Zu Recht legendär? Gieseking spielt Debussy

Claude Debussy – The Piano Works; Walter Gieseking (Klavier)
Label: Warner Classics

Das, was die einstigen „Majorlabels“ wie EMI/Warner, RCA/Sony oder Deutsche Grammophon/Decca/Universal heute noch können, ist das eifrige Polieren der Schätze von gestern, respektive vorgestern. Während aktuelle Releases der zuvor genannten Labels immer belangloser und austauschbarer werden, verkaufen sich die Wiederveröffentlichungen aus dem Archiv offenbar bestens und anscheinend auch stetig und nachhaltig. Sonst würden wohl kaum immer mehr und mehr alte historische Aufnahmen in preisgünstigen bis direkt gesagt billigen Boxen von den „Majors“ serviert.
Warner Classics (der heutige Rechte-Inhaber des riesigen Katalogs der verblichenen EMI) hat nun eine ganze Reihe von sehr uneinheitlichen Aufnahmezyklen in Boxen zum fast schon unangenehm billigen Preis auf den Markt geworfen. Und so kommt man schon für um die neun oder zehn Euro neuerdings auch in den Besitz von Debussys mehr oder weniger vollständigem Klavierwerk in der legendären Gesamtaufnahme (bzw. was man damals dafür hielt) von Walter Gieseking aus den frühen bis mittleren 1950er-Jahren.

Auf 5 CDs ist der Pianist zu hören, dem man zu Lebzeiten (und auch heute noch) nachsagte, er habe wie kein Zweiter die Seele Debussys wiedergegeben, was so weit ging, dass Zeitgenossen Giesekings meinten, er sei ein so unvergleichlicher Debussy-Pianist, dass er einer pianistischen Reinkarnation des Komponisten gleichkäme. Dies ist insofern von Bedeutung, weil es zu Giesekings Lebzeiten durchaus noch Hörer gegeben haben mag, die imstande gewesen sein könnten, einen Vergleich mit dem eigenen Spiel des gut 30 Jahre älteren Komponisten Debussy anzustellen.

Wir Nachgeborenen können uns nur noch anhand von Tondokumenten orientieren: Dabei zeigen Debussys eigene „Aufnahmen“ für die Welte-Mignon-Selbstspiel-Klaviere in der Tat gewisse Parallelen zum Stil Giesekings: Eine gewissermaßen „trockenere“, weniger lyrische Herangehensweise an Debussys Kompositionen, als man das heute meistens gewohnt ist. Es ist außerdem sehr interessant zu hören, wie in diesen Interpretationen (sowohl in denen des Komponisten als auch in jenen Giesekings) doch häufig die deutsche Schule durchzuschimmern scheint, als deren eigentliche Antithese Debussy heute nicht selten gesehen wird (was man so schwarz-weiß-malerisch aber eben auch nicht sehen kann).

Witzigerweise sind Debussys eigene Lochstreifen-Aufnahmen für Welte-Mignon aus den 1910er-Jahren bis heute in makelloser Qualität reproduzier- und aufnehmbar, während Giesekings Einspielungen merklich und hörbar ihr Alter vermitteln (was vielleicht vermeidbar gewesen wäre, aber dazu kommen wir noch). Einst erschienen sie auf mehreren Labels zeitgleich: Angel Records in UK, Columbia in US und in vielen anderen Ländern, später wechselten sie einheitlich zum EMI-Label, heute bekommen wir sie von Warner Classics. Der kongeniale Plattenproduzent Walter Legge hatte Walter Gieseking, dem sein Ruf als „unvergleichlicher“ Debussy-Interpret vorauseilte, ab 1951 ins Studio gebeten, um mit ihm unvergängliche Referenzaufnahmen anzufertigen.

