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Isolation und Schmerz

Supraphon, SU 4266-2; EAN: EAN: 0 99925 42662 0

Die neueste CD des tschechischen Pianisten Jan Bartoš beschäftigt sich mit dem Klavierwerk Leoš Janáčeks. Das Programm beginnt mit der Sonate „1.X.1905“, wandert „Auf verwachsenem Pfade“ und „Im Nebel“ hin zu seinem Studienwerk Thema con Variazioni und endet mit seinem letzten Klavierstück, Reminiscence.

Obgleich das Klavieroeuvre von Leoš Janáček vergleichsweise überschaubar ist, umfasst es doch einige seiner intimsten und überwältigendsten Werke. Auf der vorliegenden CD wird die stilistische Vielfalt der Werke frappierend deutlich. Das frühe Thema con variazioni weist noch klassische Züge auf und diente in erster Linie Studienzwecken; doch der Komponist war so angetan von ihr, dass er sie später als sein Opus 1 bezeichnete. In den einzelnen Variationen ahmt Janáček den Stil verschiedener Komponisten nach, so dass Brahms, Liszt, Mendelssohn und andere je in einem der knappen Abschnitte nachklingen. „Auf verwachsenem Pfad“ eröffnet die Phase, in der sämtliche heute nachwirkenden Klavierwerke Leoš Janáčeks entstanden. In dieser Zeit floppten mehrere Opern des Komponisten, persönliche und politische Schicksalsschläge machten ihm zu schaffen: Am Klavier verarbeitete er vieles. Janáček intendierte wohlgemerkt als junger Mann, eine Pianistenkarriere anzustreben, bevor das Komponieren ihn für sich in Beschlag nahm. „Auf verwachsenem Pfade“ besteht aus insgesamt fünfzehn relativ kurzen Charakterstücken, die in drei Etappen entstanden: 1900 schrieb Leoš Janáček sieben Nummern ursprünglich für Harmonium, von denen er zwei wieder strich, 1908 folgten fünf weitere sowie die poetischen Titel der nunmehr zehn Nummern und 1912 arbeitete er an der zweiten Reihe, von der manches allerdings erst nachträglich durch den Hausausgeber auf Basis von Skizzen fertiggestellt wurde. Jan Bartoš entschied, nur die zwölf von Janáček selbst fertiggestellten und für die Reihe vorgesehenen Stücke auf CD zu brennen. Der Tod von Janáčeks Tochter Olga war sicherlich maßgeblich für einige der Nummern, die immer wieder in tiefe Resignation und düstere Einsamkeit zurückkehren. Noch beklemmender wirkt die Sonate „1.X.1905“, die der Komponist in einem Anflug an Selbstzweifel in die Moldau warf. Sie beschreibt die stürmischen Demonstrationen im Oktober 1905, die im tragischen Tod eines jungen Arbeiters kulminierten. In der todesnahen Tonart es-Moll gehalten, wühlt die Sonate auf und bestürzt zugleich. Zu Beginn hören wir eine isolierte Melodie im Sopran, der eine weltfremde Arpeggio-Begleitung beigegeben wird; in der Mittelstimme funkt ein peitschenartiges Motiv dazwischen, das immer weiter aufbegehrt, bis es die Oberhand gewinnt. Die Aufteilung in drei derartige Ebenen ist typisch für Janáček, doch selten derart unmittelbar wie hier; besonders auch im weiteren Verlauf, wo triolische und duolische absteigende Linien sich aneinander reiben und den letzten Funken Hoffnung in die Tiefe treiben. Der zweite Satz kreist ewig um das immer gleiche Motiv, bevor ein grollender Bass die trübe Stimmung in blanke Angst kippen lässt. Janáček schrieb einen dritten Satz, den er allerdings von der Premiere in den Kamin warf. Die Pianistin dieser Premiere war es, die viele Jahre später eine Abschrift der ersten zwei (also diejenige der aufgeführten) Sätze fand und publizierte. „Im Nebel“ erkundet wieder neue Klänge und Wirkungen, gerade die ersten beiden Sätze arbeiten mit unwirklichen Schwebungen und undurchdringbaren Wendungen, wenngleich das Notenbild äußerst geordnet aussieht. Im Finale bricht der fatale Realismus aus und zerbricht die aufgebaute Stimmung. Bedrückte Rückblicke an vergangene Schicksalsschläge, Verarbeitung und Resignation bestimmen das Bild der vier kurzen Nummern. Auch Janáčeks letztes Klavierstück, Reminiscence, verweilt in dieser Melancholie.

