Schlagwort-Archive: Pjotr Iljitsch Tschaikowski

Bewährtes in erfreulicher Darbietung

Wer sich am 17. November 2021 im SAL (Saal am Lindaplatz) in Schaan, dem größten Ort Liechtensteins, einfand, oder die Aufführung als Direktübertragung im Netz verfolgen konnte, hatte die Gelegenheit, das Sinfonieorchester Liechtenstein unter der Leitung Wayne Marshalls, des ehemaligen Chefdirigenten des WDR Funkhausorchesters Köln, mit Kompositionen Edvard Griegs und Pjotr Tschaikowskijs zu hören. Zur Aufführung kamen Griegs Peer-Gynt-Suite Nr. 1 op. 46 und sein Klavierkonzert a-Moll op. 16 sowie Tschaikowskijs Symphonie Nr. 6 h-Moll op. 74, die Pathétique. Solistin des Abends war die 17-jährige Eva Gevorgyan.

Die Werke erfuhren eine Wiedergabe, der man eine sorgfältige Vorbereitung anhörte. Offenbar sind die Musiker nicht der Auffassung gewesen, dass solch allseits bekannte und seit je populäre Stücke sich gleichsam „von selbst“ spielen und routiniert bewältigt werden können. Wayne Marshall hat hier nichts dem Zufall überlassen. Der Dirigent erwies sich als fähiger Klangmodellierer, der die einzelnen Orchestergruppen gut aufeinander abzustimmen versteht. So blieb die Interaktion der Stimmen ebenso durchweg nachvollziehbar wie die Vielschichtigkeit der orchestralen Farbgebung deutlich wurde. Gerade die pittoreske Instrumentation der Peer-Gynt-Suite kam trefflich zur Geltung. Bei der Wahl der Tempi legte Marshall Wert auf beständigen Vorwärtsdrang. Ein Schwelgen in „schönen Stellen“, ein Aufbauschen von Ritardandi oder ein extremes Rubatospiel sind seine Sache nicht. So ließ er etwa im Finale des Griegschen Klavierkonzerts den lyrischen Kontrastabschnitt verhältnismäßig zügig spielen (was dem Zusammenhalt des Satzes gut tat), und auch die langsameren Peer-Gynt-Stücke klangen auffallend stringent. In der Halle des Bergkönigs ließ er die Trolle dagegen zunächst betont schwerfällig einher trotten und steigerte damit die Wirkung des abschließenden Accelerandos. Die Wiedergabe der Pathétique überzeugte ebenfalls durch klug gewählte Tempi. Nirgends klang es übereilt, nirgends ging der Spannungsbogen verloren. Die scharfen Kontraste im Kopfsatz wurden deutlich herausgestellt, ohne dass das Stück in Episoden zerfiel. Den Finalsatz hörte man als strengen, schicksalhaften Abschluss.

Eva Gevorgyans Klavierspiel harmonierte trefflich mit Marshalls Dirigat. Die junge Pianistin besitzt ein Gespür für Melodie und verfügt über einen abwechslungsreichen Anschlag. Dass sie im Orchester einen Partner sieht, mit dem das Soloinstrument zusammenwirkt, zeigte sich daran, dass sie, auch wenn das Orchester nur dezent begleitete und sie brillieren durfte, die Orchesterinstrumente deutlich durchdringen ließ. Der Walzer von Chopin, den sie als Zugabe spielte, gefiel durch geschmackvolles Rubatospiel.

Auch wenn sich das Konzert nicht durch ein besonders originelles Programm ausgezeichnet hat, so bot es doch Aufführungen, die geeignet waren, die Freude an den wohlbekannten Werken wach zu halten. Das Publikum dankte mit warmherzigem Beifall.

[Norbert Florian Schuck, November 2021]

Singende Tasten

Ars Produktion Schumacher, ARS 38 509; EAN: 4 260052 385098

Auf der nunmehr neunten CD von Boris Bloch, die bei Ars Produktion Schumacher erscheint, widmet sich der Pianist der Musik Protr Iljitsch Tschaikowskis. Zentrum der Aufnahme ist der große Zyklus „Die Jahreszeiten“ op. 37bis, ergänzend spielt er die Romante f-Moll op. 5, Natha-Valse op. 51/4, Dumka op. 59, Momento lirico (Impromptu) op. post, Valse sentimental op. 51/6, und das Wiegenlied op. 16/1. Auf dem unterschätzten späten Zyklus der 18 Stücke op. 72 hören wir die Nummern acht, Dialogue, und fünfzehn, Un poco di Chopin.

