écoles de Paris – Paris pour École vereint Werke vierer Komponisten, die wesentlich vom Paris der 1920er Jahre geprägt worden sind: George Antheil, Jacques Ibert, Simon Laks und Marcel Mihalovici. Es spielen Mitglieder des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin unter Leitung von Johannes Zurl. Als Solisten sind Adele Bitter (Violoncello) und Holger Groschopp (Klavier) zu hören.

Frank Harders-Wuthenow wirkt seit Jahrzehnten nicht nur im Musikverlagsgeschäft, sondern ist auch einer der beschlagensten und kenntnisreichsten Musikforscher weltweit. Hauptfeld seiner Erkundungen ist gleichermaßen die verfemte wie überhaupt die unterschätzte und vernachlässigte Musik des 20. Jahrhunderts, wo er ein sehr gutes Gespür hat, wie die Spreu vom Weizen zu trennen ist. Außerdem hat er eine ausgesprochene Gabe für die dramatisch schlüssige Zusammenstellung von Programmen, und schon alleine von daher gehört er zu denjenigen, wie weniger Wert auf enzyklopädische Vollständigkeit und Übersichtlichkeit legen als auf eine künstlerisch anregende Gesamtgestaltung. Also ist es keine Überraschung, wenn eine CD mit erlesenstem gemischten Programm der klassischen Moderne auf seinem Label EDA Records erscheint – die übrigens mit tollen Überraschungen aufwartet.

Gleich vorweg: das Album weist einen hervorragend einstimmenden und informierenden, recht umfangreichen Begleittext aus der Feder des Produzenten auf. Es handelt sich allesamt um Komponisten, die im Paris der 1920er Jahre heranreiften und es mitgeprägt haben. Natürlich könnten – gerade auch von den vielen Migranten – auch ganz andere dabei sein, wie Alexandre Tansman, Tibor Harsányi, Gösta Nystroem, Arthur Lourié, Bohuslav Martinu, Conrad Beck, Filip Lazar, Knudåge Riisager oder Uuno Klami, um nur einige wenige zu nennen. Aus dieser immensen Vielfalt sind drei Meister herausgegriffen, mit deren Werk die Welt nur sehr randständig bis überhaupt nicht vertraut ist, die in Kombination mit einem französischen Meister vorgestellt werden.

Den Anfang macht der einzige Franzose, Jacques Ibert – am besten durch seine Konzerte für Flöte und für Saxophon sowie durch seine Bläsermusik bekannt –, mit seinem so kurzweiligen wie knapp geformten dreisätzigen Konzert für Cello und Bläserdezett (doppeltes Holz sowie je ein Horn und eine Trompete) von 1925. Die Musik sprüht von trocken artikuliertem Witz, weist eine größere Nähe zu Strawinsky aus als spätere Werke Iberts und auch jene beinahe trivialen, zum Mitpfeifen einladenden Motive, wie wir sie beispielsweise aus seinen köstlichen Trois pièces brèves für Bläserquintett kennen. Alles funkelt, alles blitzt, und Solistin Adele Bitter gewinnt aus der heiklen Aufgabe, mit dem dominant kompakten Klang des Bläserensembles zu konzertieren, ein veritables Fest des unvorhersehbaren Dialogs. Natürlich ist das ‚Neoklassizismus‘, mit einer einleitenden Pastorale und einer finalen Gigue, die eine skurrile ‚Romance‘, die sich so gar nicht schwelgerisch gibt, umrahmen. Diese Romance gleicht einer unnahbar flunkernden Dame, mindestens mit Sonnenbrille, aber so was Anzügliches darf ich heute vielleicht nicht sagen.