Der Pianist Jan Bartoš begegnet jedem der Werke auf eine eigene Weise. Im frühen Variationswerk lässt er einen beinahe klassischen Geist à la Beethoven oder Mendelssohn auferstehen, bleibt klar und virtuos in der Melodieführung. Die romantischen Miniaturen des Zyklus‘ „Auf verwachsenem Pfade“ erhalten unter Bartoš‘ Fingern eine zarte, melancholische, aber nicht verträumte Art, bei der die Transparenz gewahrt bleibt. Janáčeks Dreistimmigkeit kommt dabei gut zum Tragen, Bartoš setzt die parallel ablaufenden und zugleich gegensätzlichen Welten deutlich voneinander ab. Die selbe Klarheit leiht Bartoš auch der Klaviersonate 1.X.1905, deren brachiale Gewalt er in den Hintergrund stellt, um dafür die Isolation und den Schmerz zu fokussieren. Mit einem Minimum an Kraft und mit gewisser persönlicher Distanz will Bartoš die größtmögliche Wirkung entfalten. Hineinziehen in die Musik lässt sich der Pianist nur in den ersten beiden Sätzen von „Im Nebel“, deren Unmittelbarkeit niemand entrinnen kann. Hier gelingt ein sensibel-fragiles Spiel, wie man es von gelungenen Debussy-Aufnahmen kennt; in den letzten beiden Sätzen kehrt er zu seinem präzisen und mit einfachen Mitteln enorm geladenen Spiel zurück.

[Oliver Fraenzke, August 2019]

Die verwehrten Orchestersuiten

Supraphon: SU4194-2; EAN: 0 99925 41942 4

Leoš Janáček: Orchestral Suites; Jenůfa, Kát’a Kabanová, Fate; Prague Radio Symphony Orchestra, Tomáš Netopil (Leitung)

Leoš Janáček schrieb keine Orchestersuiten zu seinen Opern, zahlreiche Komponisten lieferten sie nach. Drei dieser Neuzusammensetzungen hören wir auf vorliegender CD mit dem Prague Radio Symphony Orchestra unter Tomáš Netopil: Jenůfa, Kát’a Kabanová und Fate.

Oft gelangen die Orchestersuiten, die Komponisten aus ihren Opern oder Bühnenmusiken ziehen, zu wesentlich größerer Bekannt- und Beliebtheit, als diejenigen Werke, aus denen sie entstammen. Griegs Suiten aus Peer Gynt geben ein deutliches Beispiel: die Bühnenmusik wird fast nie als Ganzes aufgeführt. Auch Komponisten wie Richard Strauss machten sich die Form der Orchestersuite zunutze, um den Einfluss ihrer Opern auch in die Konzertsäle zu bringen.

Leoš Janáček gilt als grandioser Opernkomponist und dennoch werden seine Bühnenwerke außerhalb Tschechiens vergleichsweise selten programmiert: Eine Opernproduktion ist aufwändig und teuer, das Singen in tschechischer Sprache eine zusätzliche Aufgabe für die Sänger. Als logische Konsequenz reichen zahlreiche Komponisten Zusammenstellungen aus den Opern nach, die uns Leoš Janáček verwehrte, wobei sie auf Sängerpartien oder Bühnengeschehen verzichten. Dies ermöglicht uns, eine Auswahl an „Highlights“ aus den Bühnenwerken auch auf dem Konzertpodium zu erleben, was sich leichter realisieren lässt, als eine Opernaufführung.

Tomáš Netopil leitet uns durch die musikalische Welt seines Landsmannes, bringt dabei zahllose Stimmen aus dem Geflecht hervor und lässt sie miteinander und gegeneinander wirken. Die einzelnen Titel aus den Opern besitzen innere Geschlossenheit, manche aufgeladen mit wirkungsvoll magischem Klang. Die Übergänge verbinden die Nummern größtenteils geschickt, ohne übermäßig mit dem Fluss zu brechen.

[Oliver Fraenzke, Juli 2018]

Urgewalt aus Tschechien

Supraphon, SU 4221-2; EAN: 0 99925 42212 7

Streichquartette der Wiener Klassik sind vom Vlach Quartett (Josef Vlach, Václav Snítil, Josef Kod’ousek und Viktor Moučka) in historischen Aufnahmen für Supraphon zu hören. Neben Mozarts d-Moll-Quartett KV 421 spielen die vier Tschechen die Quartette Nummer eins bis sieben sowie vierzehn von Ludwig van Beethoven.

