Schlagwort-Archive: Abram Chasins

Nostalgische Reflexionen über die Godowsky/Hofmann-Ära: Abram Chasins Soloklavierwerk

Toccata Classics TOCC 0678 (2CD); EAN: 5 060113 446787

Der US-amerikanische Pianist und Autor Abram Chasins (1903–1987) hinterließ als Komponist zwischen 1925 und 1951 neben zwei bislang ungedruckten Klavierkonzerten auch etliche Soloklavierwerke, die auf Toccata Classics nun erstmals als Gesamtaufnahme vorliegen. Neben 24 Preludes durch alle Tonarten spielt die russisch-stämmige Pianistin Margarita Glebov meist recht witzige Zyklen kürzerer, teils selbstironischer Stücke sowie eine hinreißende Fantasie über Themen aus Jaromír Weinbergers Oper „Schwanda, der Dudelsackpfeifer“.

Abram Chasins, in New York als Sohn russischer Immigranten geboren, studierte zunächst u. a. bei Richard Epstein und an der dortigen (späteren) Juilliard School bei Ernest Hutcheson und Rubin Goldmark (Komposition). Tante und „Onkel“ – Vera und Mark Fonaroff – waren gut mit vielen berühmten Musikerpersönlichkeiten (Kreisler, Casals, Godowsky usw.) vernetzt. Ab 1926 wurde Abram dann von Josef Hofmann – dem seinerzeit wohl erfolgreichsten Pianisten überhaupt – in Philadelphia unter seine Fittiche genommen, wo er bald selbst am Curtis Institute lehrte. Dort spielte er 1929 sein erstes Klavierkonzert unter Ossip Gabrilowitsch (vor dem 1. Weltkrieg Dirigent des Münchner Konzertvereins, der heutigen Münchner Philharmoniker, danach Gründungsdirigent des Detroit Symphony Orchestra), 1933 sein zweites unter Leopold Stokowski. Seine aktive Zeit als durchaus gefragter Konzertpianist währte relativ kurz, von 1927–1947, worauf er sich seiner Familie, dem Unterrichten und vor allem der musikalischen Erziehung mittels des Rundfunks widmete – beim CBS, NBC und dem New Yorker Sender WQXR, der ab 1944 der New York Times gehörte. Im wirklich lesenswerten Buch Speaking of Pianists… (1957, 3. Aufl. 1981) beschreibt Chasins auf sprachlich köstliche Weise u. a. das Freundschaftsverhältnis zwischen Leopold Godowsky und Josef Hofmann. Außerdem verfasste er Monographien über Van Cliburn und Stokowski.

Blieben die beiden Klavierkonzerte bis heute ungedruckt, spielt die aus St. Petersburg stammende, dann in den USA ausgebildete und nun dort lebende Pianistin Margarita Glebov auf der neu erschienenen, exakt 90 Minuten dauernden Doppel-CD alle veröffentlichten Soloklavierwerke Chasins, vieles davon als Ersteinspielung. Die 24 Preludes durch alle Dur- und Molltonarten erschienen 1928 – jeweils 6 unter den Opusnummern 10–13 – und tragen Widmungen auch an mehrere Pianisten. Obwohl technisch recht anspruchsvoll, kommt der Zyklus keinesfalls an Vorbilder wie Skrjabin, Cui, geschweige denn Chopin heran. Trotzdem finden sich darunter einige recht hübsche Miniaturen: z. B. der Gershwin gewidmete „Marsch“ (Nr. 5 D-Dur), Nr. 12 H-Dur mit seinen wilden Girlanden, Nr. 13 Ges-Dur an Godowsky oder Nr. 18 f-Moll an Myra Hess. Glebov macht immerhin das Beste aus diesen etwas nostalgischen Stücken: klanglich fein artikuliert und insbesondere agogisch äußerst schlüssig.