Darauf folgt das Hauptwerk, die horrend herausfordernde Étude en deux parties für konzertantes Klavier, Bläser, Celesta und Schlagzeug von 1951. Mihalovici, rumänischer Jude und Pariser Weltbürger, engster Vertrauter George Enescus und vielleicht sein bedeutendster Nachfolger (ihm hat Enescu die Vollendung seiner späten Symphonie de Chambre, jenes grandios einsätzigen Meisterwerks, anvertraut), geht in seiner gereiften Tonsprache selbstverständlich davon aus, dass die Musiker in der Lage sein müssen, eine hohe Komplexität zu entschlüsseln und zu bewältigen. Es folgt hier auf einen langsamen Satz von mysteriös vorbereitendem Charakter in durchbrochener Faktur ein zügiger Satz mit jazzigen und rumänischen Anteilen, die auf sehr organische und unaufdringliche Weise ins anspruchsvolle Gewebe eingewoben sind. Dies ist absolut keine gefällige Musik, man muss die ständig kräftige Dissonanz-Würzung schon mögen, um Zugang zu finden, wird aber dann sehr reich belohnt. Die Energie wird lange unterschwellig gehalten, bevor sie sich gegen Ende exaltierter manifestieren darf. Zwar ist die Instrumentation sehr abwechslungsreich, wobei Mihalovici es liebt, die Klanggruppen einander opponieren zu lassen, doch ist er vor allem ein symphonischer Architekt, der alles von Anfang an auf den Schluss hin berechnet. Und ein bisschen Mysterium darf ja auch dann noch bleiben.

George Antheil hat mich mit seinem humorvoll draufgängerischen Concerto for Chamber Orchestra (für Bläseroktett, wie Strawinsky) in einem Satz von 1932 überrascht. Nicht das Freche, Frische, Grelle, Schlagkräftige, das ist ja für seine frühe Musik selbstverständlich; sondern die gelassene Souveränität seiner Provokation! Es ist äußerst präzise und treffsicher geschrieben und verdankt natürlich unendlich viel dem neusachlichen Strawinsky. Und zugleich ist es eben ein amerikanischer Strawinsky, so amerikanisch, wie selbst der Großmeister der Chamäleon-Possen es nie sein sollte. Diese Musik ist unmittelbar verständlich und hat das Zeug, mit poppiger Direktheit die Zuhörer zu gewinnen.

Auch das abschließende dreisätzige Concerto da camera für Klavier, Bläser und Schlagzeug von 1963, geschrieben vom polnischen Juden und KZ-Überlebenden Simon (Szymon) Laks, ist leicht zugänglich, und überdies von einer idyllischen Fröhlichkeit (also mehr naturhaft als die großstädtische Musik Antheils) mit einem ganz wunderbar den Problemen und Forderungen der Welt entrückten langsamen Mittelsatz. Das ist musikantische Musik im besten Sinne, für den Klaviersolisten sehr dankbar, gerade auch in der an Bach’sche Inventionen gemahnenden Kontrapunktik (Finale!) – ein zeitloses Werk, das genau so auch hätte dreißig Jahre früher oder sechzig Jahre später (=heute) entstehen können. Diesem Schaffen liegt eine autonome Haltung zugrunde, die die Parteifragen der Gegenwart (fortschrittlich oder rückständig und dergleichen) vollkommen transzendiert hat. Es war Laks offensichtlich gleichgültig, wie die Fachwelt urteilte, und er hatte Schlimmeres überlebt als deren Ignoranz – und stimmte, als unmittelbar Betroffener, offenkundig nicht Adorno zu, der ja proklamiert hat, nach Auschwitz könne man kein Gedicht (bei Laks: Lied) mehr schreiben. („… nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frisst auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben…“ – viele haben aus diesem dystopischen Giftbecher getrunken.) Denn Laks lebte mehr im Jetzt – und in sich – als all jene, die bis heute Vergeltung, Wiedergutmachung oder Verweigerung fordern. Die Aufführungen dieser insbesondere hinsichtlich Balance und Rhythmus sehr heiklen Werke sind durchgehend von überdurchschnittlich seriöser Qualität, und herausragend ist das Klavierspiel Holger Groschopps, der sich gleichzeitig als feiner Kammermusiker und echter Virtuose vorstellt – also ganz so, wie es die somnambul verschattete, katakombisch klaustrophobische Faktur Mihalovicis unbedingt einfordert und auch der Indian-Summer-Ausgelassenheit des abgeklärten Laks entspricht.