Nachdem Supraphon im vergangen Jahr mit den „Legendary Recordings“ des Tschechischen Kammerorchesters unter Josef Vlach eine wahrhaft „legendäre“ Wiederentdeckung gelungen ist, legen sie nun nach: Auf vier CDs sind Streichquartette von Mozart und Beethoven mit dem Vlach Quartett zu bewundern. Durch Aufnahmen aus drei Jahrzehnten wird die lange Blütezeit der vier Musiker umfangreich dokumentiert. Gerade der Blick auf diese bekannte Standardliteratur legt den enormen Unterschied zwischen dem tschechischen Quartett unter Josef Vlach und der großen Mehrheit routinierter und zumeist uninspirierter Darbietungen mittelprächtiger Musiker offen.

Die Quartette werden durch und durch mit Energie erfüllt, das spannungsgetragene Knistern wird förmlich spürbar. So voller Feuer und doch in höchstem Grade sensibel und feinfühlig! Jede noch so scheinbar beiläufige Wendung erhält Leben und Sinn, jede Wendung wird nachvollziehbar und souverän durchschritten. Schwerfälligkeit ist nicht im geringsten zu vernehmen, die Quartette erstrahlen in spielfreudiger Gelassenheit und vor allem in einem: in Natürlichkeit. Hier werden Urgewalten geweckt, die unartifizieller nicht ausgedrückt werden könnten. Geradezu scheint es, als würden die Werke erst im Spielen entstehen, wobei eine innere Logik alle Quartette von der ersten bis zur letzten Note zusammenhält.

Es gibt wenig hinzuzufügen zu diesen exzellenten Aufnahmen, angesichts deren überragender Qualität ich mir mehr Vergleichbares wünschen würde. Hier wird deutlich, was Intuition und Liebe zur Musik in Kombination mit intensivster Arbeit an musikalischen Belangen ausmacht. Es entsteht etwas, das über rein mechanische Perfektion und technische Aspekte wie auch über genauestes und bewusst durchstrukturiertes und ausgehörtes Zusammenspiel – was zweifelsohne hier gegeben ist – hinausgeht: Es entsteht wahrhaft Musik.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2017]

 

 

 

 

Ebenso solide wie unspektakulär

Leoš Janáček: Orchestersuiten aus Jenůfa, Kátia Kabanová und Osud („Schicksal“)
Prague Radio Symphony Orchestra – Tomáš Netopil

Label: Supraphon (Vertrieb: note1); Art.-Nr.: SU4194-2 / EAN: 099925419424

Eine neue CD des wunderbaren Labels Supraphon aus Prag stellt drei Orchestersuiten aus Opern Leoš Janáčeks vor. „Moment mal!“, denkt sich da der geneigte Janáček-Fan: Janáček hat ja aus seinen drei Opern Jenůfa, Kátia Kabanová und Osud („Schicksal“) gar keine Suiten ausgekoppelt. Kein Problem, denn das haben andere erledigt: Osud hat František Jílek zusammengestellt, Kátia Kabanová Jaroslav Smolka und als jüngstes Beispiel für diese Art der Janáček-Opernmusik-Zweitverwertung hat sich der Dirigent Manfred Honeck der Oper Jenůfa angenommen, deren Orchestersuite er zusammen mit Arrangeur Tomáš Ille verwirklicht hat.

Man mag zu dieser Herangehensweise stehen, wie man will. Fakt ist: Sie macht auf kompakte und recht unterhaltsame Art Musik Janáčeks zugänglich, die sich sonst als Intermezzo oder kurzes Verbindungsglied in den Weiten großer Opernpartituren verbirgt und im großen Werkzusammenhang eines Bühnenstücks manchmal ein Schattendasein fristet.