In gewisser Weise hat das auch geklappt: Jedenfalls sind die Gieseking-Einspielungen bis zum heutigen Tag in fast jeder „Referenz“-Liste zu finden, die sich mit Debussy auseinandersetzt. Und es hat auch wieder nicht geklappt, denn erstens setzte sich schon wenige Jahre nach den Aufnahmesessions mit Gieseking die Stereo-Technik durch, und die Mono-Einspielungen Giesekings wurden damit (in den Augen vieler Technikbegeisterter) für lange Zeit obsolet. Zweitens ist in dem beeindruckenden Debussy-Konvolut Giesekings eben auch einfach nicht alles „Referenz“, mal ganz abgesehen davon, ob man sich mit Giesekings vergleichsweise nüchternem Stil überhaupt anfreunden mag: Das fordert manchem heutzutage vielleicht etwas Eingewöhnung ab, wo wir es doch allzu oft gewohnt sind, Debussy anders, schwelgerischer, grenzgängerischer, avantgardistischer und ja, vielleicht auch kitschiger serviert zu bekommen.

Geht man objektiv an die Sache heran, fällt zunächst auf, dass Gieseking zwar ein fabelhafter Pianist mit wunderbaren Klangfarben und einem grandiosen Anschlag gewesen sein muss (die Tontechnik lässt allerdings nicht immer einwandfreie Schlüsse zu), dass es aber auch zu seiner Zeit schon bessere Techniker gegeben hat. Besonders fällt dies natürlich bei Debussys Études auf, die man definitiv anderswo nicht nur sauberer, sondern auch gehaltvoller gespielt bekommt als von Gieseking. Und so zeigt sich eigentlich der gesamte Zyklus der Aufnahmen Giesekings von uneinheitlicher Größe: Bei den Images, Estampes, Préludes und Children’s Corner in Giesekings Interpretation würde auch ich bei der Einstufung „Referenz“ nicht lange zögern, unter der Voraussetzung, dass es eine Referenz unter mehreren möglichen ist. Die Suite bergamasque, einige der einzelnen Solostücke, Pour le Piano und vor allem die 12 Études muss man meiner Meinung aber nicht unbedingt von Gieseking haben. Da gibt es genügend modernere Alternativen, die mindestens gleichwertig, wenn nicht überlegen sind. Ich finde vor allem Giesekings Pedalarbeit manchmal geradezu schludrig, was dann doch überrascht.

Kommen wir abschließend zum Ärgerlichsten an dieser Box: Dem Klang. Dieser mag bereits ab Original limitiert gewesen sein, aber die vielgelobten Restaurateure der Abbey Road-Studios haben sich hier auch nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Die hier angewandte „Methode Holzhammer“, bei der einfach die Höhen rausgedreht werden, um wahlweise Bandrauschen oder Plattenknacksen zu eliminieren, war auch 2011, als dieses „Remastering“ entstand, eigentlich ein „No Go“. Wie fantastisch selbst deutlich frühere Mono-Aufnahmen bis in die 1930er-Jahre hinein klingen können, wenn man sich mit einem gewissen „Grundrauschen“ zufrieden gibt (was meistens wesentlich besser ist, als zu versuchen, jegliche Nebengeräusche, vor allem statische Nebengeräusche wie Bandrauschen oder Plattenknacksen, ganz auszuschalten), zeigen Archivveröffentlichungen anderer Labels oder auf die Restaurierung historischer Aufnahmen spezialisierter Firmen. Hier hätte definitiv mehr herausgeholt werden können und müssen: Der flache, dumpfe Klang dieser Box ist meiner Vermutung zufolge wohl eher eine Verschlechterung gegenüber den originalen LPs, was einen auch zum Preis von neun Euro einfach ärgert.

Fazit: Zweifellos interessante Aufnahmen von hohem Wert, die aber qualitativ durchaus Untiefen aufweisen, kommen hier zum Billigstpreis und in einem eher drittklassigen Remastering ins Haus. Ob man das braucht oder doch lieber zu moderneren Alternativen greift (selbst, wenn auf diesen dann nicht der Name Gieseking prangt), ist auf jeden Fall eine kritische Überlegung wert.

[Grete Catus, Januar 2018]

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