Tschaikowski teilt den Fluch vieler großer Symphoniker des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, dass ihre nicht-symphonischen Werke recht stiefmütterlich behandelt werden – besonders oft ist es die Klaviermusik, die man vergisst oder deren Werk man unterschätzt. Sibelius und Dvořák geben nur zwei der prominenten Beispiele. Durch ihren reinen Ausdruck, die Leichtigkeit des Verständnisses und angenehme Schlichtheit der Musik wurde sie gerne als „Salonmusik“ oder darüber hinaus gar als bedeutungslos abgestempelt – heute, wo wir dieses verheerende Fehlurteil erkennen, ist es bereits zu spät, denn die Musik hat zumindest hier in Deutschland keine Traditionslinie im großen Konzertsaal aufbauen können. Um die Vehemenz solch ablehnender Urteile zu unterstreichen, zitiere ich aus dem 1967 erstmals erschienenen Standardwerk „Handbuch der Klavierliteratur zu zwei Händen“ von Klaus Wolters (1926-2012): „Zwei Komponenten bestimmen Geist und Charakter von Tschaikowskys Kompositionen: die kraftvolle, herbe Vitalität seiner russischen Seele und die weichliche Sentimentalität spätromantischer Salonmusik. Leider ist diese zweite, höchstens in kleinen Dosen noch genießbare Komponente im ganzen Klavierschaffen Tschaikowskys bei weitem vorherrschend, sodaß man recht lange suchen muss, um in dem ziemlich umfangreichen Klavierwerk auf etwas einigermaßen Bemerkenswertes zu stoßen“ (Ausgabe von 1977). Noch herber geht Wolters gegen Dvořák vor und die Klaviermusik von Sibelius zeige gar Passagen auf, die ihn „peinlich berührt“ stimmen. Wer also (in Zeiten vor kostenloser und legaler Notendownloadseiten) auf der Suche war nach neuem Repertoire oder für Schülerliteratur und in solch einem weitverbreiteten Standardwerk wie diesem stöberte, wird von Anfang an einen großen Bogen um diese Komponisten machen. Glücklicherweise wird gerade Tschaikowski in Russland noch ausgiebig gepflegt und so schwappt seine Solomusik immer wieder auch zu uns herüber und wir werden jedes Mal von neuem erstaunt, welche Schätze dort zu finden sind.

Die Jahreszeiten bestehen aus zwölf Charakterstücken, denen nachträglich je ein Motto untergeschoben wurde. Tschaikowski gab den Monaten beinahe schicksalsträchtige Bedeutung und arbeitete penibel genau die jeweiligen Charakteristika seiner Beziehung zu ihnen heraus. So entstanden zutiefst persönliche Momentaufnahmen, die wie musikalische Tagebucheintragungen anmuten, von zeitloser Schönheit und allerinnigstem Gefühl, dessen Purität verblüfft. Pianistisch ansprechend gibt sich besonders die Dumka op. 59 (ein Volkstanz, den wir vor allem durch Dvořáks berühmtes Trio kennen) durch ihre schnellen Wechsel und ausgelassenen Stimmungen. Kompositorisch überragen die beiden Auszüge der Stücke op. 72: dieser Umfangreiche Zyklus stellt wohl die Spitze von Tschaikowskis Klavierschaffen dar, und doch wird er beinahe nie in Gänze aufgeführt. Augenzwinkernd können die beiden darin enthaltenen Stilkopien betrachtet werden, die Schumann bzw. Chopin verehrend veräppeln, tiefgründig hingegen Stücke wie der hier zu hörende Dialog in seiner sinnenden Stimmung.