Die noch stark spätromantisch angehauchte Jenůfa bietet – sicherlich auch dank ihres dörflichen Sujets, in dem es vor Anklängen an die tschechische Folklore nur so wimmelt – reichlich musikalisches Material, das sich gut für eine Suite eignet. Die von Honeck und Ille unterbrechungsfrei angelegte musikalische Sause vollzieht allerdings manch ungelenke Wendung, die wohl daher rührt, dass man sich bemühte, möglichst wenig Musik hinzu zu komponieren, um die einzelnen Teile miteinander verbinden zu können. Ille hat die Suite zwar nicht chronologisch angelegt, sondern in Art einer musikalischen Collage, trotzdem gelang es nicht vollauf überzeugend, ein musikalisches Konstrukt, ein großes Ganzes, zu bilden, das man als eigenständiges Werk schätzen kann.

Die Oper Kátia Kabanová wurde erst spät durch Charles Mackerras in ihrer originalen Form samt den verschollen geglaubten Orchester-Intermezzi auf die Bühne gebracht. Suiten-Arrangeur Jaroslav Smolka hat diese Intermezzi offenbar noch nicht gekannt und konzentrierte sich auch auf solche Teile der Oper, bei denen in der Suite die Trompete den Gesang substituiert. Das Ergebnis wirkt sehr atmosphärisch und durchaus überzeugend. Nach heutigem musikwissenschaftlichen Standard verzichtet die Suite aber auf reizvolles Material. Und so müsste man im Prinzip eine Suite zu dieser Oper heute ganz neu zusammenstellen.

Osud („Schicksal“) wurde zu Janáčeks Lebzeiten als zu komplex für die Bühnenaufführung empfunden (einmal ganz abgesehen davon, dass auch das Libretto seinerzeit verstörte, das sich unter anderem mit den Themen Prostitution und Selbstmord beschäftigt). Die Oper kam erst 30 Jahre nach dem Tod des Komponisten durch den Dirigenten František Jílek zur Aufführung. Jener bearbeitete das Werk wohl ziemlich freimütig und schichtete ganze Etappen des Handlungsverlaufs um. Dies bot ihm quasi „nebenbei“ eine ideale Grundlage für die Zusammenstellung der hier zu hörenden Suite, die – das hört man ziemlich schnell – der überzeugendste Beitrag auf der vorliegenden CD ist, wenn man einmal von dem ziemlich überraschenden, völlig abrupt einsetzenden Schluss absieht, bei dem man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, dass da etwas „fehlt“.

Die Leistung des Prager Radio-Sinfonieorchesters ist auf diesem Album im Prinzip solide und ohne Tadel, lässt es aber – womöglich auch aufgrund der etwas holzschnittartigen Einstudierung durch Tomáš Netopil – zuweilen an emotionalem Zugriff vermissen. Die deftigen Sachen wünschte man sich deftiger, die zarten Sachen zarter, die heiteren Sachen heiterer, das Gewitter aus Osud bedrohlicher, usw. Der etwas weitschweifige Booklet-Text erzählt viel über die Opern, aber frappierend wenig über die Entstehung der hier zu hörenden Suiten, die ja doch im Zentrum dieses Albums stehen. Wenn es ein Schulaufsatz wäre, würde mal wohl sagen: „Am Thema vorbei“. Die Klangqualität der Aufnahme von den Tonmeistern des tschechischen Rundfunks ist ebenso solide (aber zugleich auch ebenso unspektakulär) wie die gesamte Produktion. Fazit: Ein Album, das wohl vor allem die ganz eingefleischten Janáček-Jünger brauchen, die alles andere schon haben.

[Grete Catus, Dezember 2016]

[Rezensionen im Vergleich] Vlach: Ein Meister aus Tschechien

Josef Vlach und das Tschechische Kammerorchester
Stanislav Duchoň, Oboe; Ilya Hurník, Klavier; Karel Patras, Harfe

Henry Purcell: Suite aus ‚King Arthur’ für Streicher
Wolfgang Amadeus Mozart: Divertimento D-Dur KV 136, Eine kleine Nachtmusik KV 525, Adagio und Fuge c-moll KV 546
Pjotr Tschaikowsky: Andante cantabile aus dem 1. Streichquartett op. 11, Serenade C-Dur op. 48
Antonín Dvořák: Serenade E-Dur op. 22, Tschechische Suite op. 39
Claude Debussy: Danse sacrée et danse profane
Josef Suk: Serenade Es-Dur op. 6
Ottorino Respighi: Gli Uccelli
Igor Strawinsky: Apollon musagète
Benjamin Britten: Variations on a Theme of Frank Bridge op. 10
Jiří Pauer: Symphonie für Streicher (1978)
Ilya Hurník: Konzert für Oboe, Klavier und Streichorchester (1954/59)

