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Ein Panorama georgischer und russischer Klaviermusik des 20. Jahrhunderts

Thorofon, CTH2677, EAN: 4 003913 126771

Der junge georgische Pianist Misho Kandashvili präsentiert auf seinem Debütalbum ein buntes Spektrum an georgischer und russischer Klaviermusik des 20. Jahrhunderts. Neben bekannten Namen wie Kantscheli, Prokofjew oder (frühem) Schnittke gibt es hier etliche auf CD nur spärlich vertretene Komponisten zu entdecken.

Für seine (bereits im letzten Jahr erschienene) Debüt-CD beim Label Thorofon hat der georgische Pianist Misho Kandashvili, 1993 in Tiflis geboren, ein recht vielfältiges Programm von Werken georgischer und russischer Komponisten zusammengestellt. Dabei dürfte gerade der georgische Teil des Albums für viele Musikfreunde unserer Gefilde einen anregenden Einblick in die Musikszene eines bislang womöglich eher weniger beachteten Landes bieten, während der russische Teil die bekannteren Namen und am Ende mit Prokofjews Klaviersonate Nr. 3 ein genuines Repertoirestück aufbietet.

Es lohnt sich, zu Beginn wenigstens einen kurzen Blick auf die Geschichte der georgischen klassischen Musik zu werfen. Die Entwicklungen, die man im Russland des 19. Jahrhunderts mit Glinka, der Gruppe der Fünf, Tschaikowski und vielen mehr verzeichnen kann, setzte in der Peripherie des Russischen Reichs, den späteren Sowjetrepubliken, einige Jahrzehnte, im Falle Zentralasiens sogar eher ein Jahrhundert später in durchaus vergleichbarer Form ein. In Georgien etwa gab es eine erste Generation von Komponisten, geboren ab den 1860er Jahren (wie Meliton Balantschiwadse, Sakaria Paliaschwili, Dmitri Arakischwili oder Viktor Dolidse), die in erster Linie Vokalmusik schufen, besonders prominent natürlich (National-) Opern. Ungefähr mit der Gründung der Sowjetunion und der allmählichen Etablierung von Institutionen wie Konservatorien oder Orchestern kam eine zweite Generation ins Spiel, die nun auch verstärkt Instrumentalmusik schuf. So war es etwa Andria Balantschiwadse (der Sohn des oben erwähnten Meliton Balantschiwadse und Bruder des Choreographen Georges Balanchine), der das erste georgische Ballett komponierte, und seine Sinfonie Nr. 1 aus dem Jahre 1944 wurde allgemein als Meilenstein der georgischen Sinfonik betrachtet. Man beachte insbesondere: die Geschichte der georgischen Sinfonik beginnt also faktisch erst in den 1940er Jahren! So jung ist diese Musikszene (jedenfalls, was klassische Musik westlicher Prägung anbelangt), und gleichzeitig ist es beeindruckend zu sehen, wie rasch sich in der Folge eine Musikkultur von mehr als beachtlichem Niveau entwickelte (um beim Beispiel der Sinfonik zu bleiben, kommen dann noch in den 1940ern Namen wie Schalwa Mschwelidse, Aleksi Matschawariani oder Otar Taktakischwili hinzu, nur wenig später auch Sulchan Zinzadse oder Sulchan Nassidse). Auch dies sind Aspekte sowjetischer Musikgeschichte, die freilich häufig unbeachtet bleiben. Insofern kann man Kandashvilis Album auch als einen Überblick, eine Sammlung von Kostproben vom Schaffen dieser Komponisten begreifen.