Charakterisiert kann das Spiel von Boris Bloch vor allem durch den Wohlklang seines Anschlags werden; sanfte, singende Tongebung macht seine Darbietungsweise aus. Dies allein gibt Bloch bereits eine Sonderstellung an seinem Instrument, dessen weitgehend kontaktlose Tonerzeugung die meisten doch mehr oder weniger dazu verleitet, unbeteiligt oder gar mechanisch zu spielen. Gerade die sentimentalen, ruhigen Stücke erhalten so einen packenden Impetus, der den Hörer am Geschehen teilhaben lässt. Doch auch die rascheren Stücke seien nicht zu vernachlässigen, denn hier brillieren die Läufe nicht nur, sondern singen und besitzen so eine viel farbigere und tragfähigere Linienführung. Um diese Klanglichkeit aufrechtzuerhalten, opfert Bloch teils einige wichtige Anweisungen im Notentext wie anschwellende Dynamik (besonders im Januar) oder ganze Nebenstimmen (bei Un poco di Chopin ersichtlich). In der Großform der Dumka op. 59 verliert sich der Fluss teils im Moment, trefflich gelingen dafür die raschen Übergänge zwischen den kontrastierenden Abschnitten.

Die meisten der Aufnahmen dieser CD entstanden übrigens als Livemitschnitte eines Gedenkkonzerts 2018 zum 125. Todestag des Komponisten: acht Nummern der Jahreszeiten, die Romanze, der Natha-Valse und Dumka entstammen dieser Aufführung; genauere Angaben der Studioaufnahmen bleiben uns vorenthalten. Zwar können die Konzertmitschnitte auf tontechnischer Ebene bei weitem nicht mit dem tontechnisch enormen Standard mithalten, der die Ars Produktion ausmacht, doch vom spieltechnischen Aspekt aus unterstreicht dies die Einmaligkeit des Moments und Blochs emotionalen wie geistigen Fokus auf die Musik.

[Oliver Fraenzke, Juni 2020]

[Rezensionen im Vergleich] Vlach: Ein Meister aus Tschechien

Josef Vlach und das Tschechische Kammerorchester
Stanislav Duchoň, Oboe; Ilya Hurník, Klavier; Karel Patras, Harfe

Henry Purcell: Suite aus ‚King Arthur’ für Streicher
Wolfgang Amadeus Mozart: Divertimento D-Dur KV 136, Eine kleine Nachtmusik KV 525, Adagio und Fuge c-moll KV 546
Pjotr Tschaikowsky: Andante cantabile aus dem 1. Streichquartett op. 11, Serenade C-Dur op. 48
Antonín Dvořák: Serenade E-Dur op. 22, Tschechische Suite op. 39
Claude Debussy: Danse sacrée et danse profane
Josef Suk: Serenade Es-Dur op. 6
Ottorino Respighi: Gli Uccelli
Igor Strawinsky: Apollon musagète
Benjamin Britten: Variations on a Theme of Frank Bridge op. 10
Jiří Pauer: Symphonie für Streicher (1978)
Ilya Hurník: Konzert für Oboe, Klavier und Streichorchester (1954/59)

Supraphon SU 4203-2 (4 CD-Box) (EAN: 099925420321)