Viel interessanter sind die meisten der übrigen Werke. Neben den tatsächlich pädagogischen Zwecken für angehende Klavierspieler dienenden sieben Stücken aus Piano Playtime (1951) begegnet der Hörer sehr vergnüglichen, selbstironisch den Klavierzirkus als solchen karikierenden Opera: The Master Class zeichnet parodistisch die Ängste vierer Probanden solcher Veranstaltungen nach; die Keyboard Karikatures op. 6 porträtieren witzig Rachmaninoff, Godowsky und Bachaus (Wilhelm Backhaus schrieb sich in den USA stets ohne „k“!). Chasins Erfolgsstücke – sie erreichten sofort hohe Auflagen – waren jedoch die Three Chinese Pieces: A Shanghai Tragedy, Flirtation in a Chinese Garden (nur für weiße Tasten) und Rush Hour in Hongkong sind effektvolle, ein wenig dramatische, in jedem Fall salonfähige Klavierstücke – für uns heute herrlich genussvolle Fettnäpfchen kultureller Aneignung: „Ich habe sie mit der ganzen Autorität eines Menschen geschrieben, der nie in der Nähe des Orients gewesen ist.“

Musikalisch am anspruchsvollsten, auch nach Chasins eigener Meinung, ist die gut achtminütige Ballade Narrative: Remembrance of Things Past (1942) – Romantik im Stile Rachmaninoffs, aber mit dann doch erkennbar eigenständigen Mitteln. Ebenso dankbar: Fairy-Tale op. 16/1, die Etude Appassionato und die Bearbeitung von Glucks Reigen seliger Geister. Als echter Virtuosenkracher mit geradezu irrwitzigen pianistischen Anforderungen erweist sich hingegen Chasins Schwanda Fantasy über die Polka-Themen aus Jaromír Weinbergers Oper Schwanda, der Dudelsackpfeifer, die 1931 auch die New Yorker MET erobert hatte. Spätestens hier kann Margarita Glebov – die schon für ihre vorherigen CD-Aufnahmen viel Lob erhielt – so richtig zeigen, was sie wirklich draufhat: Mit Sinn für formalen Aufbau, die exquisiten harmonischen Feinheiten und den dabei gleichzeitig nötigen Schwung legt sie diesen Rausschmeißer absolut mitreißend hin. Diese Bearbeitung gehört in einem Atemzug mit den wirkungsvollsten Transkriptionen Godowskys oder den berüchtigten Carmen-Variationen von Vladimir Horowitz genannt. Diesbezüglich sei hier auf Chasins noch verrücktere Carmen Fantasy für zwei Klaviere hingewiesen, die er für seine Frau Constance Keene und sich komponiert hat (s. u.).

Die 2019–2022 entstandenen Einspielungen sind aufnahmetechnisch mehr als in Ordnung; nur ist der Flügel nicht bei allen Sitzungen gleich gut gestimmt, was leider auffällt. Der 11-seitige Booklettext von Donald Manildi bietet ausführliche Informationen sorgfältig dar, allerdings nur auf Englisch. Glebovs Spiel kann jedenfalls durchgehend überzeugen, und jeder Klavierbegeisterte, der sich für die composer pianists in der Nachfolge Godowskys interessiert, sollte sich diese bisher teils ungehobenen Schätze nicht entgehen lassen.

Ergänzende Empfehlung: Chasins: Carmen Fantasy & Fledermaus Fantasy, in: Masques – Theatrical Reminiscences – Piano Duo Chipak-Kushnir (Genuin GEN 14295, 2013)

[Martin Blaumeiser, März 2023]

Aus China und nach China

Ars Produktion Schumacher, ARS 38 566; EAN: 4 260052 385661

„Chinese Dreams“ heißt die neue CD mit der Pianistin Lydia Maria Bader. Sie spielt Werke chinesischer Komponisten sowie Musik, die durch dieses Land inspiriert wurde. Wang Luobins „In that place wholly faraway“ (arr. Zhang Zhao) eröffnet die Platte, es folgt die Ballett-Suite “Die Meerjungfrau“ (arr. Wu Zuquiang) und „Sonnenblume“ aus der Feder Wang Yu Shis (arr. Lin Eryao). Nach diesen originär chinesischen Beiträgen kommen drei „Chinesische Stücke“ von Abram Chasins, „Lotus Land“ von Cyril Scott und „Alt-China, Fünf Traumdichtungen“ von Walter Niemann.  Ren Guang schrieb „Silberwolken jagen den Mond“ (arr. Wang Jianzholng), was uns wieder zurück nach China führt. Volksliedbearbeitungen von Chu Wanghua und Wang Jianzhong beschließen das Programm.

