Beethovens Diabelli-Variationen mit klanglichem Feingefühl

Sonus Eterna, 37423; EAN: 4 260398 610090

Der 1994 in Hamburg geborene Pianist Spartak Margaryan stellt sich Ludwig van Beethovens kolossalen 33 Veränderungen über einen Walzer von Anton Diabelli in C-Dur op. 120, heute hauptsächlich als Diabelli-Variationen bekannt. Die CD erschien beim Label Sonus Eterna.

Die umfangreichen wie anspruchsvollen, allein durch die Länge von etwa einer Stunde ehrfurchtgebietenden Diabelli-Variationen C-Dur op. 120 gehören zu den Meilensteinen der Klavierliteratur, zu einem Höhepunkt der Form allgemein. Dass Beethoven das schlichte, zu Beginn seiner diesbezüglichen Beschäftigung gar als „Schusterflecke“ verhöhnte Thema nicht mit bloßer Ornamentik und glitzerndem Fingerwerk füllen würde, erklärt sich von selbst, besieht man seine anderen als Variationen titulierten wie auch in anderen Großformen enthaltenen Ketten an Veränderungen. Selbst in seinen mit zwölf Jahren komponierten Dressler-Variationen WoO 63 beweist er schon das Gespür, Themen nicht bloß zu füllen, sondern als Ausgangspunkt für eigene Entwicklungen zu nutzen. Die Gattung der Variation sah Beethoven als lebenslanges Training für Kreativität und Formgestaltung, feilte entsprechend unentwegt daran, den Themen immer neue Facetten abzuringen. In den Diabelli-Variationen, einem seiner spätesten Klavierwerke, forderte er die Variation in all ihren Aspekten heraus, bewies vollständige Durchdringung des Themas und konnte jeden noch so nichtig erscheinenden Aspekt herauspicken und eigens ins rechte Licht rücken. Anders als in den zwischenzeitlich entstandenen drei letzten Klaviersonaten von 1822, wo die thematischen Fortspinnungen in Großformen zusammengeschweißt wie aus einem Guss erscheinen, brechen sich die Veränderungen des Diabelli-Walzers auf und scheinen in gewissen Teilen gar untereinander austauschbar zu sein: Beethoven präsentierte ein Kaleidoskop an Möglichkeiten, eine kaum würdig erscheinende Vorlage in hohe Kunst zu transformieren. (Dabei sollte die Vorlage doch nicht verachtet werden, denn sie wurde explizit als Vorlage für Variationen komponiert. Ihre Anlage fordert es, mit ihr frei zu verfahren, den Sinn für eigene Expansion und Gestaltungsgabe auf die Probe zu stellen.)

In der hier vorliegenden Aufnahme wagt sich ein junger, aufstrebender Pianist an dieses Spätwerk, welches neben fingertechnischen wie auch gestalterischen Höchstleistungen profunde Kenntnis der Genese der Beethoven’schen Variationsformen voraussetzt. Wäre dies nicht schon bemerkenswert genug, dass Spartak Margaryan sechsundzwanzigjährig das Studio betritt mit solch einem schwierigen, in zahlreichen Referenzaufnahmen bereits erschienenen „Brocken“ der Klavierliteratur, so besticht seine enorme Gesetztheit und profunde Kenntnis, ja Durchdringung des Werkes. Das Spiel ist weit entfernt von jugendlichem Stürmen und Drängen, von Selbstpräsentation – ganz im Gegenteil: Margaryan reduziert äußeren Glanz auf ein Minimum und taucht ein in die Tiefen von Beethovens Klangkosmos.

Spartak Margaryan sieht Beethoven nicht als polternden Vorreiter einer Ausdruckskunst, die wir landläufig als „Romantik“ bezeichnen, sondern bezieht Beethovens Satz auf die klangliche Verfeinerung und Differenziertheit der Wiener Klassik. Ungestümen Forti und Sforzati schwört er ab, nimmt auch Pedal mit Bedacht, lässt so eine luzide, gebändigte Klangkultur aufkeimen. Dabei schafft Margaryan doch Kontraste durch den deutlichen Unterschied zwischen Forte und Piano sowie zwischen den Variationen durch gewählte Tempi. Gerade die langsamen Veränderungen nimmt Margaryan gewagt langsam, fordert den innermusikalischen Zusammenhalt in einer Extremsituation heraus – geht aber in den meisten Fällen siegreich hervor. Lediglich die Variationen, die sich ununterbrochen um das immer gleiche Motivfragment drehen, so insbesondere die Variationen I und IX, könnten noch an Stringenz des Aufbaus hinzugewinnen, um die Form zu straffen. Umso gelungener dafür die kontrapunktische Ausgestaltung aller Stimmen, durch die selbstredend gerade die mehrstimmig angelegten Variationen aufblühen (also in erster Linie IV, V, XI, XIV, XIX, XXIV, XXX und XXXII), doch auch die restlichen Veränderungen ziehen große Vorteile aus der aktiven Gestaltung der Gegenstimmen, namentlich III, XII, XV und XVIII. Dagegen weiß Spartak Margaryan auch, Stimmen im Untergrund zu belassen, die ansonsten durch ihre Klangfülle die Melodie stören könnten (XVI und XXI).

Im Gesamteindruck legt Spartak Margaryan eine beeindruckende und in jeder Hinsicht bemerkenswerte Darlegung der 33 Veränderungen eines Walzers von Diabelli op. 120 vor, die durch präzise Kenntnis, musikalisches Feingefühl und gewählte Klangvorstellung überzeugt. Wir können gespannt bleiben, wie sich dieser junge Musiker weiterhin entwickeln wird!

[Oliver Fraenzke, Februar 2022]

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