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Musik entfaltet endlich wieder ihren Sinn: Beth Levin mit der Erstaufführung von Heinz Tiessens Opus 21 nach über 100 Jahren

Am 12. März 2024 spielte Beth Levin in der Schwartz’schen Villa in Berlin Wolfgang Amadeus Mozarts Klaviersonate a-moll KV 310, die lange verschollenen Klavierstücke op. 21 von Heinz Tiessen und Franz Schuberts Klaviersonate G-Dur D 894 (op. 78).

Große (=bedeutende) Dinge können im kleinen Rahmen geschehen, ganz so, wie fortwährend kleine (=unbedeutende) Dinge im großen Rahmen ausgerichtet werden. Und das, wie alles andere auch, sagen wir nicht, wie der smarte Gesinnungsdemagoge Hebestreit, „unter uns“, sondern ganz grundsätzlich für alle. Es braucht den Mut zur unabhängigen Entscheidung, und nur, wer hier riskiert, kann das Unerwartete entfesseln.

So geschehen am Abend des 12. März im Salon der Schwartz’schen Villa in Berlin-Steglitz. Die längst legendäre US-amerikanische Pianistin Beth Levin, die freilich unter dem Radar der etablierten Konzerthäuser segelt, da sie eine allzu singuläre Individualität verkörpert, begann ihre kleine Tournee durch die deutschsprachigen Lande mit einem so eigentümlichen wie – rein musikalisch, nicht feuilletonistisch plakativ – schlüssigen Programm, das so viele Menschen anlockte, dass der wahrscheinlich selbst überraschte Veranstalter – das Kulturamt Steglitz-Zehlendorf – „full house“ vermelden durfte. Beth Levin spielte drei gewichtige Werke, zwei davon absolutes Kernrepertoire der Szene, eines absolut unbekannt: Wolfgang Amadeus Mozarts Klaviersonate in a-moll KV 310 (seine dramatischste, dunkelste Sonate) von 1778 zu Beginn, Franz Schuberts viertletzte Klaviersonate in G-Dur D 894 (op. 78 von 1826) mit ihren drei Pianissimo-Schlüssen zum Schluss. Dazwischen: die fünf Klavierstücke op. 21, komponiert spätestens 1915, von Heinz Tiessen (1887–1971). Zu letzterem Werk gab es einleitend eine aufschlussreiche Einführung, aus welcher hervorging, welch seltsames Schicksal dieses Werk erfuhr. Die fünf Stücke wurden 1915 von Eduard Erdmann (1896–1958), dem ersten ganz großen Schüler Tiessens und herausragenden deutsch-baltischen Pianisten und Komponisten des 20. Jahrhunderts, uraufgeführt und in der Folge noch mehrfach gespielt. Dann jedoch sind diese fünf Stücke entweder verloren gegangen oder Tiessen hat sie – als Gesamtheit höchst gelungener Einzelstücke maximal unwahrscheinlich – zurückgezogen; und Tiessen hat die so entstandene Lücke in seinem Werkverzeichnis später geschlossen, indem er die Opuszahl 21 an die Orchestration eines Rondos vergab. Mehr als ein Jahrhundert war es still geworden um das Werk, das auch in der einschlägigen Literatur keinerlei Erwähnung mehr fand, bis vor vielleicht drei Jahren der Privatgelehrte, Musikforscher und Herausgeber Tobias Bröker aus dem idyllisch entlegenen Botnang bei Stuttgart ein Tiessen-Konvolut aus dem Nachlass der einst berühmten Sopranistin Maria Schulz-Birch ersteigerte und völlig überrascht das Autograph des verschollenen Werkes in Händen hielt. Wie dies sein so gänzlich unkonventioneller wie altruistischer Brauch seit Beginn seiner verlegerischen Tätigkeit ist, setzte Bröker die Noten im MuseScore-Programm und stellte sie auf seiner im Sinne des Wortes wundervollen Website zum kostenlosen Download ins Netz. So also gelangte Beth Levin, die es stets liebte, avanciert Unbekanntes und bewährt Bekanntes in lebendigem Kontrast miteinander zu präsentieren, an diese Noten und machte sie – wie nun in Berlin zu hören – sich ganz zu eigen. Sie spielte am 12. März die erste Aufführung seit mehr als hundert Jahren, also die Premiere der neuen Epoche, von der noch kaum einer ahnt, wohin sie die Menschheit führen wird.