In seiner feinziselierten Buntheit kann dieses vortrefflich zusammengestellte Album nur empfohlen werden. Strawinskys Bläser-Oktett übrigens ist nicht enthalten, wie das Cover suggerieren mag, sondern nur online zu hören – was aber keine Rolle spielt, denn dieses Werk ist ja schon viel öfter aufgenommen worden als alle vier anderen Werke dieses Programms zusammen.

[Christoph Schlüren, Februar 2024]

Musik für Solocello auf Reisen zwischen den Welten

eda records, EDA 47, EAN: 8 40387 10047 0

Die Cellistin Adele Bitter, Mitglied des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin, präsentiert fünf Solowerke für Violoncello aus den Jahren von 1949 bis 1982. Der Titel „crossroads“ reflektiert dabei Herkunft und Lebenswege der Komponisten Sándor Veress, Ursula Mamlok, Marcel Mihalovici, Ahmed Adnan Saygun und Alberto Ginastera.

Wenn Literatur für Solocello bis heute vielleicht ein wenig das Flair des Exotischen umweht, dann sicherlich nicht zuletzt deshalb, weil es nach einer Reihe von Werken zu Zeiten des Barock (mit Bachs Suiten als zeitlosem Gipfelpunkt) fast zwei Jahrhunderte dauerte, bis das Interesse an dieser Besetzung wieder einsetzte, sieht man einmal von einzelnen Werken komponierender Cellisten wie Alfredo Piatti ab. (Das Cello bildet hier natürlich insofern keine Ausnahme, als dass Musik für unbegleitete Melodieinstrumente aus der Zeit zwischen 1750 bis 1900 generell Seltenheitswert besitzt.) Angefangen mit Werken wie Regers und Courvoisiers Suiten oder Toveys und Kodálys Solosonaten hat Musik für Cello allein im 20. Jahrhundert jedoch einen enormen Aufschwung erlebt, der bis zum heutigen Tag anhält, und so besteht in der Summe wahrlich kein Mangel an Repertoire. Sicherlich ist es dabei nötig, auch etwas abseits der hinlänglich bekannten Namen zu graben, aber wenn man dazu bereit ist (und dabei Dutzende von ausgesprochen fähigen Komponisten mit oft genug bemerkenswert persönlicher Tonsprache findet!), dann kann man eigentlich beinahe aus dem Vollen schöpfen.

In dieser Hinsicht ist die neue CD der Cellistin Adele Bitter ausgesprochen verdienstvoll, denn hier werden gleich fünf solcher Werke für Solocello von fünf verschiedenen Komponisten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts präsentiert. All diesen Komponisten ist dabei gemein, dass sie einen Teil ihres Lebens außerhalb ihres Heimatlands verbrachten. Der Ungar Sándor Veress etwa lebte von 1949 bis zu seinem Tode im Schweizer Exil, wo auch der Argentinier Alberto Ginastera die letzten rund zehn Jahre seines Lebens verbrachte. Marcel Mihalovici, gebürtiger Rumäne, ließ sich zunächst zu Studienzwecken in Paris nieder, der Stadt, die dabei zu seiner Wahlheimat wurde, unterbrochen lediglich von einem fünfjährigen Exil in Cannes während der deutschen Besatzung (Mihalovici war jüdischen Glaubens). Die Berlinerin Ursula Mamlok wiederum flüchtete 1939 ebenfalls vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Judenverfolgung nach Amerika und verbrachte den Großteil ihres Lebens in den USA, bevor sie für ihre letzten zehn Lebensjahre doch wieder nach Berlin zurückkehrte. Nur im Falle des Türken Ahmed Adnan Saygun kann man nicht von Emigration sprechen: seine per staatlichem Stipendium ermöglichten Studien in Paris stehen in Zusammenhang mit den ehrgeizigen (und erfolgreichen) Programmen zur Etablierung eines Kulturlebens westlicher Prägung in der jungen türkischen Republik in den 1920er Jahren. Bewegte Lebensgeschichten also, wesentlich geprägt von den politischen Umständen des 20. Jahrhunderts, und dies ist es auch, worauf der Titel der CD, „crossroads“ also, anspielt.

