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Henzes „Floß der Medusa“ mit Cornelius Meister geht unter die Haut

Capriccio C5482; EAN: 8 4522105482 7

Capriccio hat eine weitere Aufführung von Hans Werner Henzes (1926-2012) Oratorium „Das Floß der Medusa“ veröffentlicht – diesmal live. Unter der Leitung von Cornelius Meister spielen und singen das ORF Radio-Symphonieorchester Wien, der Arnold Schoenberg Chor sowie die Wiener Sängerknaben. Die Solisten sind: Sarah Wegener (La Mort), Dietrich Henschel (Jean-Charles) und Sven-Erich Bechtolf (Sprecher/Charon).

Nachdem es um Henzes Oratorium Das Floß der Medusa, dessen geplante Uraufführung Ende 1968 durch einen Polizeieinsatz vereitelt wurde und so den vielleicht größten Konzertskandal der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte verursachte, lange still war, sorgte wohl die Flüchtlingskrise im Mittelmeer in den letzten Jahren für eine gewisse Renaissance dieses echten Meisterwerks – bis hin zu szenischen Realisationen (Amsterdam, Berlin). Ende 2019 hatte SWR Classic eine Aufnahme aus der Elbphilharmonie (vom 15.–17. 11. 2017) mit dem kürzlich verstorbenen Dirigenten Peter Eötvös herausgebracht – siehe unsere Kritik mit ein paar näheren Infos zum Werk. Nun gibt es eine weitere – nur zwei Wochen ältere (!) – Einspielung, diesmal live aus dem Wiener Konzerthaus. Capriccio hätte mit dieser Veröffentlichung allerdings nicht sechs Jahre warten müssen: Die Aufführung mit dem ORF Radio-Symphonieorchester Wien unter Leitung von Cornelius Meister liegt auf demselben Niveau wie die des SWR Symphonieorchesters. Das fordert geradezu zum direkten Vergleich heraus. Die Erstaufnahme auf Deutsche Grammophon – der Mitschnitt der Generalprobe von 1968, dirigiert vom Komponisten – fällt nach Meinung des Rezensenten eigentlich in allen Belangen schwächer aus, bleibt als historisch ganz ungewöhnliches Dokument aber weiterhin interessant.

Die Akustik der Elbphilharmonie – sicher nicht jedermanns Sache – kommt Eötvös‘ Streben vor allem nach Durchsichtigkeit dieses riesig besetzten Oratoriums gut entgegen, was aufnahmetechnisch entsprechend eingefangen wurde. Das Wiener Konzerthaus hat bei etwas mehr Hall – wohl nicht zuletzt deswegen braucht Cornelius Meister auch ca. 4½ Minuten länger – gleichzeitig mehr Wärme. Dies kommt gerade den Chören der Lebenden zugute – die anfangs nur von Bläsern begleitet werden. Später wechseln sie ja – bis auf die dann solistisch agierenden 14 Überlebenden – ins von den Streichern dominierte Reich der Toten. Eine erstaunliche Transparenz wird jedoch gleichfalls in Wien erreicht. Die Dynamik über alles scheint dabei hier größer.

Meister zielt ganz bewusst auf Drama – das gelingt über weite Strecken. Die Bemerkung Christoph Bechers im ansonsten ordentlichen Booklet zum unmittelbaren Schluss des Werks, dass Meister sich hier dafür entschied, die ursprüngliche Version sogar zu verstärken, ist allerdings schlicht falsch: Tatsächlich lässt der Dirigent – ebenso wie Eötvös – nach Charons abschließenden Worten „Die Überlebenden aber kehrten in die Welt zurück[…], fiebernd, sie umzustürzen“ im Orchester Henzes Revision von 1990 spielen, wo der Schlagzeug-Rhythmus des „Ho-Ho-Ho-Tschi-Minh“-Protestrufs melodisch eindringlich umwölkt wird, letzteren zusätzlich noch vom Chor verbatim skandieren. Das steht so in keiner Partitur, sondern reflektiert anscheinend nur die Situation, dass Henze sich seinerzeit als Reaktion auf die gar nicht erst begonnene Uraufführung zusammen mit einigen Studenten auf dem Podium eben dazu hinreißen ließ. Musikalisch widersprüchlich: Die ursprüngliche Fassung enthält zwar nur besagten, reinen Schlagzeug-Rhythmus, wirkt jedoch insbesondere durch die – auch nicht notierte – Beschleunigung in Henzes eigener Einspielung brandgefährlich, wohingegen die revidierte Fassung fast als visionäre Apotheose aufgefasst werden könnte. Beides zugleich ist eher Murks.