Josef Vlach (1923-88) gilt den traditionsbewussten tschechischen Musikern als der legitime Fortführer einer authentischen Linie, die sich von Antonín Dvořák, Josef Suk und Václav Talich als seinem direkten Vorläufer bis heute zu Jiří Bělohlávek (heute Chefdirigent der Tschechischen Philharmonie) und dessen Schüler Jakub Hrůša (der jetzt im Herbst seine Stellung als Chefdirigent der Bamberger Symphoniker antritt) erstreckt. Das kann man hören! War Talich der bis heute bedeutendste Dirigent Tschechiens, so ist Vlach nicht nur in Bezug auf seine verfeinerte natürliche Muskalität der Nachfolger Talichs, er übernahm als hervorragender Geiger auch aus dessen Händen das Tschechische Kammerorchester, das er fortan vom Konzertmeisterpult aus leiten sollte (leider sind keine Mitschnitte des Streicherensembles unter Talich erhalten). Unter Vlach wurde das Tschechische Kammerorchester denn auch zu einem der weltweit anerkannt führenden Streichorchester, vergleichbar den Busch Chamber Players, dem Kammerorchester Edwin Fischers in der Schweiz, dem Niederländischen Kammerorchester unter Szymon Goldberg, der Salzburger Camerata unter Sándor Végh oder später dem finnischen Ostrobothnian Chamber Orchestra unter Juha Kangas – als einer jener unverkennbaren Klangkörper, die von einem herausragenden Künstler geformt und in jeder Hinsicht sowohl zu bestechender Makellosigkeit angehalten wurden als auch eine ganz spezifische Klang- und Ausdruckskultur verkörperten. Was ist typisch für Vlachs Tschechisches Kammerorchester? Der dunkel abgetönte Klang, der zwar die Oberstimmen sich wunderbar entfalten lässt, jedoch immer die Mittel- und Unterstimmen ebenso lebendig mitwirken und zur Geltung kommen lässt – gerade auch die Bratschen und Celli sind ganz wunderbar sowohl hinsichtlich der Gruppenhomogenität als auch der technischen und tonlichen Vollendung: also ein Fundament, das vital trägt und von den Geigengruppen umso höhere Qualität fordert – denn, wenn die Tiefe so sauber und klar ist, hört man umso unvermeidlicher jede Trübung und Unkultiviertheit in der Höhe. Das Ganze hat einen großartig geschlossenen Ausdruck, die Phrasierung jeder Stimme ist so einheitlich, als spielte jeweils ein großes Instrument. Hinzu kommt jene besondere Wärme, Empfindsamkeit und lyrische Leidenschaftlichkeit auch in den verträumtesten und introvertiertesten Episoden, und jene subtil beschwingte Musikanterie, wie sie den Tschechen wie keinem anderen Volk zu eigen ist – eine Süße auch, die etwas herber und viel unschuldiger ist als etwa jene des Wiener Stils. Über allem liegt ein unaussprechlicher Zauber, ein Geheimnis der Beseeltheit, ein wunderbar ausgeglichenes Verhältnis von immerwährendem Gesang und nie ins Mechanische umkippendem noch erlahmenden Rhythmus. Das Schnelle wird nicht hart und hysterisch, das Langsame badet nicht in haltlosen Emotionen – es ist also auch jener Schuss Nüchternheit dabei, der nichts mit sachlicher Kälte zu tun hat (dies beispielsweise eine Gefahr deutscher Ensembles), der aber die durchgehende Orientierung am strukturell Wesentlichen ermöglicht. Auch der Humor bleibt fein, und die Kunst der Übergänge zeugt von großer innerlicher Beweglichkeit und agogischer Flexibilität. Alles Zeichen einer Kultur im Höchststand.

Vlachs Mozart ist kraftvoll, vital, und dabei stets auch transparent, klar artikuliert ohne die auch bei den Wienern so übliche redundante Betonung der schweren Taktzeiten, und die Leichtigkeit ist weniger eine Sache des Klangs an und für sich als der Beweglichkeit der Gestaltung. Ganz großartig ersteht Adagio und Fuge in c-moll, man fühlt sich in die barocke Welt des Introitus und Kyrie aus Mozarts Requiem versetzt. Und auch von der Kleinen Nachtmusik kenne ich keine natürlicher und treffsicherer ausgeführte Aufnahme.

Bei Dvořák und Suk ist man ganz zuhause. Das kann nicht authentischer verstanden werden. Wie bei Dvořák wird es auch bei Tschaikowsky nie billig, langweilig, sentimental oder mechanisch, sondern fesselt mit einer Würde, Grazie und unaufgesetzten Tiefe der Empfindung, wie dies kaum irgendwo der Fall ist. Auch zeigt sich hier endlich einmal wieder, was für einmalige, in einer adäquaten Aufführung unübertreffliche Meisterwerke die beiden berühmten Serenaden von Dvořák und Tschaikowsky sind. So gespielt, wenn eine solche Fülle und Lebenskraft sogar noch auf einer antiquierten Aufnahme rüberkommt, kann man nur bedauern, dass man es nie wieder im Konzert wird hören können!