Natürlich sind Bachs Solosuiten der Klassiker des cellistischen Solorepertoires schlechthin, und auf der vorliegenden CD ist es die 1949 entstandene Solosonate op. 60 von Marcel Mihalovici (1898–1985), die sich am deutlichsten auf dieses Vorbild bezieht. Mihalovici, Schüler von d’Indy und Le Flem sowie Ehemann der Pianistin Monique Haas, greift Melos und Rhetorik der Bach’schen Suiten ganz bewusst auf, gestaltet seine Sonate wenigstens teilweise durchaus suitenhaft (fünf Sätze zu je drei bis fünf Minuten) und lehnt sich auch in der tonalen Homogenität an Bach an (alle Sätze enden in c-moll). Selbstverständlich geht es Mihalovici aber nicht darum, Bach lediglich zu kopieren, und so kontextualisiert er die barocke Rhetorik neu, schön zu beobachten etwa im langsamen vierten Satz, der den Charakter Bach’scher Sarabanden mit einer Melodik kombiniert, der etwas von einem volkstümlichen Klagelied innewohnt. Auch die tonale Struktur ist bei näherem Hinsehen differenzierter: ist der erste Satz noch ganz in c-moll gehalten, so gehen die späteren Sätze zunächst von anderen tonalen Zentren aus und beschreiben Bögen, die am Ende dann doch wieder zur faktischen Grundtonart der Sonate zurückführen. Ein sehr schönes und interessantes Werk, das hier offenbar sogar erstmals aufgenommen wurde.

Ebenfalls suitenhaft angelegt ist die Partita op. 31 des großen türkischen Komponisten Ahmed Adnan Saygun (1907–1991), 1955 entstanden und dem Andenken Friedrich Schillers gewidmet. Saygun, eines der prominentesten Mitglieder der Türkischen Fünf, jener Gruppe etwa gleichaltriger Tonkünstler also, die als die ersten professionellen türkischen Komponisten gelten dürfen, bezieht sich in seiner Partita nicht direkt auf Bachs Idiom; Bach steht hier vielmehr Pate für die Umwandlung von (in diesem Falle eben türkischer) Tanzmusik in Soloformen. Florian Schuck weist im Beiheft zurecht darauf hin, dass der vierte Satz sicherlich der „westlichste“ des Werks ist, eine Art Siciliano im phrygischen Modus. Hier darf man sicherlich eine Parallele zum dritten Satz seiner nur wenige Jahre zuvor entstandenen Ersten Sinfonie ziehen, der in ganz ähnlicher Weise Menuett und türkische Folklore miteinander kombiniert. Am Rande sei angemerkt, dass Saygun auch ein ganz wundervolles Cellokonzert komponiert hat, ein lyrisch-melancholisches Spätwerk aus dem Jahre 1987.

Die anderen drei Werke auf der CD bedienen sich der Zwölftontechnik, die allerdings teils sehr frei gehandhabt wird, so etwa in der 1967 entstandenen Solosonate von Sándor Veress (1907–1992), einem intensiven, ausdrucksstarken Werk in drei Sätzen. Veress, Student von Bartók und Kodály, fand im Schweizer Exil zu einer eigenen Lesart der Dodekaphonie, die insbesondere auch Einflüssen ungarischer Folklore gegenüber offen ist und so trotz moderneren Vokabulars sehr wohl in Kontinuität zu seinen frühen Werken steht. Interessanterweise kann man bei seiner Solosonate stellenweise an die Solosonate seines eigenen Schülers György Ligeti denken (beide Werke beginnen überdies mit einem Dialogo). Ob Veress dieses Werk, dessen Rezeptionsgeschichte eigentlich erst 1979 wirklich begann, gekannt hat, erscheint aber eher fraglich, aber sowohl der frühe Ligeti als auch der reife Veress beziehen sich natürlich insbesondere auch auf Bartók und Kodály.