Am Beginn der CD stehen acht der zwölf Romantischen Stücke des bereits erwähnten Andria Balantschiwadse (1906–1992). Dabei handelt es sich um einen Zyklus aus dem Jahre 1972, was insofern von Bedeutung ist, als dass man Balantschiwadse hier zu einer Zeit erlebt, zu der er sich intensiver mit moderneren Tendenzen befasste als in früheren Jahren (wenigstens tendenziell schrieben die meisten sowjetischen Komponisten – natürlich insbesondere politisch bedingt – im Spätstalinismus ihre traditionellsten Werke, spätestens ab den 1960er Jahren werden dann in unterschiedlichem Maße modernere Einflüsse rezipiert). Balantschiwadse bewegt sich dabei in eher gemäßigten Bahnen, Atonalität spielt keine Rolle, wohl aber Bi- und Polytonalität, und ganz generell ist der Titel leicht irreführend, denn so romantisch wirken diese eher etwas herben Miniaturen eigentlich nicht. In der Tat, denkt man dabei an einen warmen, vollen Klaviersatz, wird man von der eher kargen Zweistimmigkeit (und den gelegentlichen Sekundreibungen) von Nr. 2 und Nr. 4 überrascht werden, die Freude in Nr. 7 ist ebenfalls keine überschäumende, und auch dann, wenn sich Nr. 10 als eine Art folkloristisch kolorierte Aria in Es-Dur darstellt, ähnlich wie sie Otar Taktakischwili meisterhaft zu komponieren wusste, sorgt Balantschiwadse mit allerlei herberen Einsprengseln für eine gewisse Distanz. Überhaupt könnte man davon sprechen, dass die romantischen Topoi, die die Titel der Stücke zweifelsohne suggerieren, eben aus der Distanz betrachtet, ein wenig verfremdet werden. Einen Bogen schlagen dabei die an Prokofjew gemahnenden Grüße (Nr. 1), die am Ende des letzten Stücks zitiert werden. Ein nicht immer unbedingt eingängiger und teilweise auch etwas spröder, aber insgesamt nicht uninteressanter Zyklus.

Deutlich früher, nämlich bereits 1951, entstand das Poem von Balantschiwadses Schüler Otar Taktakischwili (1924–1989). Taktakischwili konnte bereits als junger Mann mit seinen Kompositionen reüssieren; dass er mit seinem Beitrag den Wettbewerb für die Hymne der Georgischen SSR gewann, war offenbar für ihn selbst zunächst eine Überraschung, aber gegen Ende der 1940er Jahre trat er mit einer Reihe größerer Werke hervor, die durch ihre ungemein einprägsame Melodik, effektvolle Dramatik, farbenreiche Orchestrierung und große Geste bestechen – dabei stets deutlich an der georgischen Folklore orientiert – und entsprechende Resonanz fanden. Sein Klavierkonzert Nr. 1 etwa ist ein echter Reißer, eigentlich wohl eines der publikumswirksamsten Klavierkonzerte jener Zeit, wenn es denn nur einmal aufgeführt würde. Später wandte sich Taktakischwili, der u. a. auch Generalsekretär des georgischen Komponistenverbands und langjähriger Kulturminister der Georgischen SSR war, verstärkt, aber nicht ausschließlich Vokalmusik zu, etwa in Form von Opern oder national getönten Oratorien; zu seinen inspiriertesten Instrumentalwerken jener Zeit zählen das Violinkonzert Nr. 1 f-moll von 1976 oder das Mitte der 1980er komponierte Streichquartett. Moderne Tendenzen spielen in Taktakischwilis Schaffen auch in späteren Jahren eine eher untergeordnete Rolle, auch wenn es sicherlich einen Unterschied gemacht hätte, wenn sich Kandashvili beispielsweise für die Klaviersuite Imitation georgischer Volksinstrumente (1973) entschieden hätte. Das kurze Poem, das auch unter dem Titel Elegie durchgehen könnte, ist ein eher kleineres Werk, wobei das lyrische, melismatisch geprägte Melos dieses Stücks die charakteristische Handschrift seines Schöpfers deutlich verrät.

Besonders als Komponistin von Musik für Kinder hervorgetreten ist die gleichaltrige Meri Dawitaschwili (1924–2014), ebenfalls Schülerin Balantschiwadses. Ihr Chorumi (ein georgischer Kriegstanz) aus dem Jahre 1949 (oder bereits 1945?) ist ein kurzes, rhythmisch pointiertes, sehr effektvolles Konzertstück im 5/8-Takt, das nicht nur in der Wahl der Tonart (es-moll) einen gewissen Einfluss von Chatschaturjans Toccata verrät (man beachte etwa die markante Akkordik des Beginns). Der bei weitem bekannteste georgische Komponist dieser Zusammenstellung ist Gija Kantscheli (1935–2019), der hier mit vier Stücken aus seiner Simple Music, einer Sammlung von 33 Miniaturen nach (eigenen) Filmmusiken, vertreten ist, kurze Skizzen, Petitessen, von leichter Hand gezeichnet, betont schlicht gehalten und mit einer gewissen Nähe zur Salonmusik gekonnt spielend.