Supraphon SU 4203-2 (4 CD-Box) (EAN: 099925420321)

Josef Vlach (1923-88) gilt den traditionsbewussten tschechischen Musikern als der legitime Fortführer einer authentischen Linie, die sich von Antonín Dvořák, Josef Suk und Václav Talich als seinem direkten Vorläufer bis heute zu Jiří Bělohlávek (heute Chefdirigent der Tschechischen Philharmonie) und dessen Schüler Jakub Hrůša (der jetzt im Herbst seine Stellung als Chefdirigent der Bamberger Symphoniker antritt) erstreckt. Das kann man hören! War Talich der bis heute bedeutendste Dirigent Tschechiens, so ist Vlach nicht nur in Bezug auf seine verfeinerte natürliche Muskalität der Nachfolger Talichs, er übernahm als hervorragender Geiger auch aus dessen Händen das Tschechische Kammerorchester, das er fortan vom Konzertmeisterpult aus leiten sollte (leider sind keine Mitschnitte des Streicherensembles unter Talich erhalten). Unter Vlach wurde das Tschechische Kammerorchester denn auch zu einem der weltweit anerkannt führenden Streichorchester, vergleichbar den Busch Chamber Players, dem Kammerorchester Edwin Fischers in der Schweiz, dem Niederländischen Kammerorchester unter Szymon Goldberg, der Salzburger Camerata unter Sándor Végh oder später dem finnischen Ostrobothnian Chamber Orchestra unter Juha Kangas – als einer jener unverkennbaren Klangkörper, die von einem herausragenden Künstler geformt und in jeder Hinsicht sowohl zu bestechender Makellosigkeit angehalten wurden als auch eine ganz spezifische Klang- und Ausdruckskultur verkörperten. Was ist typisch für Vlachs Tschechisches Kammerorchester? Der dunkel abgetönte Klang, der zwar die Oberstimmen sich wunderbar entfalten lässt, jedoch immer die Mittel- und Unterstimmen ebenso lebendig mitwirken und zur Geltung kommen lässt – gerade auch die Bratschen und Celli sind ganz wunderbar sowohl hinsichtlich der Gruppenhomogenität als auch der technischen und tonlichen Vollendung: also ein Fundament, das vital trägt und von den Geigengruppen umso höhere Qualität fordert – denn, wenn die Tiefe so sauber und klar ist, hört man umso unvermeidlicher jede Trübung und Unkultiviertheit in der Höhe. Das Ganze hat einen großartig geschlossenen Ausdruck, die Phrasierung jeder Stimme ist so einheitlich, als spielte jeweils ein großes Instrument. Hinzu kommt jene besondere Wärme, Empfindsamkeit und lyrische Leidenschaftlichkeit auch in den verträumtesten und introvertiertesten Episoden, und jene subtil beschwingte Musikanterie, wie sie den Tschechen wie keinem anderen Volk zu eigen ist – eine Süße auch, die etwas herber und viel unschuldiger ist als etwa jene des Wiener Stils. Über allem liegt ein unaussprechlicher Zauber, ein Geheimnis der Beseeltheit, ein wunderbar ausgeglichenes Verhältnis von immerwährendem Gesang und nie ins Mechanische umkippendem noch erlahmenden Rhythmus. Das Schnelle wird nicht hart und hysterisch, das Langsame badet nicht in haltlosen Emotionen – es ist also auch jener Schuss Nüchternheit dabei, der nichts mit sachlicher Kälte zu tun hat (dies beispielsweise eine Gefahr deutscher Ensembles), der aber die durchgehende Orientierung am strukturell Wesentlichen ermöglicht. Auch der Humor bleibt fein, und die Kunst der Übergänge zeugt von großer innerlicher Beweglichkeit und agogischer Flexibilität. Alles Zeichen einer Kultur im Höchststand.

Vlachs Mozart ist kraftvoll, vital, und dabei stets auch transparent, klar artikuliert ohne die auch bei den Wienern so übliche redundante Betonung der schweren Taktzeiten, und die Leichtigkeit ist weniger eine Sache des Klangs an und für sich als der Beweglichkeit der Gestaltung. Ganz großartig ersteht Adagio und Fuge in c-moll, man fühlt sich in die barocke Welt des Introitus und Kyrie aus Mozarts Requiem versetzt. Und auch von der Kleinen Nachtmusik kenne ich keine natürlicher und treffsicherer ausgeführte Aufnahme.

