Schlagwort-Archive: Stephan Heuberger

Mark Andre: Drei exemplarische Uraufführungen der musica viva auf CD

BR Klassik 900637; EAN: 4 035719 006377

BR Klassik hat in der Reihe musica viva drei Uraufführungen von Werken des Deutsch-Franzosen Mark Andre aus den Jahren 2017 und 2018 mitgeschnitten. iv 13 (Miniaturen für Streichquartett), iv 15 (Himmelfahrt) für Orgel und woher…wohin für Orchester. Es spielen das Arditti String Quartet, Stephan Heuberger (Orgel) sowie das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung von Matthias Pintscher.

Die Musik des zunächst in Paris ausgebildeten, heute in Berlin lebenden Deutsch-Franzosen Mark Andre (Jahrgang 1964) hat in den letzten beiden Jahrzehnten zu einer ganz persönlichen und mittlerweile unverwechselbaren Klangsprache gefunden: Nur unter technischen Aspekten spürt man noch Einflüsse seiner Lehrer Claude Ballif und des Spektralisten Gérard Grisey. Stärker scheinen noch Eigenheiten durch, die Andre in den 1990ern bei Helmut Lachenmann perfektionieren durfte: höchste klangliche Differenzierung bei gleichzeitiger Reduktion bis an die Grenzen des Hörbaren sowie eine gewisse Vorliebe für starke Kontraste. Jedoch wurde Mark Andre – entgegen erster Befürchtungen des Rezensenten – keineswegs zum Epigonen von Lachenmanns Verweigerungsästhetik, die dort immer mit erheblichem Provokationspotential einherging. Andre zwingt sein Publikum zwar zu enormer Konzentration, öffnet aber gleichzeitig immer eine Tür zu metaphysischen und religiösen Sphären – auf beeindruckend zwingende Weise. Die drei auf der 37. Folge der „musica viva“ CD-Edition des BR vorgestellten Uraufführungen für ganz unterschiedliche Besetzungen belegen exemplarisch, wie stark Mark Andres Musik nun gereift ist.

Zwei der Stücke gehören zur mittlerweile 19teiligen Werkreihe »iv«, wobei das Kürzel für »introvertiert« steht. Die zwölf – sicher nicht zufällig wieder eine „heilige“ Zahl – Miniaturen (iv 13) für Streichquartett sind mit zusammen 24 Minuten jeweils deutlich länger als Anton Weberns epochale 6 Bagatellen op. 9 von 1911. Dennoch scheint ein Echo Weberns durch Andres Werk zu uns hinüber zu wehen. Die Spieltechniken – insbesondere verschiedenste Möglichkeiten der Dämpfung – sind penibelst notiert, dafür selten „normal“; die Grunddynamik ist extrem leise. Das Arditti Quartet ist bei solchen Herausforderungen natürlich in seinem Element, realisiert die Partitur präzise ohne bei den bewusst gesetzten Momenten des Verschwindens – ein zentrales Merkmal von Mark Andres Musik – jemals in ein Loch zu fallen: höchst beeindruckend!

Im Orgelstück Himmelfahrt (iv 15) gelingt Andre die Realisierung einer Ästhetik der Instabilität durch Techniken wie etwa das Ausschalten des Motors, wodurch der Winddruck nachlässt, und oft gleichzeitig stattfindende, originelle Registrierungen, die zu fast paradox erscheinenden Effekten führen können: „eine Präsenz des Göttlichen, die im Verschwinden erkannt wird und im Erkennen verschwindet“, wie es Christof Breitsamer in seinem Booklettext treffend beschreibt. Stephan Heuberger spielt auf dem Mitschnitt der Uraufführung der elektrischen Registrierfassung mit Verständnis und Hingabe – und es ist geradezu phänomenal, wie er überhaupt in der Lage ist, mit der äußerst kritischen Akustik der Pfarr- und Universitätskirche St. Ludwig in München zurechtzukommen: ohne die nun mehr als 20-jährige Erfahrung mit der dortigen Beckerath-Orgel von 1960 ein Ding der Unmöglichkeit. Auch der Tontechnik des SWR Experimentalstudios (Joachim Haas) muss man in diesem Zusammenhang größten Respekt zollen.

Höhepunkt der CD ist dann jedoch Andres Orchesterstück „woher…wohin“, das im Rahmen der Happy New Ears Preisverleihung der Hans und Gertrud Zender-Stiftung 2017 vom Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter dem sensationell mitreißend agierenden Matthias Pintscher im Herkulessaal dargeboten wurde. Das Werk bezieht sich auf das Johannes-Evangelium, Kap. 3, Vers 8: „Der Wind weht, wo er will; du hörst sein Brausen, weißt aber nicht, woher er kommt und wohin er geht. So ist es mit jedem, der aus dem Geist geboren ist.“ Hierzu sei auf meine Besprechung besagten Konzerts verwiesen, das hier vom BR – aufnahmetechnisch gleichermaßen perfekt – mitgeschnitten wurde. Die aufschlussreiche Zusammenstellung mit gutem, sich der jeweiligen Programmhefte bedienenden Booklet erscheint dem Rezensenten dann ebenfalls durchaus preiswürdig.

[Martin Blaumeiser, Februar 2022]