Wascha Asaraschwili (* 1936) schließlich, einmal mehr ein Schüler Balantschiwadses, hat neben einem expressiven, durchaus national getönten Neoklassizismus (repräsentiert z. B. durch sein Cellokonzert Nr. 1, für das sich in jüngerer Zeit Maximilian Hornung eingesetzt hat) auch eine Vielzahl von Werken geschaffen, die eher in Richtung Unterhaltungsmusik gehen, u. a. zahlreiche Lieder. In diesen Kontext gehört auch sein Nocturne aus dem Jahr 1986, das zudem in einer Version für Orchester vorliegt, eine Art Arie zunächst in G-Dur, später dann nach E- und schließlich – emphatisch gesteigert, am Ende Harfenklänge suggerierend – C-Dur wechselnd; ein Stück, das man sich auch sehr gut als Filmmusik vorstellen könnte. Im Unterschied zu Kantscheli spielt Asaraschwili weniger mit entsprechenden Vorlagen, sondern adaptiert sie. Für mich bleibt hier ein leicht zwiespältiger Eindruck, weil sich die Musik doch arg direkt an Paradigmen westlicher Unterhaltungsmusik orientiert (wobei Asaraschwili damit kein Einzelfall ist, man denke etwa an Andrei Eschpais leichtere Ader).

So interessant ein georgisches Programm per se ist, ist die Idee, ihm einen russischen Part gegenüberzustellen, grundsätzlich berechtigt, allein schon deshalb, weil die russische Musik natürlich – wie in nahezu allen ehemaligen Sowjetrepubliken – bei der Entwicklung der georgischen klassischen Musik eine wichtige Rolle gespielt hat. Man darf sich die zweite Programmhälfte allerdings weniger als Spiegelbild der ersten vorstellen, denn bereits angesichts des obigen kurzen historischen Abrisses ist ziemlich klar, dass es keinen georgischen Prokofjew oder georgischen Mossolow gegeben haben kann. Insofern darf die Wahl der russischen Beiträge auf dieser CD wohl insbesondere als Zusammenstellung von Werken gelten, die Kandashvili selbst wichtig sind.

Alexander Mossolow (1900–1973) gehört zweifelsohne zu den Komponisten, deren Schaffen durch die politischen Rahmenbedingungen der Sowjetunion am stärksten und am nachhaltigsten beeinflusst wurde, sodass man in seinem Fall ganz deutlich von zwei sehr unterschiedlichen Schaffensperioden sprechen kann: auf der einen Seite das radikale, expressionistische, avantgardistische Frühwerk, auf der anderen die Zeit nach dem Gulag (1937/38), die zu großen Teilen einen völlig veränderten Komponisten zeigt. Mossolows Klaviersonate Nr. 4 op. 11 (1925) gehört zu seinem frühen Schaffen, ein Einsätzer, dessen tritonusgesättigte Harmonik, voller Klaviersatz (manchmal Glockenklänge beschwörend) und dunkel-fatalistisch getönte Ausdruckssphären weniger an Prokofjew erinnern, dessen Musik Mossolow grundsätzlich wesentlich beeinflusst hat, sondern entschieden an den späten Skrjabin anknüpfen.

Bei den hier eingespielten Drei Präludien von Alfred Schnittke (1934–1998) handelt es sich um Juvenilia aus den Jahren 1953/54, präziser um die ersten drei Stücke einer Sammlung, die bei Toccata Classics als Sechs Präludien auf CD veröffentlicht worden bzw. unter dem Titel Fünf Präludien und Fuge im Druck erschienen ist. Man darf bei diesen (hübschen) Stücken nicht an den reifen Schnittke denken; vielmehr vollzieht der junge Komponist hier Muster aus der Klaviermusik des 19. Jahrhunderts nach bis hin zu Einflüssen von Nikolai Mjaskowski (sehr deutlich im zweiten Präludium), bei dessen Schüler Jewgeni Golubew (1910–1988) Schnittke seinerzeit im Übrigen selbst am Moskauer Konservatorium studierte. Am Ende des Programms steht Sergei Prokofjews (1891–1953) kompakte, energisch-brillante Klaviersonate Nr. 3 a-moll op. 28, wiederum ein Einsätzer also, den Prokofjew 1917 „nach alten Skizzen“ (aus dem Jahr 1907) verfasste.