Wie Veress kombiniert auch der Argentinier Alberto Ginastera (1916–1983) zwölftönige Verfahren mit Folklore, im Falle seiner für Rostropowitsch komponierten Puneña Nr. 2 op. 45 (1976) besonders der präkolumbianischen Zeit (was natürlich zumindest teilweise hypothetisch zu verstehen ist: hier geht es nicht um Rekonstruktion, sondern eher um Imagination, Beschwörung). Das Resultat ist ein phänomenal farbenreiches Diptychon aus Liebeslied und wildem Tanz, in welchem das Cello unter anderem die Klänge von Flöten, Trommeln, aber auch Gitarren suggeriert. Ohne Folklorebezüge, aber wiederum mit einer eigenen Variante von Dodekaphonie kommen schließlich Ursula Mamloks (1923–2016) konzise Fantasy Variations aus dem Jahre 1982 daher, konzentrierte, facettenreiche, manchmal allerdings vielleicht ein wenig spröde Musik.

Natürlich ist bei einer solchen Zusammenstellung allein schon Adele Bitters Pioniergeist hervorzuheben, aber auch an ihren Darbietungen selbst gibt es vieles zu loben. Ihr Ton ist insgesamt kraftvoll und agil, und zahlreiche Details werden sorgfältig herausgearbeitet. Bitters Interpretation von Mihalovicis Sonate ist wie erwähnt offenbar konkurrenzlos und besticht insbesondere durch ihre an der Beschäftigung mit barocker Musik geschulte Gestaltung von Phrasen, eine „sprechende“ Darbietung. Sayguns Partita hat erst jüngst verstärkt Aufmerksamkeit gefunden; im Vergleich etwa zu Sinan Dizmens solider Lesart bietet Bitter die deutlich variablere, dramatisch akzentuiertere, in den Details z. B. der Artikulation feiner gearbeitete und dadurch charaktervollere Einspielung (exemplarisch z. B. am vierten Satz nachzuvollziehen). Sayguns Musik ist kontrastreich, oft von unerwarteten Wendungen geprägt (man vergleiche etwa den plötzlichen Wechsel nach Des ganz am Endes des zweiten Satzes), was sich in späten Werken wie der Fünften Sinfonie noch verstärkt, reich an Farben, die aber in der Regel eher dem dunkleren Spektrum angehören, immer auch etwas zurückgenommen-hintergründig, und diese Typika fängt Bitter insgesamt sehr gut ein.

Veress’ Sonate ist u. a. von Miklós Perényi (Hungaroton) eingespielt worden. Unterschiede (durchaus reizvoller Natur, denn die Sonate erlaubt verschiedene Lesarten) ergeben sich dabei bereits durch den Ton beider Cellisten: Perényi ist für sein feines, nuancenreiches Spiel bekannt, Bitter ist im Vergleich zupackender, unmittelbarer. Wo Perényis Interpretation allerdings ihre Vorzüge hat, ist in der Gestaltung größerer Zusammenhänge, etwa der wiegenden Figuren im Mittelteil des ersten Satzes, die er konsequenter in den Gesamtzusammenhang integriert, besonders aber im Finale, das er im Wesentlichen als Perpetuum mobile realisiert, während der Satz in Bitters Interpretation manchmal etwas zu episodisch wirkt. Ginasteras Puneña hat u. a. auch Maximilian Hornung auf CD herausgebracht; seine Interpretation wirkt erst einmal brillanter, virtuoser als Bitters, die aber wiederum in der expressiven Ausgestaltung etwa der Gesangslinien des ersten Satzes sehr wohl ihre Meriten hat. Ein ähnliches Bild ergibt sich im zweiten Satz, der bei Bitter eine fast rituelle Dimension erhält, etwas zu beiläufig dann allerdings der Schluss.