Bei Dvořák und Suk ist man ganz zuhause. Das kann nicht authentischer verstanden werden. Wie bei Dvořák wird es auch bei Tschaikowsky nie billig, langweilig, sentimental oder mechanisch, sondern fesselt mit einer Würde, Grazie und unaufgesetzten Tiefe der Empfindung, wie dies kaum irgendwo der Fall ist. Auch zeigt sich hier endlich einmal wieder, was für einmalige, in einer adäquaten Aufführung unübertreffliche Meisterwerke die beiden berühmten Serenaden von Dvořák und Tschaikowsky sind. So gespielt, wenn eine solche Fülle und Lebenskraft sogar noch auf einer antiquierten Aufnahme rüberkommt, kann man nur bedauern, dass man es nie wieder im Konzert wird hören können!

Henry Purcells King Arthur-Suite werden Verfechter der heute landauf landab eingesickerten ‚historischen Aufführungspraxis’, also einer philologisch aus dem Notenbild und schriftlich überlieferten Berichten und Anleitungen abgeleiteten hypothetischen Herangehensweise, in der hier zu hörenden Art und Weise entschieden ablehnen. Was sie dabei überhören, ist bei allen gewiss vorhandenen Relikten romantischer Tradition die wendige Phrasierung, die sich natürlich nicht in spritziger Kleinteiligkeit verzettelt, sondern stets den Blick aufs Ganze heftet, wie auch die beseelte Sanglichkeit und rhythmische Urkraft, die nicht gestelzt prätentiös von Höckchen zu Stöckchen hüpft, sondern aus dem zugrundeliegenden Momentum schöpft.

Von Ottorino Respighis ‚Gli Uccelli’ habe ich nie auch nur annähernd so zauberhafte und bis ins Zerbrechlichste vitale Aufführung gehört. Man achte zum Beispiel nur einmal darauf, wie unwiderstehlich sich das neobarocke Rustico in ‚La Gallina da Jean-Philippe Rameau’ artikuliert und entfaltet.

Auch Benjamin Brittens kapriziöse Frank Bridge-Variationen und Igor Strawinskys aparte Farben- und Gestenwelt ‚Apollon musagète’ erfahren mustergültig organische, in jedem Moment wunderbar feine und klar charakterzeichnende Darbietungen. Sehr schön auch, wenngleich nicht ganz so am Kern des Idioms, die beiden stilisiert schreitenden Tänze Debussys mit dem Harfensolisten Karel Patras.

Bleiben die beiden tschechischen Meister, die hierzulande heute kaum jemand kennt. Ilya Hurník (1922-2013) erweist sich als musikantischer Architekt eines dissonanzgewürzten, kurzweiligen, dabei aber in klarer Formgebung verankerten Neobarock mit einem spezifisch böhmischen Einschlag, wie wir das – in ornamentisch komplexerer Faktur – auch teilweise von Martinů kennen. Sein Konzert ist viersätzig, mit entschieden kontrastierenden Charakteren, mit einem spielerisch filigranen Element auch bei harter, kurz abgerissener Artikulation, und außer dem ausgezeichneten slowakischen Oboisten Stanislav Duchoň wirkt der Komponist selbst am Klavier mit, was uns natürlich auch ahnen lässt, wie sehr die Musik hier im Sinne des Komponisten erarbeitet wurde. Diese Musik mag nicht groß sein, doch sie bietet mehr als distinguierte Unterhaltung und einprägsame Gesten.