Waren schon die Leistungen der Chöre in der SWR-Aufnahme grandios, legen in der Wiener Aufführung der Arnold Schoenberg Chor – unter der erprobten Einstudierung Erwin Ortners – und die Wiener Sängerknaben noch eins drauf. Präzision und Ausdrucksstärke gehen hier derart Hand in Hand, dass man nur andächtig staunen kann. Die Qualitäten der Orchester lassen sich hingegen nicht gegeneinander ausspielen, beide Male absolut überzeugend. Meister wagt es allerdings, viele Details ganz unverfroren naturalistisch zu verstehen: Oft hört man bei seiner Darbietung etwa wirklich Klänge, die unmittelbar das Meer assoziieren usw. Also auch hier noch Hans Werner Henze auf den Spuren Richard Strauss‘? Diesen Vergleich hat der Komponist bekanntlich verabscheut…

Ungeachtet, wie die Rolle des Sprechers/Charons (Sven-Eric Bechtolf) live eingepegelt gewesen sein mag: In der Aufnahme gerät sie mir jedenfalls künstlich viel zu sehr in den Vordergrund. Bechtolf ist abgesehen davon o. k., kommt aber nicht wirklich an Peter Stein heran. Sarah Wegener als La Mort singt stimmlich ausgezeichnet, erscheint allerdings emotional blasser als Camilla Nylund. Dafür begeistert Dietrich Henschel in allen Belangen: Wärme, ergreifende Textausdeutung und intonatorische Treffsicherheit machen ihn zum bisher besten Jean-Charles auf Tonträgern. Dagegen wirkt Peter Schöne über Strecken fast zu artifiziell.

Muss man also eine der 2017er Aufnahmen klar vorziehen? Nein – aber Konkurrenz belebt nun hoffentlich auch für Henzes aufrüttelndes Oratorium das Geschäft. Mehr Dramatik, leichter Vorsprung für die Wiener Chöre und ein herausragender Dietrich Henschel bei Meister; mehr Analytik, stellenweise knackigere Tempi und ein beeindruckender Peter Stein bei Eötvös. Unter die Haut geht das in beiden Fällen und macht Cornelius Meisters Einspielung zumindest zu einer hochwertigen Alternative und unbedingt empfehlenswert.

Vergleichsaufnahmen: Camilla Nylund, Peter Schöne, Peter Stein, SWR Vokalensemble, WDR Rundfunkchor, Freiburger Domsingknaben, SWR Symphonieorchester, Peter Eötvös (SWR Classic SWR19082CD, 2017); Edda Moser, Dietrich Fischer-Dieskau, Charles Regnier, RIAS-Kammerchor, Chor & Orchester des NDR, Hans Werner Henze (Deutsche Grammophon 449 871-2, 1968)

[Martin Blaumeiser, 7. April 2024]

Opernhafte Orchestermusik

cpo 777 962-2; EAN: 7 61203 79622 9

Das ORF Radio-Symphonieorchester Wien spielt unter Leitung seines Chefdirigenten Cornelius Meister Orchesterwerke Alexander von Zemlinskys. Zu hören sind die Fantasie „Die Seejungfrau“ nach einem Märchen von Hans Christian Andersen sowie Vor- und Zwischenspiel aus der Oper „Es war einmal“.

Irgendwo zwischen Mahler und Schönberg findet sich ein Komponist, der im Schatten der Genannten blieb, aber gerade in den letzten Jahren doch vermehrt Aufmerksamkeit erhielt: Alexander von Zemlinsky. Mit Mahler verbanden den Tonsetzer eine langjährige Freundschaft, gegenseitige Werkaufführungen und tonsprachliche Gemeinsamkeiten; Schönberg war Zemlinskys Schüler, der auf seinem Weg Richtung Befreiung der Tonalität eine Zeit lang seinen Lehrer sogar mitriss (vergleiche das zweite Streichquartett Zemlinskys mit dem Quartett op. 7 Schönbergs – und, wenngleich räumlich entfernt, mit dem zweiten Quartett op. 31 von Josef Suk), bis es zum Bruch kam, da Zemlinsky sich weigerte, dem Schritt in die Dodekaphonie zu folgen.

Auf vorliegender CD sind zwei eher frühe Werke zu hören, die Seejungfrau von 1902/3 und zwei Orchesterstücke aus der Oper „Es war einmal“ von 1897/8, beide noch deutlich unter dem Einfluss Gustav Mahlers stehend. Die Seejungfrau hat ausschweifende Länge, überdehnt die Form geradezu, während Vor- und Zwischenspiel aus „Es war einmal“ vor allem Interludiumscharakter haben. Zemlinskys Musik besitzt etwas Schwärmerisches und Verträumtes – noch vor Komposition des Traumgörge -, damit aber auch etwas Oberflächliches und Klischeehaftes, der vernehmbare „Weltschmerz“ wirkt artifiziell und geradezu genießerisch ausgekostet. Das Opernhafte ist charakteristisch für Zemlinsky, auch in seinen rein orchestralen Werken, was ihn beim Versuch einer Kategorisierung beinahe als eine Art Opern-Mahler erscheinen lässt.

Das ORF Radio-Symphonieorchester unter Cornelius Meister geht sensibel auf die träumerische Klangwelt Zemlinskys ein, bleibt dicht und doch durchhörbar, nicht zu direkt, sondern schattenhaft verschleiert. Die Melodien erklingen sanglich und erspürt, die Höhepunkte werden vorbereitet, es wird flüssig in die retardierenden Momente übergeleitet. Diese Musik eine echte seelische Tiefe offenbaren zu lassen, ist eine kaum bewältigende Aufgabe und würde erfordern, eine Vielzahl an musikalischen Gefälligkeiten ungenutzt verstreichen zu lassen, den Fokus auf korrelierende Form und Nuancen der Harmonisierung zu verlagern, und so ist das formale Bewusstsein auch hier eher lokal begrenzt. Dafür besticht allerdings das ewig Fließende und den Moment Genießende, die Musik dankt das Zuhören mit schwelgenden Höhenflügen zwischen Hochstimmung und Melancholie.

[Oliver Fraenzke, August 2017]