Die für den Leser wichtigste Nachricht ist, dass Beth Levins Berliner Mozart-Tiessen-Schubert-Programm im kommenden Jahr auch auf CD erscheinen soll (bei Aldilà Records). Und daher darf ich mich ganz legitim bei der Beschreibung der so komplexen wie erlebnismäßig unmittelbar zugänglichen, unbedingt eigenartigen Musik auf’s Minimum beschränken. Tiessens Musik der 1910er Jahre steht – ähnlich wie die des befreundeten, so früh im Krieg gefallenen Rudi Stephan – zwischen nachromantischer Tradition und expressionistischer Moderne, spiegelt einerseits die düsterer Imagination anheimgestellte Aufbruchsstimmung ins unbekannte Land der dissonanzfreudigen freien Tonalität mit ihrer linear-kontrapunktischen Kraft (bei Tiessen auf der faszinierenden Basis einer unglaublich virtuosen Beherrschung des harmonischen Raums, wo selbst in entferntesten Bereichen nie der bewusste Zusammenhang verloren geht), andererseits die subtile Formbalance der großen Meister seit Beginn der abendländischen Polyphonie – ein großer Komponist, den nur die nicht verstanden bzw. verstehen, die sehr eingeschränkten Überzeugungen dessen auf den Leim gegangen sind, was die zwanghaft verknüpfende Idee von einseitig wahrgenommenem Fortschritt (sogenannte Atonalität) und damit verbundener, scheinbarerer Signifikanz betrifft. Das wird, je weiter die Zeit voranschreitet und Verschollenes, Verdrängtes ans Licht kommt, immer peinlicher und enttarnt sich zusehends als der eigentliche Anachronismus einer momentan in rasantem Untergang befindlichen Epoche vermeintlicher ästhetischer Gewissheiten, die in Wirklichkeit nur das prätentiöse Nachgeplapper von nassforschen Autoritäten mit entlarvend geringer Halbwertszeit sind (Leser ratet, wen ich meine!).

Beth Levins hat Tiessens Musik zwischen zeitgleichem Schönberg und etwas früherem Strauss, zwischen Skriabin/Busoni und Berg/Bartók in zugleich atemberaubend expressiver, lyrisch verinnerlichter, orchestral gewaltiger, gesanglich hypnotischer Weise dargeboten und das Publikum in einen geradezu verzauberten Zustand transformiert. Auch ist sie eine erstaunliche Meisterin architektonisch schlüssiger Gestaltung, was man bei der explosiven Spontaneität ihrer Gestaltung vielleicht gar nicht erwarten würde. In der Schwartz’schen Villa wurde an diesem Abend wahrhaft Musikgeschichte geschrieben, indem endlich in vollendeter Darbietung zu seinem Recht kommt, was man aus Unkenntnis und Bequemlichkeit so lange marginalisiert hatte. Und dies in des längst verschiedenen Komponisten unmittelbarer Nachbarschaft, hatte der in Königsberg geborene doch im benachbarten Zehlendorf gewirkt, wo der überragende Dirigent Sergiu Celibidache im II. großen Krieg zu seinen Kompositionsschülern zählte (von Tiessens Lehre sollte auch die von Celibidache begründete, disziplinübergreifend bahnbrechende phänomenologische Methode der Musik ihren Ausgang nehmen).

Vor Tiessen Mozart, ein individuell hinreißender symphonischer Kraftstrom herrlich entschiedener Ausdifferenziertheit, den Tagesmoden so fernstehend wie den ‚alten Zöpfen‘. Großartig, als wäre es zum ersten Mal. Und ebenso Schubert, der sich so logisch und suggestiv zündend entfalten durfte, so unvergleichlich frisch und zeitlos, dass man sich möglicherweise hinterher fragen mochte, was denn dieser ganze Blödsinn mit den etablierten Aufführungstraditionen überhaupt soll. Beth Levin hat sie alle über den Haufen gestoßen, außer Kraft gesetzt, indem sie mit singulärer Natürlichkeit, Intensität, Bewusstheit und Kunst unmittelbar zum schöpferischen Kern einer Musik vorgedrungen ist, die heute oft gewaltsam entstellt wird, nachdem man sie lange viel zu wenig gewürdigt hatte. Und sie hat alle Anwesenden auf eine Reise mitgenommen, die treffend als unvergesslich bezeichnet werden kann. So beginnt Musik wieder, ihren Sinn zu erfüllen, und nicht für Ideologien missbraucht zu werden, wie dies in Deutschland vor allem seit dem Dritten Reich der Fall war.

[Sara Blatt, 14. März 2024]

Anmerkung der Redaktion: Tobias Brökers Edition der Klavierstücke op. 21 von Heinz Tiessen findet sich auf dieser Seite.