Misho Kandashvili präsentiert sich auf dieser CD als technisch beschlagener, umsichtig und kontrolliert musizierender Pianist. Seine Interpretationen muten in der Tendenz eher sachlich-ausgeglichen als (emotional) zugespitzt an. So wirkt Balantschiwadses eigene Interpretation seiner Romantischen Stücke eine Spur wärmer, aber andererseits lässt Kandashvili z. B. den Glückseligen Abend in Nr. 6 sehr schön, die ruhigen, wohlig-entspannten Linien dieser Musik vorzüglich nachvollziehend zur Entfaltung kommen, überzeugt er in der Erleuchtung von Nr. 10 durch differenzierte Anschlagskultur. Voll in seinem Element ist er in Kantschelis Miniaturen, Taktakischwilis Poem könnte vielleicht etwas mehr Emphase und Dawitaschwilis Chorumi etwas mehr Ekstase vertragen, wobei er das treibende rhythmische Element im Chorumi klar herausarbeitet und seine Interpretation nie rabiat oder über Gebühr forciert wirkt.

Insgesamt überzeugend und im Vergleich zu den anderen Stücken eigentlich fast überraschend massiv, wuchtig auch die Interpretation von Mossolows Sonate Nr. 4, deren bedrohliche, düster-vergrübelte Atmosphärik Kandashvili gekonnt zu realisieren weiß. Tatsächlich ist es vor allem Prokofjews Dritte Sonate, die etwas schwächer gerät, nicht nur angesichts der natürlich extrem dichten diskographischen Konkurrenz. Die fulminante Verve etwa von Gilels’ Live-Mitschnitten geht Kandashvilis – gewiss solider – Lesart ab, aber auch generell wären hier intensiver nachvollzogene musikalische Linien (speziell in den zurückgenommeneren Abschnitten), präziser herausarbeitete Kontraste und stärkere Differenzierung möglich (nur als Beispiel beachte man etwa die kurzen Quasi-tromba-Einwürfe in der Coda, die bei Kandashvili zu kurz kommen). Etwas schade ist, dass sich das Beiheft im Wesentlichen mit Kurzbiographien der hier präsentierten Komponisten begnügt.

Am Ende steht ein gelungenes Debütalbum zu Buche, auf dem sich Kandashvili als junger Pianist von beachtlichem technischen und musikalischen Niveau vorstellt und – ganz besonders hervorzuheben – ein Programm vorstellt, das dem interessierten Hörer eine ganze Reihe von Anregungen bietet, sich intensiver mit der Musik Georgiens auseinanderzusetzen.

[Holger Sambale, Juni 2023]

[Rezensionen im Vergleich] Zwei gewichtige Mossolow-Ausgrabungen

Naxos 8.574102; EAN: 7 4731341027 9

Vom in der Stalinzeit schwer gebeutelten ehemaligen Avantgardisten Alexander Mossolow (1900-1973) hat Naxos nun mithilfe des Dirigenten Arthur Arnold und des Moscow Symphony Orchestra zwei Werke der Reifezeit wiederentdeckt. Neben seiner letzten Symphonie (Nr. 5) von 1965 erklingen auf der neuen Naxos-CD auch erstmals alle vier Sätze des Harfenkonzerts aus dem Jahre 1939. Die Solistin ist Taylor Ann Fleshman – eine vorzügliche Produktion.

Vielleicht hatte Dmitri Schostakowitsch ja einfach nur Glück im Unglück: Abgesehen vom Verbot – bzw. dem vorsorglichen Zurückhalten – von kaum einer Handvoll Werken spürte der Komponist zwar lange die Repressionen Stalins als konkrete Bedrohung, konnte aber trotzdem mehr oder weniger frei komponieren; seine Werke wurden geschätzt und vor allem auch in der Sowjetunion regelmäßig gespielt. Andere traf es da schlimmer: Sie wurden aus dem Komponistenverband ausgeschlossen – was einem Berufsverbot gleichkam –, ihre Musik wurde nicht mehr gedruckt und aufgeführt, oder sie landeten gleich im Gulag. Zu diesen Musikern gehörten u.a. Nikolai Roslawez, Wsewolod Saderazki, aber ebenso Alexander Mossolow, der nur durch massive Fürsprache seiner Lehrer Glière und Mjaskowski 1938 bereits nach acht Monaten – statt fünf Jahren – wieder aus dem Arbeitslager kam und dann fünf Jahre in der inneren Verbannung zubringen musste. Danach war er definitiv ein anderer Komponist.