Henry Purcells King Arthur-Suite werden Verfechter der heute landauf landab eingesickerten ‚historischen Aufführungspraxis’, also einer philologisch aus dem Notenbild und schriftlich überlieferten Berichten und Anleitungen abgeleiteten hypothetischen Herangehensweise, in der hier zu hörenden Art und Weise entschieden ablehnen. Was sie dabei überhören, ist bei allen gewiss vorhandenen Relikten romantischer Tradition die wendige Phrasierung, die sich natürlich nicht in spritziger Kleinteiligkeit verzettelt, sondern stets den Blick aufs Ganze heftet, wie auch die beseelte Sanglichkeit und rhythmische Urkraft, die nicht gestelzt prätentiös von Höckchen zu Stöckchen hüpft, sondern aus dem zugrundeliegenden Momentum schöpft.

Von Ottorino Respighis ‚Gli Uccelli’ habe ich nie auch nur annähernd so zauberhafte und bis ins Zerbrechlichste vitale Aufführung gehört. Man achte zum Beispiel nur einmal darauf, wie unwiderstehlich sich das neobarocke Rustico in ‚La Gallina da Jean-Philippe Rameau’ artikuliert und entfaltet.

Auch Benjamin Brittens kapriziöse Frank Bridge-Variationen und Igor Strawinskys aparte Farben- und Gestenwelt ‚Apollon musagète’ erfahren mustergültig organische, in jedem Moment wunderbar feine und klar charakterzeichnende Darbietungen. Sehr schön auch, wenngleich nicht ganz so am Kern des Idioms, die beiden stilisiert schreitenden Tänze Debussys mit dem Harfensolisten Karel Patras.

Bleiben die beiden tschechischen Meister, die hierzulande heute kaum jemand kennt. Ilya Hurník (1922-2013) erweist sich als musikantischer Architekt eines dissonanzgewürzten, kurzweiligen, dabei aber in klarer Formgebung verankerten Neobarock mit einem spezifisch böhmischen Einschlag, wie wir das – in ornamentisch komplexerer Faktur – auch teilweise von Martinů kennen. Sein Konzert ist viersätzig, mit entschieden kontrastierenden Charakteren, mit einem spielerisch filigranen Element auch bei harter, kurz abgerissener Artikulation, und außer dem ausgezeichneten slowakischen Oboisten Stanislav Duchoň wirkt der Komponist selbst am Klavier mit, was uns natürlich auch ahnen lässt, wie sehr die Musik hier im Sinne des Komponisten erarbeitet wurde. Diese Musik mag nicht groß sein, doch sie bietet mehr als distinguierte Unterhaltung und einprägsame Gesten.

Ein anderes Kaliber freilich noch ist Jiří Pauer (1919-2007), dessen reife Symphonie für Streicher das Zeug hätte, auch heute noch eine effektvolle Bereicherung des Streicherrepertoires zu sein. Pauer knüpft an das Bartók’sche Barbaro an, mit wuchtigen, dissonanzfreudigen Akkordbildungen, sehr zielstrebig angelegten Steigerungen, couragierten Schichtungen und einer die Entwicklungen offenkundig gliedernden, klar formulierten Motivik, die an und für sich die geringste Leistung des Komponisten ist. Es sind eindeutig nicht die etwas unbedeutenden markanten Motive, die die Qualität dieser Musik ausmachen, sondern die Art ihrer Durchführung. Der große langsame Mittelsatz eröffnet eine andere, tragische Einsamkeit auslotende Welt – man kann hier gar an Schostakowitsch denken –, doch der originelle Aufbau beinhaltet einen plötzlichen Scherzo-Ausbruch, dem – zunächst wie ein Trio scheinend – eine äußerst leidenschaftliche, getragene melodische Entfaltung folgt, die sich zu höchster Spannung steigert. Überraschenderweise kehrt das Scherzando nicht wieder, sondern der Abbau der Spannung leitet direkt in das breite Haupttempo über, in welchem das ergreifende Stück endet. Auch im schnellen Schlusssatz sind es erhebliche Tempo- und Strukturkontraste, die unerwartet eintreten und das Werk mit ganz eigenem Leben erfüllen. Darüber sieht man gerne über einige vielleicht allzu oberflächliche Effektfolgen hinweg, die zunächst sehr animierend wirken können, sich jedoch bei öfterem Hören, wenn es nicht so fantastisch gespielt wird wie wir, auch schnell abnutzen könnten. Dieser Einwand gilt aber auch für eine Vielzahl von Musik, die regelmäßig in unseren Konzertsälen zu hören ist. Den Namen Pauer sollte man sich merken, denn es gibt nicht gar so viel Musik auf solchem Niveau in der tschechischen Musik seit Martinů.