Vor zehn Jahren tourte Lydia Maria Bader erstmals nach China. Das dortige Konzertleben steckte zu dieser Zeit noch in den Kinderschuhen und in manchen Gegenden nahmen die Zuhörer lange Strecken auf sich, um die deutsche Pianistin zu hören. Auch wenn sich in den letzten zehn Jahren das Konzertleben vollständig veränderte und der Klavierabend zum festen Bestandteil des Kulturlebens etablierte, blieb der Kontakt bestehen. Lydia Maria Bader nahm nicht nur einmalige Erfahrungen von ihren Reisen mit, sondern auch zahlreiche musikalische Impressionen.

Das Klavier setzte sich erst spät in China durch, doch dann umso mehr: als Europa im 20. Jahrhundert von Diktaturen und Kriegen gebeutelt wurde, emigrierten zahllose Musiker nach Asien und errichteten eigene Hochburgen klassischer Ausbildung. So kommt es auch, dass alle Komponisten dieser CD im 20. Jahrhundert wirkten und die meisten der chinesischen Tonsetzer noch unter uns weilen.

Hier zulande kennt man kaum welche der chinesischen Kompositionen, vor Ort scheinen diese Werke sich hingegen größter Beliebtheit zu erfreuen. Man kann mit Recht sogar behaupten, sie feiern Erfolge wie Popmusik: denn in China unterscheidet man nicht wie in Europa zwischen E- und U-Musik, sondern feiert gelungene Melodien gleich welcher Ausarbeitung. Die melodische Komponente ist auch diejenige, die am deutlichsten ausgeprägt erscheint und mit „typischer“ chinesischer Pentatonik tonaler oder modaler Ausprägung sogleich ein asiatisches Flair verbreitet. Harmonisch bleibt die Musik tonal verankert; manche Wendungen erinnern an französischen Impressionismus, doch kamen eben diese Klänge umgekehrt durch die Weltausstellung von China nach Frankreich. Von den Stücken begeistern mich vor allem die „Sonnenblume“ von Wang Yu Shi und das mittlerweile als traditionell geltenden „Silberwolken jagen den Mond“ aus der Feder von Ren Guang, das ursprünglich für traditionelles Ensemble geschrieben wurde, durch seine Klavierfassung von Wang Jianzhong zum Welterfolg wurde.

Während Abram Chasins zu Lebzeiten durchaus zu den gefragten Komponisten zählte, verblasste sein Ruhm bedauerlicherweise nun gut dreißig Jahre nach seinem Tod. Die Orchestration des mittleren der „Drei Chinesischen Stücke“, „Flirtation in a Chinese Garden“, wurde durch Toscanini mit den New York Philharmonic aufgeführt, was zu einem seiner größten Erfolge wurde (höchstens überboten durch die Uraufführung des 2. Klavierkonzerts unter Leopold Stokowski). Walter Niemann – der eine Ausbildung bei Moscheles, Reinecke und Humperdinck genoss – war einer der wenigen deutschen Komponisten, die sich dem Impressionismus annäherten und auch regelmäßig exotische Sujets für seine Kompositionen nutzte. Im Vorwort von Alt-China heißt es: „Er fordert nicht: Du mußt mir glauben, denn ich bin ein Chinese, sondern er bittet: glaube mir, wenn ich, ein Deutscher, mich mit Dir einmal nach China träume.“ – was schließlich zum Motto der CD wurde. Einen ebenso starken Drang zur Exotik verspürte der australische Pianistenkomponist Cyril Scott, der vor allem durch seine legendären Grieginterpretationen bis heute beliebt ist. Er sah sich jedoch im gleichen Maße als Komponist, platzierte sich gar selbst unter den Top 10 seiner Liste der besten Komponisten aller Zeiten.

Mit klarem, perlendem und wohlklingendem Ton brilliert die Pianistin Lydia Maria Bader in diesen aus Asian kommenden sowie den dorthin verweisenden Miniaturen. Ohne sich übermäßige Freiheiten zu nehmen, schafft sie dabei ein Gefühl von Ungezwungenheit und grenzenloser Leichtigkeit, was besonders bei den rauschhaften, dem Impressionismus nahen Stücken einen steten Sog evoziert hin zu mitreißenden Expansionen. In vielen dieser dankbaren kleinen Klavierstücke schafft sie subtile Gegensätze in der vom Komponisten oft wenig differenzierten Dynamik, lässt die Musik auf diese Weise plastisch vor uns entstehen.

[Oliver Fraenzke, Mai 2020]