Hatte Mossolow in den Zwanzigerjahren durch recht konstruktivistische, avantgardistische und teilweise provokante Werke auf sich aufmerksam gemacht, darunter zwei Klaviersonaten und ein Klavierkonzert – im Westen war lange nur das kurze, lautmalerische Orchesterstück Sawod („Eisengießerei“) bekannt, das man dem musikalischen Futurismus zuordnete –, wirkte der Künstler ab Ende der 1930er total angepasst. Den Forderungen des Sozialistischen Realismus gerecht zu werden, half dabei sein schon früher bestehendes Interesse etwa an der Volksmusik des Kubans, Kirgisiens oder Turkmenistans; bei seiner 1. Symphonie E-Dur von 1944 spürt man jedoch die Angst im Nacken: Sie steht ganz im Zeichen des Großen Vaterländischen Krieges, verherrlicht den kommenden Sieg des Militärs und ist konformistisch bis ins Mark; Mossolows Eigenständigkeit scheint völlig verflogen.

Das ist zum Glück bei der 5. Symphonie (1965) nicht mehr so. Sie wurde zu Lebzeiten nie aufgeführt und erst 1991 gedruckt. Die vielen Fehler dieser Partitur konnte der aus den Niederlanden stammende Dirigent Arthur Arnold, der seit 2012 das ab seiner Gründung 1989 eng mit Naxos verbundene Moskauer Symphonieorchester leitet, in mühevoller Arbeit korrigieren und legt nun ein abwechslungsreiches, ausdrucksstarkes und fein instrumentiertes Werk vor. Natürlich vermisst man auch hier die wilden, fast aufrührerischen Elemente des jungen Mossolow – aber nur, wenn man diese kennt und zum Maßstab macht. Mossolows dreisätzige Fünfte ist dennoch absolut seriös und von ansprechender Reife, dabei keineswegs allzu retrospektiv. Lediglich der unmittelbare Schluss: Maestoso, trionfale streift die Nähe zum sozialistischen Kitsch. Arnold nimmt hier jedes Detail ernst; vor allem gelingt ihm eine stringente musikalische Entwicklung des Materials, sowohl innerhalb der einzelnen Sätze wie der gesamten Symphonie. Die Tontechnik leistet zudem ihr Bestes – enorme Dynamik und hervorragende Durchsichtigkeit ergeben ein tolles, angenehmes Klangbild.

Zu Unrecht in Vergessenheit geriet auch Mossolows gewaltiges Harfenkonzert, das er 1939 für Vera Dulova schrieb – eine unmittelbare Antwort auf den nur ein Jahr zuvor aus der Taufe gehobenen Gattungsbeitrag Glières für wiederum Dulovas Lehrerin Ksenia Erdely. Obwohl Harfenkonzerte in Russland bis heute eine gewisse Tradition haben, wurde dieses Konzert danach nicht mehr gespielt. Die Uraufführung der kompletten Fassung fand tatsächlich erst 2019 mit der hier fabelhaft aufspielenden Taylor Ann Fleshman statt. Ihre Klangschönheit ist fantastisch, die Tongebung differenziert und bei den lyrischen Stellen geradezu feenhaft geheimnisvoll. Desgleichen beherrscht sie den heiteren Zugriff, vor allem in der abschließenden Toccata, die bewusst nur gehobene Unterhaltungsmusik sein will, vollendet. Das Konzert krankt jedoch an seiner Länge (37 Minuten!), die das zum Teil spärliche Material bis an die Grenzen des Leerlaufs ausreizt, gerade auch in besagtem Finale. Der erste Satz zerfällt durch überlange, unbegleitete Soli bzw. Kadenzen, im Tutti fällt dem Komponisten für die Harfe oft nicht wirklich Überzeugendes ein: Arpeggien rauf, Arpeggien runter; Ermüdung ist so streckenweise vorprogrammiert. Dies ist natürlich zu keinem Zeitpunkt den Interpreten vorzuwerfen, die eine unter jedem Aspekt optimale, berührende Darbietung abliefern: Arnold begleitet mit seinem Orchester aufmerksam und mit Hingabe. Das schöne Konzert darf man trotz kleinerer Schwächen aber für eine repertoirefähige Entdeckung erachten. Die intelligente Orchestrierung Mossolows hätte alleine schon dafür gesorgt, dass das Orchester hier die Harfe akustisch nicht erdrückt – das Soloinstrument ist leider deutlich zu hoch ausgesteuert. Man hört so natürlich jedes Detail, aber die Balance wird dadurch unrealistisch. Fazit: Eine längst fällige Rehabilitierung zweier gewichtiger Mossolow-Werke mit hervorragend agierenden Musikern.