Fazit: eine grandiose Box von einem der besten Ensembles in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, das mit einer Eindringlichkeit und charakterfesten Unbedingtheit, auch einem ausgesprochen fein geschulten Korrelationsvermögen und höchstkultivierter Abstimmung in allen Bereichen agiert. Jeder Streichorchesterleiter sollte diese Aufnahmen kennen. Auch die klangliche Aufbereitung der Aufnahmen aus den Jahren 1960-81, die davon profitiert, dass diese bereits damals exzellent verwirklicht wurden, ist sehr ansprechend, rund, brillant und natürlich. Und der Booklettext von Petr Kadlec erzählt in sehr anrührender Weise die Geschichte Vlachs und seines Kammerorchesters.

[Christoph Schlüren, August 2016]

[Rezensionen im Vergleich] Wahrhaft legendäre Aufnahmen

Supraphon, SU 4203-2; EAN: 0 99925 42032 1

„Legendary Recordings“ des tschechischen Violinisten und Dirigenten Josef Vlach erschienen nun bei Supraphon. Vier CDs mit Aufnahmen von Antonín Dvořák, Josef Suk, Wolfgang Amadeus Mozart, Pjotr Iljitsch Tschaikowski, Benjamin Britten, Claude Debussy, Ilja Hurník, Jiří Pauer, Henry Purcell, Ottorino Respighi und Igor Strawinsky enthält die Box. Es spielt das Czech Chamber Orchestra, teils unterstützt durch das Prague Chamber Orchestra (Dvořák Op. 39 und Respighi), die Solo-Harfe in Debussys Tänzen übernimmt Karel Patras, in Hurníks Konzert für Oboe, Klavier und Streicher ist Stanislav Duchoň der Solist, Hurník ist selbst am Klavier zu hören.

 

Seinerzeit ein international legendärer Musiker, heute nur Liebhabern ein Begriff: Josef Vlach. Der 1923 geborene Tscheche studierte unter anderem bei Stanislav Novák und arbeitete intensiv mit Václav Talich zusammen, auch nach der Auflösung des damaligen (ersten) Tschechischen Kammerorchesters, welches Talich leitete. 1950 gründete Vlach das Vlach-Quartett, das bis 1957 bestand – aus ihm kristallisierte sich auch ein Kammerorchester heraus, welches nach dem ersten Konzert auf Wunsch Talichs den bis dahin mit ihm verbundenen Namen Tschechisches Kammerorchester annahm. Das Kammerorchester feierte europaweit riesige Erfolge in den 1960er- und 70er-Jahren. Vlach war bei all seinem Perfektionismus mit stundenlangen Proben und intensivster Vorbereitung doch als freundschaftlich-kameradschaftlicher und ruhiger Leiter geschätzt, so dass alle Proben freiwillig und ohne Druck stattfinden konnten (in der Freizeit der anderweitig hauptberuflichen Musiker!). Zwei Sätze Vlachs seien aus dem informativen Booklettext von Petr Kadlec zitiert, um einen Eindruck von seiner Maxime zu gewinnen: „Wir waren jung, nicht vom Professionalismus verdorben, Intrigen und Neid waren uns unbekannt und wir litten nicht unter ungesundem Stolz; wir behandelten einander gleich und fühlen uns alle frei.“; „Der Gemeinschaft zu dienen heißt auf egoistische Selbstgefälligkeit zu verzichten, nicht ich – sondern wir…“.

Beinahe unerhört scheint der Orchesterklang unter Josef Vlach, es herrscht eine durchgehende Wärme und eine spürbar tiefe Liebe zur Musik, eine stetige geistige Präsenz und eine Dichte, die jede Stimme als Individuum aufleben lässt und so ein atmend-pulsierendes Ganzes schafft von einer Qualität, von der man heute meist nur träumen kann. Schnell wird klar, was Vlach damit meinte, nicht vom Professionalismus verdorben zu sein: Es ist absolut keine Routine in den zu hörenden Aufnahmen zu vernehmen, die Musik entsteht frei und ohne jede Art von Mechanisierungen, sie ist im Moment empfunden und gelebt.