Ein besonderes Lob gebührt Florian Schucks ausführlichem, mit gründlich recherchierten Hintergrundinformationen aufwartendem, Details und Charakteristika der Musik auch jenseits des Offensichtlichen exzellent erläuterndem Begleittext. Auch Adele Bitter selbst hat ein persönlich gefärbtes, ansprechendes Geleitwort beigesteuert. Insgesamt fällt an der Präsentation der CD die Priorität, die hier der Musik selbst, den Komponisten und ihren Werken eingeräumt wird, sehr angenehm auf. Das Label eda records wird manchem Musikliebhaber übrigens noch unter seinem alten Namen Edition Abseits ein Begriff sein.

Jedem, der sich für Musik für Solocello aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts interessiert, sei dieses Album unbedingt empfohlen.

[Holger Sambale, Juli 2022]

Rumänisch, französisch, rhapsodisch, streng

Toccata Classics, TOCC 0376; EAN: 5 060113 443762

Für Toccata Classics hat Matthew Rubenstein eine repräsentative Auswahl der Klavierwerke Marcel Mihalovicis aufgenommen.

Der gebürtige Rumäne Marcel Mihalovici war rund sechs Jahrzehnte lang eine der herausragenden Persönlichkeiten im Musikleben seiner Wahlheimat Frankreich. 1898 in Bukarest geboren, hatte er 21-jährig den Ratschlag seines 17 Jahre älteren Landsmannes George Enescu befolgt und sich in Paris niedergelassen, wo er bis 1925 an der Schola Cantorum Komposition bei Vincent d’Indy, Harmonielehre bei Léon-Edgar Saint-Réquier und Paul Le Flem, Gregorianik bei Amédée Gastoué und Violine bei Nestor Lejeune studierte. In Künstlerkreisen gut vernetzt, fand er nach dem Ende seines Studiums Anschluss an den Verleger Michel Dillard, der sich auf die Verbreitung von Werken in Paris lebender ausländischer Komponisten spezialisiert hatte. Die um Dillard versammelten Komponisten, neben Mihalovici u. a. der Tscheche Bohuslav Martinů, der Schweizer Conrad Beck, der Ungar Tibor Harsányi und der Pole Alexander Tansman, sind unter dem Namen „École de Paris“ in die französische Musikgeschichte eingegangen; die Erforschung dieser „Schule“ dürfte ein ergiebiges Thema für Musikhistoriker sein. In den Zenit seiner Bekanntheit gelangte Mihalovici nach dem Zweiten Weltkrieg. Zum einen wurde er im Rundfunk viel gespielt, zum andern fand er, außerhalb Frankreichs bis dahin wenig bekannt, durch seine Bekanntschaft mit Dirigenten wie Hans Rosbaud, Paul Sacher, Erich Schmid, Ferdinand Leitner und Heinz Zeebe, sowie dem Intendanten des SWR Heinrich Strobel Anschluss an das Musikleben Deutschlands und der Schweiz. Regelmäßig standen nun, in Frankreich wie in den deutschsprachigen Ländern, seine Kompositionen auf Programmen von Festen zeitgenössischer Musik. Die Bestrebungen der deutschen und französischen Nachkriegsavantgardisten blieben ihm allerdings fremd. Hochgeehrt starb Mihalovici 1985 in Paris.