[Martin Blaumeiser, Januar 2021]

[Rezensionen im Vergleich] Avantgarde, Repression und Rückschau

Naxos, 8.574102; EAN: 7 47313 41027 9

Naxos präsentiert Ersteinspielungen von Alexander Mossolows Sinfonie Nr. 5 und seinem Harfenkonzert. Es spielen das Moskauer Sinfonieorchester unter der Leitung des niederländischen Dirigenten Arthur Arnold, Harfenistin ist die junge Amerikanerin Taylor Ann Fleshman.

Eine der markantesten Figuren der musikalischen Avantgarde der jungen Sowjetunion war Alexander Mossolow (Mosolov in der englischen Umschrift; 1900–1973). Anfangs noch durch Prokofjew und (in der Klaviermusik) Skrjabin geprägt, machte sich er sich in den 1920er Jahren durch oft bemerkenswert radikale Werke wie seinen Klaviersonaten, dem ersten Klavierkonzert oder dem ersten Streichquartett auch international einen Namen. Besondere Verbreitung fand sein kurzes, eigentlich als Teil eines Balletts konzipiertes Orchesterstück Die Eisengießerei, ausgesprochen suggestive Maschinenmusik aufbauend auf Honeggers Pacific 231.

Gegen Ende der 1920er Jahre geriet Mossolow immer stärker in kulturpolitische Konflikte, die sich in den 1930er Jahren verschärften, war seine Tonsprache doch mit der Ästhetik des sozialistischen Realismus nur schwer in Einklang zu bringen. Schließlich wurde er Ende des Jahres 1937 verhaftet und wegen „konterrevolutionärer Aktivitäten“ (ein Standardvorwurf jener Tage, der in der Regel aus der Luft gegriffen war) zu acht Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Auf Intervention seiner früheren Lehrer Mjaskowski und Glière wurde er zwar nach acht Monaten wieder entlassen, aber selbstverständlich bedeutete die Haft einen Einschnitt gewaltigen Ausmaßes, der sich auch in seiner Musik überdeutlich niederschlug: der Komponist Mossolow nach der Inhaftierung hat mit dem Avantgardisten der 1920er Jahre nichts mehr gemein.

Ein Problem bei der Rezeption von Mossolows Schaffen ist, dass die Quellenlage ziemlich dünn ist. Konsultiert man verschiedene Werkverzeichnisse, so wird man immer wieder auf Inkonsistenzen stoßen, manche Werke sind verschollen, und erst vor wenigen Jahren wurde in den Archiven des Moskauer Rundfunks eine ganze Reihe bislang unbekannter Frühwerke Mossolows wiederentdeckt, darunter eine auch als Antireligiöse Sinfonie bezeichnete Sinfonische Dichtung mit Chor aus dem Jahre 1931. Dennoch ist das Frühwerk Mossolows insgesamt recht gut auf CD dokumentiert, oft sogar in mehrfachen Einspielungen. Anders sieht es mit den nach Mossolows Inhaftierung entstandenen Werken aus: hier ist bislang lediglich eine kleine Auswahl erschlossen, unter anderem auf einer CD des Petersburger Labels Northern Flowers das (zweite) Cellokonzert und eine Sinfonie in E-Dur aus dem Jahre 1944 (die eventuell als Sinfonie Nr. 1 zu betrachten ist), daneben Suiten, Chöre und Gelegenheitswerke. Daher ist die vorliegende Veröffentlichung sehr willkommen, stellt sie doch zwei weitere großformatige Werke aus Mossolows späterem Schaffen erstmals vor.

Das frühere der beiden Opera ist das Harfenkonzert, ein dezidiert lyrisches Werk aus dem Jahre 1939, das für Wera Dulowa komponiert wurde, die es freilich nur einmal aufführte (unter Auslassung des kurzen dritten Satzes). In vielerlei Hinsicht handelt es sich um ein typisches Werk Mossolows aus der Zeit nach seiner Inhaftierung: die Musik ist schlicht gehalten (selbst für ein Werk, das den Erwartungen der sowjetischen Kulturpolitik jener Jahre zu entsprechen hatte), uneingeschränkt tonal (e-moll in diesem Fall), weitgehend unter Verzicht auf Chromatik, und sogar Kontrapunktik wird nur äußerst sparsam eingesetzt. Stattdessen steht einfache, (volks-)liedhafte Melodik im Zentrum, oft von der Harfe mit Figurationen und Arpeggien umspielt, wobei das Orchester insgesamt sehr sparsam eingesetzt wird. Ähnlich wie das Cellokonzert oder das zweite Streichquartett besitzt das Harfenkonzert eher den Charakter einer (ausgedehnten) Suite von Genrestücken; so sind die Sätze zwei bis vier explizit als Nocturne, Gavotte (mit einem Trio, das entfernt an das „Poljuschko Pole“ aus Knippers Sinfonie Nr. 4 erinnert) und Toccata bezeichnet. Mit der Sinfonie in E-Dur teilt das Harfenkonzert die ausgedehnten Proportionen; mit rund 37 Minuten Spieldauer dürfte es einer der längsten Vertretung seiner Gattung sein.