Wirklich überrascht war ich vor allem von Mozart (Divertimento in D-Dur KV 136, Adagio und Fuge c-Moll K 546, Eine kleine Nachtmusik KV 525), noch nie durfte ich seine Musik auf eine so durchreflektierte und durcherlebte Weise hören, die eine Frische hat, als würden die Stücke gerade eben das erste Mal das Licht der Welt erblicken. Den flächigen, weichgezeichneten Klang, welcher heute die Rezeption bestimmt, sucht man vergebens, Vlach lässt auch die herben Kontraste hervorscheinen. Gerade im grandiosen Adagio und Fuge c-Moll KV 546 kann er damit den Hörer erschüttern, hier zeigt sich Mozart von seiner progressivsten und wildesten Seite – und Vlach denkt nicht daran, dies zu glätten.

Ein wahres Heimspiel sind selbstverständlich Dvořák und Suk, die in spielerischer Leichtigkeit und mit größter Spielfreude erklingen. Aber auch die modernen Tschechen, die hier zu hören sind, können überzeugen: Ilja Hurník und Jiří Pauer. Wer sich von der idiotischen Diffamierung solcher ‚klassizistischen’ Musik als „Anachronismus“ lösen kann und auch eine definierbare Form und Struktur in moderner Musik akzeptiert, wird hier zwei großartige Komponisten für sich entdecken. Beinahe eine Haydn’sche Beschwingtheit und Leichtigkeit durchzieht das Konzert für Oboe, Klavier und Streichorchester von Hurník, nur wesentlich dichter und komplexer, gerade im Kopfsatz. Der Komponist sitzt selbst am Klavier, welches allerdings nicht solistisch auftritt, Stanislav Duchoň spielt die Oboe. Die Musik Pauers spielt mit Changierungen zwischen grellen Dissonanzen und sanften Entspannungen, immer in einer gewissen Doppelbödigkeit, in der teils durchaus ein beinahe sarkastischer Zug erkennbar ist, fast schon an Schostakowitsch gemahnend.

Wahre Klangmagie prägt die Serenade C-Dur Op. 48 von Tschaikowsky, ein sanfter Schleier verhüllt frei agierende Klanggewalten in gar unschuldig erscheinender Tanz-Geste, desgleichen im Andante cantabile – hier singt es wirklich! – aus dem ersten Streichquartett Op. 11.

In unserer Zeit entsteht immer mehr eine tiefe Kluft zwischen alter und neuer Musik, Hochschulen wie auch die Musikwissenschaft sind in zwei Lager gespalten. Wie wenig Sinn solch eine Trennung ergibt, stellt Vlach unmissverständlich klar, bei Purcell und auch dem historisierenden Respighi (Gli Uccelli, eine Suite für kleines Orchester, die Musik des 17. und 18. Jahrhunderts paraphrasiert) wie bei Britten, Debussy (Karel Patras an der Solo-Harfe) oder Strawinsky. Vlach und sein Orchester teilen die gleiche Liebe für jede Musik, wie das breit aufgestellte Spektrum auch beschaffen sei.

Gesondert über die Streichersolisten zu sprechen, macht in dieser Aufnahme – ebenfalls für heutige Einspielungen undenkbar – wenig Sinn, derart integriert sind sie in den lebendigen Orchesterklang und teilen die selbe Freude und Zuneigung zur Musik mit dem Ensemble.