Von den genannten Komponisten der „École de Paris“ hat bislang nur Martinů eine seiner Begabung angemessene diskographische Repräsentation erfahren. Auch das Schaffen Mihalovicis ist, trotz zahlreichen Rundfunkaufnahmen zu Lebzeiten, auf Tonträgern bislang nur spärlich vertreten. An vorderster Stelle muss hier der großen Pianistin Monique Haas gedacht werden, der Ehefrau des Komponisten, die mehrere seiner Werke auf LP festgehalten hat (so für Deutsche Grammophon die Ricercari op. 46 und, prachtvoll im Duo mit Max Rostal, die Violinsonate Nr. 2 op. 45, beides mittlerweile auf CD überspielt). Auch fand immer wieder einmal eines seiner Kammermusik- oder Klavierstücke in einer Anthologie Platz. Auf eine erste CD-Einspielung wartet allerdings noch sehr viel, denn Mihalovici hinterließ ein Werkverzeichnis, dessen über 100 Opuszahlen nahezu sämtliche Gattungen umfassen: Fünf Symphonien, eine große Zahl weiterer Kompositionen für große oder kleine Orchesterbesetzungen, Kantaten, Opern, Ballette, Kammermusik (darunter vier Streichquartette), sowie Werke für Klavier solo.

Für die letztgenannten hat sich nun der in Berlin lebende amerikanische Pianist Matthew Rubenstein eingesetzt und das erste Klavieralbum aufgenommen, das gänzlich Marcel Mihalovici gewidmet ist. Die CD enthält mit den Ricercari op. 46, der Sonate op. 62 und der Passacaglia für die linke Hand op. 105 die drei gewichtigsten Beiträge des Komponisten zur Klavierliteratur. Sie werden ergänzt durch eine Auswahl seiner kürzeren Stücke: Die Sonatine op. 11, Quatre Caprices op. 29 und Quatre Pastorales op. 62. Ein Blick auf die Opuszahlen verrät, dass sich die Werke dieses Programms ziemlich gleichmäßig über Mihalovicis gesamte Schaffenszeit verteilen: Zwischen der Sonatine und der Passacaglia liegt mehr als ein halbes Jahrhundert. Wir haben mit der CD also auch die geraffte Darstellung eines Künstlerlebens vor uns.

Insgesamt 66 seiner 87 Lebensjahre verbrachte Mihalovici in Frankreich. Seine rumänische Identität hat er dabei nie verleugnet, auch kehrte er bis zum Zweiten Weltkrieg regelmäßig in den Sommermonaten nach Rumänien zurück. Seinem künstlerischen Schaffen lässt sich anhören, dass es als Frucht eines beständigen Wanderns zwischen beiden Kulturen entstand. Die Stilmittel der französischen Impressionisten – ihre aparten, unaufgelösten Dissonanzen, ihre entfunktionalisierte, in klangfarbliche Phänomene hinüberspielende Harmonik, ihre Vorliebe für modale und pentatonische Melodien – berühren sich in vielerlei Hinsicht mit denjenigen südosteuropäischer Volksmusik. Mihalovici setzt gewissermaßen an diesen Schnittstellen an und kultiviert einen Personalstil, in dem östliche und französische Einflüsse zu einer unauflöslichen Synthese verschmelzen. In nuce verdeutlicht dies die erste Caprice aus op. 29: Die Verzierungen der Melodie scheinen rurale Balkanlandschaften zu evozieren, der Walzerrhythmus dagegen die Atmosphäre eines Pariser Salons zu beschwören – und die Harmonien, sind sie näher an Ravel und Milhaud oder näher an Bartók und Enescu? Man höre selbst! Eine knappe Minute gibt der Komponist uns Zeit.

Die übrigen Miniaturen sind etwas, aber nicht viel länger: Die Pastorales op. 19 bewegen sich alle im Rahmen zwischen anderthalb und zwei Minuten, die Caprice op. 29/3 ist mit zweieinhalb Minuten die längste. Auch die drei Sätze der Sonatine op. 11 bleiben unterhalb der Zwei-Minuten-Marke. In allen diesen Stücken herrscht auf kleinem Raum frisches, lebendiges Treiben, in raschen wie in langsamen Tempi. Mihalovici ist gleichermaßen Rhapsode wie strenger, detailversessener Motivarbeiter. Nicht selten entpuppt sich bei ihm ein Kontrastabschnitt bei näherem Hinhören als aus vorangegangenem Material abgeleitet. Das Finale der Sonatine gestaltet er als Fuge, einschließlich Engführung, Umkehrung und, zum Schluss, Augmentation.