Alles zusammen wirkt das Harfenkonzert wesentlich zu lang; über weite Strecken passiert im Grunde genommen eher wenig. So bewegen sich die beiden Eingangssätze (d.h. die ersten über 26 Minuten des Konzerts!) im Wesentlichen im Adagio-Tempo, ohne dass dies zum Beispiel mit einer besonderen Intensität oder Variabilität des Ausdrucks einhergehen würde. Am gelungensten erscheint das Finale, weil es farbiger wirkt und einen willkommenen Kontrast liefert. In Kommentar zur CD wird die Behauptung vertreten, dieses Werk gehöre ins Standardrepertoire. Davon kann aus meiner Sicht keine Rede sein. Bereits ein Vergleich mit dem Glière-Konzert, das ein Jahr früher entstand und Mossolow offenbar zu seinem eigenen Konzert anregte, bekommt dem Werk schlecht, denn Glières Konzert ist wesentlich vielgestaltiger und reichhaltiger. Sucht man darüber hinaus speziell im früheren Ostblock nach weiteren lohnenswerten Harfenkonzerten, so könnte man etwa Boris Tischtschenkos Harfenkonzert (übrigens noch länger als Mossolows Gattungsbeitrag, aber erheblich facettenreicher), das expressive, dramatisch akzentuierte Konzert von Ernst Hermann Meyer oder, sucht man ein eher lyrisch geprägtes Stück, das Konzert des slowenischen Klangmagiers Lucijan Marija Škerjanc nennen.

Das interessantere der beiden Werke ist die dunkel-elegisch getönte, dreisätzige Sinfonie Nr. 5, entstanden 1965 (als Tonart wird in vielen Quellen e-moll angegeben, was in der Tat auf weite Teile der Ecksätze zutrifft, die Sinfonie endet allerdings in festlichem A-Dur). Im Vergleich zu den um 1940 entstandenen Werken hat sich Mossolows Tonsprache gewandelt; man wird in der Fünften immer wieder Anklänge an den späten Prokofjew finden. Nicht immer geschieht dies so explizit wie in Teilen des Mittelsatzes, wenn deutlich der Beginn von Prokofjews Siebter Sinfonie anklingt, aber mindestens spürbar bleibt der Einfluss meistens doch, etwa in der Orchestrierung (man beachte etwa die Behandlung der tiefen Register). Der episodische Charakter der Sinfonie, teilweise eher an eine Abfolge von Szenen erinnernd, lässt insbesondere an Prokofjews Ballettmusik denken. Dagegen ruft die elegische, brütend-verhangene Grundstimmung, aber auch die Harmonik Mjaskowski in Erinnerung. Ähnlich wie im Harfenkonzert dominieren langsame Tempi, die hier aber freier, variabler und kontrastreicher ausgestaltet werden.

Ein bemerkenswertes Detail ist, dass Mossolow in dieser Sinfonie recht ausgiebig seine eigene Klaviersonate Nr. 2 aus den Jahren 1923/24 zitiert. Dies gilt speziell für den langsamen Satz, der mit einer Reminiszenz an den Beginn der Sonate beginnt, dann aber vor allem ihren zweiten Satz verwendet. Später wird relativ zu Beginn des Finales (1:34 in der vorliegenden Aufnahme) wiederum der Beginn der Klaviersonate zitiert, nun wortwörtlich. Also doch noch einmal ein Rückbezug auf den frühen Mossolow! Freilich kann eher nicht von einer Wiederaufnahme seiner Tonsprache aus jungen Jahren die Rede sein, denn in beiden Sätzen hört man auch den späteren, „diatonischen“ Mossolow, und immer wieder scheint zudem seine Tendenz zu einem recht ausgedünnten Satz bis hin zur Einstimmigkeit durch. Dies wirkt nicht immer einheitlich, und im Vergleich zur Sonate zeigt sich insbesondere, dass Mossolow weder die atmosphärische Dichte noch die Stringenz seines frühen Werks erreicht.