Ein anderes Kaliber freilich noch ist Jiří Pauer (1919-2007), dessen reife Symphonie für Streicher das Zeug hätte, auch heute noch eine effektvolle Bereicherung des Streicherrepertoires zu sein. Pauer knüpft an das Bartók’sche Barbaro an, mit wuchtigen, dissonanzfreudigen Akkordbildungen, sehr zielstrebig angelegten Steigerungen, couragierten Schichtungen und einer die Entwicklungen offenkundig gliedernden, klar formulierten Motivik, die an und für sich die geringste Leistung des Komponisten ist. Es sind eindeutig nicht die etwas unbedeutenden markanten Motive, die die Qualität dieser Musik ausmachen, sondern die Art ihrer Durchführung. Der große langsame Mittelsatz eröffnet eine andere, tragische Einsamkeit auslotende Welt – man kann hier gar an Schostakowitsch denken –, doch der originelle Aufbau beinhaltet einen plötzlichen Scherzo-Ausbruch, dem – zunächst wie ein Trio scheinend – eine äußerst leidenschaftliche, getragene melodische Entfaltung folgt, die sich zu höchster Spannung steigert. Überraschenderweise kehrt das Scherzando nicht wieder, sondern der Abbau der Spannung leitet direkt in das breite Haupttempo über, in welchem das ergreifende Stück endet. Auch im schnellen Schlusssatz sind es erhebliche Tempo- und Strukturkontraste, die unerwartet eintreten und das Werk mit ganz eigenem Leben erfüllen. Darüber sieht man gerne über einige vielleicht allzu oberflächliche Effektfolgen hinweg, die zunächst sehr animierend wirken können, sich jedoch bei öfterem Hören, wenn es nicht so fantastisch gespielt wird wie wir, auch schnell abnutzen könnten. Dieser Einwand gilt aber auch für eine Vielzahl von Musik, die regelmäßig in unseren Konzertsälen zu hören ist. Den Namen Pauer sollte man sich merken, denn es gibt nicht gar so viel Musik auf solchem Niveau in der tschechischen Musik seit Martinů.

Fazit: eine grandiose Box von einem der besten Ensembles in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, das mit einer Eindringlichkeit und charakterfesten Unbedingtheit, auch einem ausgesprochen fein geschulten Korrelationsvermögen und höchstkultivierter Abstimmung in allen Bereichen agiert. Jeder Streichorchesterleiter sollte diese Aufnahmen kennen. Auch die klangliche Aufbereitung der Aufnahmen aus den Jahren 1960-81, die davon profitiert, dass diese bereits damals exzellent verwirklicht wurden, ist sehr ansprechend, rund, brillant und natürlich. Und der Booklettext von Petr Kadlec erzählt in sehr anrührender Weise die Geschichte Vlachs und seines Kammerorchesters.

[Christoph Schlüren, August 2016]

[Rezensionen im Vergleich] Wahrhaft legendäre Aufnahmen

Supraphon, SU 4203-2; EAN: 0 99925 42032 1

„Legendary Recordings“ des tschechischen Violinisten und Dirigenten Josef Vlach erschienen nun bei Supraphon. Vier CDs mit Aufnahmen von Antonín Dvořák, Josef Suk, Wolfgang Amadeus Mozart, Pjotr Iljitsch Tschaikowski, Benjamin Britten, Claude Debussy, Ilja Hurník, Jiří Pauer, Henry Purcell, Ottorino Respighi und Igor Strawinsky enthält die Box. Es spielt das Czech Chamber Orchestra, teils unterstützt durch das Prague Chamber Orchestra (Dvořák Op. 39 und Respighi), die Solo-Harfe in Debussys Tänzen übernimmt Karel Patras, in Hurníks Konzert für Oboe, Klavier und Streicher ist Stanislav Duchoň der Solist, Hurník ist selbst am Klavier zu hören.

 

Seinerzeit ein international legendärer Musiker, heute nur Liebhabern ein Begriff: Josef Vlach. Der 1923 geborene Tscheche studierte unter anderem bei Stanislav Novák und arbeitete intensiv mit Václav Talich zusammen, auch nach der Auflösung des damaligen (ersten) Tschechischen Kammerorchesters, welches Talich leitete. 1950 gründete Vlach das Vlach-Quartett, das bis 1957 bestand – aus ihm kristallisierte sich auch ein Kammerorchester heraus, welches nach dem ersten Konzert auf Wunsch Talichs den bis dahin mit ihm verbundenen Namen Tschechisches Kammerorchester annahm. Das Kammerorchester feierte europaweit riesige Erfolge in den 1960er- und 70er-Jahren. Vlach war bei all seinem Perfektionismus mit stundenlangen Proben und intensivster Vorbereitung doch als freundschaftlich-kameradschaftlicher und ruhiger Leiter geschätzt, so dass alle Proben freiwillig und ohne Druck stattfinden konnten (in der Freizeit der anderweitig hauptberuflichen Musiker!). Zwei Sätze Vlachs seien aus dem informativen Booklettext von Petr Kadlec zitiert, um einen Eindruck von seiner Maxime zu gewinnen: „Wir waren jung, nicht vom Professionalismus verdorben, Intrigen und Neid waren uns unbekannt und wir litten nicht unter ungesundem Stolz; wir behandelten einander gleich und fühlen uns alle frei.“; „Der Gemeinschaft zu dienen heißt auf egoistische Selbstgefälligkeit zu verzichten, nicht ich – sondern wir…“.