Die kontrapunktischen Künste finden sich in den beiden Variationswerken intensiviert. Obwohl mit 22 bzw. 17½ Minuten nicht besonders lang, kann man die Ricercari wie die Passacaglia getrost zu den monumentalen Klaviervariationen des 20. Jahrhunderts zählen. Beide Werke sind äußerst dicht gearbeitet und sehr ernsten Charakters. Im Falle der Ricercari lässt sich dies durchaus auf biographische Hintergründe zurückführen, denn sie entstanden 1941, während der schwierigsten Zeit in Mihalovicis Leben, als sich der jüdischstämmige Komponist vor den deutschen Besatzern nach Cannes geflüchtet hatte. Formal ist das Werk höchst originell, im wahrsten Sinne des Wortes sucht der Komponist stets seinem Hauptgedanken neue Seiten abzugewinnen. Es beginnt mit einer Passacaglia; dieser folgen neun Variationen, faktisch frei gestaltete kontrapunktische Miniaturen über die Motive des Passacaglia-Themas; den Schluss bildet eine sich mächtig steigernde Fuge, die zum Schluss in sich zusammenfällt. Bei der 1975 komponierten Passacaglia, dem letzten Klavierwerk des damals bereits 77-jährigen Mihalovici, handelt es sich um eine Meditation über Albrecht Dürers berühmten Kupferstich Melencolia I, dessen verschiedene Bildelemente den Komponisten zu einzelnen Variationen inspirierten. Die linke Hand hat eine Vielzahl unterschiedlicher Satztechniken wiederzugeben und wird so virtuos behandelt, dass das Fehlen der rechten kaum zu merken ist. Die Dramaturgie wirkt weniger stringent als die der Ricercari, eher scheint den Variationen die Idee eines unruhigen, konzentrischen Kreisens zugrunde zu liegen. Der Schluss beruhigt das Geschehen durch Neutralisierung aller Affekte.

Anscheinend verstärkten sich in Mihalovicis späterem Schaffen die rumänischen Charakteristika. Jedenfalls bezeichnete der Komponist selbst seine 17-minütige, dreisätzige Klaviersonate von 1964 als eines seiner „rumänischsten“ Werke. Tatsächlich begegnet hier gleich zu Beginn jener eigentümlich „heterophone“ Tonsatz, wie man ihn auch aus den späten Werken Enescus kennt. Zigeunermodi kommen ausgiebig zum Einsatz, auch Glockenimitationen (zweiter Satz) und derbe Tanzrhythmen (Finale) fehlen nicht – alles freilich präsentiert in den Formen französischer clarté. Dass auch dieses Stück voller subtiler Zusammenhänge steckt, versteht sich bei einem so formbewussten Komponisten wie Mihalovici nahezu von selbst.

Matthew Rubenstein ist den Stücken Mihalovicis ein sorgfältig ans Werk gehender Sachwalter. Er meistert alle technischen Herausforderungen und gibt den Werken durch fein abgestufte Dynamik und variantenreichen Anschlag ein scharfes klangliches Profil, das die Vielschichtigkeit der Musik deutlich werden lässt. Die Produktion wird abgerundet durch ein außerordentlich umfangreiches Beiheft, bestehend aus einer kurzen persönlichen Erinnerung des Pianisten Charles Timbrell an Marcel Mihalovici und Monique Haas, und eine ebenso ausführliche wie hilfreiche Beschreibung sämtlicher eingespielter Werke durch Lukas Näf. Für die Rezeption Mihalovicis ist diese Veröffentlichung ein großer Gewinn. Möge sie weiteren den Weg weisen!

[Norbert Florian Schuck, Dezember 2020]