Für eine sowjetische Sinfonie des Jahres 1965 ist Mossolows Fünfte eher konservativ; zu jener Zeit war die stilistische Bandbreite in der Sowjetunion bereits erheblich größer als in Stalins letzten Jahren, und auch Atonalität war keine Ausnahme mehr. In ihrer elegisch-retrospektiven Grundhaltung ist Mossolows Sinfonie vergleichbar mit Schebalins Fünfter (1962) oder Wladimir Jurowskis Fünfter (1971), wobei Letztere ebenfalls Material aus den jungen Jahren ihres Schöpfers zitiert. Wenn man an Komponisten denkt, die in den 1930er Jahren in ähnliche Konflikte wie Mossolow gerieten (und nicht gleich Schostakowitsch nennen will), ist auch ein Vergleich mit Gawriil Popows Sechster (1969) reizvoll; diese Sinfonie, auch Festliche genannt, ist ein in Teilen beinahe irrwitzig überdrehtes Werk, fast eher die Persiflage einer Festlichkeit. Mossolows Fünfte erreicht nicht das Niveau dieser Sinfonien, nicht zuletzt, weil sie insgesamt zu uneinheitlich ist. Dennoch handelt es sich um das bislang interessanteste Werk Mossolows aus seinem Schaffen nach der Inhaftierung, auch wenn einige der besten Passagen wesentlich auf der frühen Klaviersonate beruhen.

Das Moskauer Sinfonieorchester spielt insgesamt solide, einige Intonationsprobleme hier und da sind letztlich nicht so gravierend, dass sie ein größeres Problem darstellen würden. Ärgerlicher ist, dass die Interpretation der Sinfonie recht pauschal gerät: zum Beispiel wirkt die große Kulmination kurz vor Schluss des ersten Satzes vorwiegend laut und wenig differenziert. So aber ereignet sich die Musik nur Takt für Takt; Linienführung, Dramaturgie und Steigerungen kommen zu kurz. Gerade bei einem Werk wie dieser Sinfonie, das schon an und für sich nicht immer ganz kohärent wirkt, wäre ein stringenterer, nuancierterer Ansatz wichtig. Ähnliches gilt für das Harfenkonzert, dessen lyrische Ausrichtung stark betont wird, was seine erheblichen Längen noch deutlicher erscheinen lässt und auf die Dauer eintönig wirkt. Natürlich gibt es keine Vergleichseinspielung, aber Wera Dulowa hat eine Aufnahme einer kurzen Tanzsuite für Harfe allein von Mossolow hinterlassen. Obwohl diese Suite eigentlich nicht sonderlich interessant ist (ihre Thematik besteht im Wesentlichen aus Allgemeinplätzen), zeigt die Nuanciertheit und Lebendigkeit von Dulowas Interpretation auf, dass auch aus dem Harfenkonzert noch mehr herauszuholen wäre. Der Klang der Aufnahmen ist ordentlich, aber etwas matt.

Nicht ganz zufriedenstellend ist auch das (ausschließlich in englischer Sprache gehaltene) Beiheft: auf zwei Seiten wird vorwiegend Mossolows Biographie geschildert, auf die beiden Werke auf dieser CD wird dagegen nur spärlich eingegangen (und teilweise ist die Auswahl der Informationen nicht recht nachvollziehbar – zum Beispiel wird verschwiegen, dass im Rahmen des im Beiheft erwähnten Konzerts am 26. Januar 2019 offenbar auch die Sinfonie uraufgeführt wurde). Es soll dabei natürlich nicht abgestritten werden, dass gerade im Falle Mossolows biographische Details von wesentlicher Bedeutung sind. Wenn aber das Beiheft zum Beispiel die Bezüge zwischen der Sinfonie und der Zweiten Klaviersonate nicht einmal erwähnt, dann ist das schade, von einer gründlicheren Analyse der eingespielten Werke ganz zu schweigen.

Trotzdem ist diese CD-Veröffentlichung verdienstvoll, denn sicherlich ist Mossolow als Phänomen interessant genug, um auch seinem späteren Schaffen Aufmerksamkeit zu schenken. Darüber hinaus besitzt die Fünfte Sinfonie durchaus reizvolle Passagen und zeigt, dass auch in Mossolows späterem Schaffen noch gewisse Entwicklungen zu beobachten sind, teilweise im Sinne einer Rückschau auf seine Anfänge.

[Holger Sambale, Januar 2021]