Beinahe unerhört scheint der Orchesterklang unter Josef Vlach, es herrscht eine durchgehende Wärme und eine spürbar tiefe Liebe zur Musik, eine stetige geistige Präsenz und eine Dichte, die jede Stimme als Individuum aufleben lässt und so ein atmend-pulsierendes Ganzes schafft von einer Qualität, von der man heute meist nur träumen kann. Schnell wird klar, was Vlach damit meinte, nicht vom Professionalismus verdorben zu sein: Es ist absolut keine Routine in den zu hörenden Aufnahmen zu vernehmen, die Musik entsteht frei und ohne jede Art von Mechanisierungen, sie ist im Moment empfunden und gelebt.

Wirklich überrascht war ich vor allem von Mozart (Divertimento in D-Dur KV 136, Adagio und Fuge c-Moll K 546, Eine kleine Nachtmusik KV 525), noch nie durfte ich seine Musik auf eine so durchreflektierte und durcherlebte Weise hören, die eine Frische hat, als würden die Stücke gerade eben das erste Mal das Licht der Welt erblicken. Den flächigen, weichgezeichneten Klang, welcher heute die Rezeption bestimmt, sucht man vergebens, Vlach lässt auch die herben Kontraste hervorscheinen. Gerade im grandiosen Adagio und Fuge c-Moll KV 546 kann er damit den Hörer erschüttern, hier zeigt sich Mozart von seiner progressivsten und wildesten Seite – und Vlach denkt nicht daran, dies zu glätten.

Ein wahres Heimspiel sind selbstverständlich Dvořák und Suk, die in spielerischer Leichtigkeit und mit größter Spielfreude erklingen. Aber auch die modernen Tschechen, die hier zu hören sind, können überzeugen: Ilja Hurník und Jiří Pauer. Wer sich von der idiotischen Diffamierung solcher ‚klassizistischen’ Musik als „Anachronismus“ lösen kann und auch eine definierbare Form und Struktur in moderner Musik akzeptiert, wird hier zwei großartige Komponisten für sich entdecken. Beinahe eine Haydn’sche Beschwingtheit und Leichtigkeit durchzieht das Konzert für Oboe, Klavier und Streichorchester von Hurník, nur wesentlich dichter und komplexer, gerade im Kopfsatz. Der Komponist sitzt selbst am Klavier, welches allerdings nicht solistisch auftritt, Stanislav Duchoň spielt die Oboe. Die Musik Pauers spielt mit Changierungen zwischen grellen Dissonanzen und sanften Entspannungen, immer in einer gewissen Doppelbödigkeit, in der teils durchaus ein beinahe sarkastischer Zug erkennbar ist, fast schon an Schostakowitsch gemahnend.

Wahre Klangmagie prägt die Serenade C-Dur Op. 48 von Tschaikowsky, ein sanfter Schleier verhüllt frei agierende Klanggewalten in gar unschuldig erscheinender Tanz-Geste, desgleichen im Andante cantabile – hier singt es wirklich! – aus dem ersten Streichquartett Op. 11.

In unserer Zeit entsteht immer mehr eine tiefe Kluft zwischen alter und neuer Musik, Hochschulen wie auch die Musikwissenschaft sind in zwei Lager gespalten. Wie wenig Sinn solch eine Trennung ergibt, stellt Vlach unmissverständlich klar, bei Purcell und auch dem historisierenden Respighi (Gli Uccelli, eine Suite für kleines Orchester, die Musik des 17. und 18. Jahrhunderts paraphrasiert) wie bei Britten, Debussy (Karel Patras an der Solo-Harfe) oder Strawinsky. Vlach und sein Orchester teilen die gleiche Liebe für jede Musik, wie das breit aufgestellte Spektrum auch beschaffen sei.

Gesondert über die Streichersolisten zu sprechen, macht in dieser Aufnahme – ebenfalls für heutige Einspielungen undenkbar – wenig Sinn, derart integriert sind sie in den lebendigen Orchesterklang und teilen die selbe Freude und Zuneigung zur Musik mit dem Ensemble.

[Oliver Fraenzke, August 2016]