[Oliver Fraenzke, August 2016]

Gefilde der seligen Geister

Matinée am 5. Mai 2016 um 11 Uhr im Prinzregententheater
Symphonieorchester Wilde Gungl München
Dirigent: Michele Carulli; Moderation: Arnim Rosenbach

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Am strahlenden Himmelfahrtstag ein strahlendes Konzert im ausverkauften Saal des Prinzregententheaters, das ist ein treffliches Zusammenkommen. Und solch ein Konzert können die Münchner nur mit „ihrer“ WILDEN GUNGL erleben! Aufforderung zum Tanz hieß das Motto nach dem berühmten Stück von Carl Maria von Weber – das natürlich auch zu hören war im bunten Strauß der Stücke, die dieses Himmelfahrts-Konzert ausmachten. Viele davon waren die sogenannten Reißer, der Blumenwalzer aus dem „Nußknacker-Ballett“ von Tschaikowsky, der Kaiserwalzer von Strauß, Kontretänze des jungen Beethoven, zu Beginn ein Mozart-Menuett aus dem Divertimento KV 317. Also alles Stücke, die man durchaus kennt und sicher auch schon oft gehört hat. Auf CD, im Radio oder sonst wo. Aber:

So, wie sie heute die Musikerinnen und Musiker des Symphonieorchesters Wilde Gungl entstehen ließen, wie es eben doch nur bei einem Live-Konzert zu erleben ist, das hat wieder einmal die ganze Kraft und Energie der Tonkunst gezeigt. Keine noch so gute Aufnahme, kein noch so guter Mitschnitt kann eben das leibhaftige Entstehen von Musik ersetzen, da hatte Maestro Celibidache einfach Recht.

Und wie die Kompositionen heute entstanden! Anmoderiert auf seine unnachahmlich charmante Art vom Konzertmeister Arnim Rosenbach ergab sich aus dem Programm mit den vielen Einzelstücken ein wunderbarer Bogen von Mozart bis zu den zwei Zugaben, die sich das begeisterte Publikum erklatschte. Und gerade bei den scheinbar ach so oft gehörten „Ohrwürmern“ kam durch die Klangentfaltung und durch das Wahrnehmen der einzelnen Orchestergruppen oder Solisten das „Gungl-Wunder“ – wie es der Präsident Kurt-Detlef Bock hinterher beschrieb – eben jene Magie auf, die Musiker und Zuhörer gleich verzauberte und mitnahm in die „Gefilde der Seligen Geister.“

Natürlich hatte Maestro Michele Carulli daran den Anteil, den er als Dirigent an all den drei Konzerten, die ich bisher das Vergnügen hatte, zu hören, als „Anfeuerer“, als tänzerischster „Begeisterer“ eben einfach hat. Seine intensive und mitreißende Körpersprache, sein völliges Aufgehen im Augenblick der Gestaltung eines Stückes, sind umwerfend, eben con anima e corpore, wie ich schon einmal schrieb. Nur waren es heute eben Aufforderungen zum Tanz, die ein leider zum Stillsitzen verurteiltes Publikum eben nur innerlich – immerhin – erleben konnte. Der schon beim letzten Konzert im Herkulessaal ausnehmend weiche und dennoch füllende Klang der Streicher wurde aufs Schönste und Passendste ergänzt und gesteigert durch die Bläser und in einigen Stücken natürlich auch durch die Pauke, die Harfe (!) und verschiedenste „Schlagzeuge“. Den Solistinnen und Solisten galt denn auch nach jedem Stück Maestro Carullis Dank, den er – wie zum Schluss auch einigen Damen des Orchesters die Rosen – vollendet „gentlemanlike“ zum Ausdruck brachte.

Im letzten Stück des offiziellen Programms – einem Ausflug nach Brasilien mit der Komposition „Tico-Tico“ von Zequinha de Abreu – brach ein Beifallssturm los, den das Orchester zusammen mit Maestro Carulli mit zwei Zugaben beantwortete. Im letzten, einem Galopp des Namensgebers des Orchesters Josef Gung’l machte er sich mit perfekt geschauspielertem „Entsetzen“ über seine „Rolle“ als Dirigent lustig: nach dem Goethe’schen Motto „Wer sich nicht selbst zum Besten halten kann, der ist gewiß nicht von den Besten!“

Und das kann man von ihm und „seinem“ Orchester“ nach diesem wunderbaren, herzbewegenden Konzert sicher nicht sagen.

(Ceterum censeo: Auch die Münchner Presse täte langsam gut daran, die Konzerte der „Wilden Gungl“ endlich einmal angemessen zur Kenntnis zu nehmen und zu würdigen!)

[Ulrich Hermann, Mai 2016]