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Romeo und Julia – märchenhaft?

Naxos (2CD), LC 05537; EAN: 7 4731335347 7

Sergey Prokofiev: Romeo and Juliet. Complete ballet; Baltimore Symphony Orchestra, Marin Alsop (Leitung)

Nach ihrer Gesamteinspielung aller Symphonien Prokofjews hat die amerikanische Dirigentin Marin Alsop nun das komplette Ballett »Romeo und Julia«, op. 64 mit dem Baltimore Symphony Orchestra für Naxos aufgenommen.

Bei der Studioaufnahme einer Ballettmusik muss man sich als Dirigent fragen, inwieweit man hier realistisches Bühnengeschehen abbilden will, oder ob man alle bei einer Live-Aufführung mit Tänzern nötigen Kompromisse – etwa das Nachgeben bei Hebungen, generell vielleicht zurückhaltendere Tempi – komplett beiseite lässt, und eine quasi „ideale“ Konzertdarbietung anstrebt. Dies wäre ja bei einer Oper so gar nicht denkbar. Beim mittlerweile wohl beliebtesten aller großen Handlungsballette, Prokofjews Romeo und Julia, haben sich die meisten Interpreten für Letzteres entschieden. Die nach wie vor maßstabsetzenden Einspielungen von Lorin Maazel (Cleveland Orchestra, Decca 1973) und Seiji Ozawa (Boston Symphony Orchestra, DG 1986) gehen dabei an die Extreme, die fast filmisch-dramatischen Sequenzen des Balletts (der Kampf und „Mercutio“ im 1. Akt etc.) kommen mit äußerstem Tempodruck daher und vieles klingt auch absichtsvoll rabiat. Marin Alsop versucht, auch diese Abschnitte klanglich sehr ausgewogen zu nehmen, vertraut auf insgesamt etwas ruhigere Tempi. Ihr gelingen gerade bei den lyrischen (Julia-) Stellen herrliche Details; der Tanz der Ritter wirkt geradezu grotesk steif und charakterisiert die Bühnensituation umso treffender. Insgesamt gleicht Alsops Darbietung jedoch einem großen Märchentableau, also eher indirekt erzählter Prosa als direkt zupackender Bühnendramatik. Über 144 Minuten geht dieses Konzept aber dann nicht auf: Alsops Detailverliebtheit lässt das Stück in viele, kleine Einzelepisoden zerfallen, die großen dramatischen Entwicklungen bleiben klebrig. Ihr untrügliches Verständnis für Prokofjews typische Harmonik und seine sehr speziellen Klangkombinationen lässt aber durchgängig aufhorchen. Das Baltimore Symphony Orchestra verfügt über einen edlen Streicherapparat, aber das Blech kann mit den beiden oben genannten Orchestern an Präzision nicht ganz mithalten. Die gute Aufnahmetechnik überzeugt durch natürliche Räumlichkeit, das Schlagwerk ist leicht unterbelichtet. Hier gelingt eine feine, geradezu edle Realisation der Partitur, die aber nicht auf Dauer gefangen nimmt.

[Martin Blaumeiser, August 2018]

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Heimeliges Amerikabild

Kevin Puts
2. Symphonie (2002), Rivers Rush (2004), Flötenkonzert (2013/14)
Adam Walker, Flöte
Peabody Symphony Orchestra
Marin Alsop
Naxos 8.559794 (EAN: 636943979426)

Eine neue CD mit Orchesterwerken von dem 1972 in St. Louis geborenen und an der Eastman School in Rochester ausgebildeten Kevin Puts – nachdem unlängst schon eine andere Orchester-CD von ihm bei harmonia mundi erschienen ist: hier scheint sich eine neue Hoffnung der Tonträger-Industrie auf mehr Breitenwirkung zeitgenössischer Musik zu artikulieren. Nicht verstaändlich ist, warum in der Biographie des Komponisten so bedeutende Lehrer wie Christopher Rouse, William Bolcom, Jacob Druckman oder Samuel Adler verschwiegen werden – als käme der neue Hoffnungsträger aus dem jungfräulichen Nichts daher… Puts schreibt wohlklingend, absolut verbindlich, freundlich, eingängig, eigentlich sehr naiv. Die entscheidende Frage ist: Hat es auch Substanz? Und die ist mit Einschränkung zu beantworten. Das Orchesterspiel ist bestechend, und das erstaunt nun wirklich in dieser makellosen Qualität bei einem studentischen Klangkörper. Und Marin Alsop beherrscht die Sache routiniert, wobei mehr Empfindung für die modulatorischen Subtilitäten, und der Ausdruck dessen, das Ganze spannender erscheinen lassen würde. Aber sie ist eben auch eine Maestra, die sich mit Perfektion, Schönklang, guten Effekten und dem Umsetzen des vital Rhythmischen zufrieden gibt. Ausgezeichnet und reich nuancierend, auch sanglich spielt der Flötensolist Adam Walker. Die Aufnahmetechnik ist brillant und ausgewogen, der Booklettext authentisch, da vom Komponisten.

Nun zur Kernangelegenheit, zu Puts’ Musik selbst. Die Zweite Symphonie ist seine Reflektion des anlässlich des Desasters von 9/11 Erlebten. In idyllisch vor sich wabernde Unbedarftheit, in der Art einer Prärieimpression, bricht via einer Geigensolo-Überleitung das Verhängnis herein. Man merkt, dass er nicht dabei war und in Klängen derlei nicht adäquat wiedergeben kann. Wie auch? Dazu bräuchte es entwickelnde Qualitäten, die im musikalischen Material potenziell begründet sein müssten. Stattdessen schlägt dann eben die Fröhlichkeit in Melancholie um, um am Ende wieder – jawohl – Hoffnungsschimmer hervortreten zu lassen. Besser wüssten wir nichts über den katastrophischen Hintergrund, dann wären es einfach 20 Minuten hübsche Musik.

Besser gelungen, auch weit dramatischer und folgerichtiger, ist die 10minütige Tondichtung ‚River’s Rush’, die ein wenig von der inneren Bewegtheit kündet, die Puts beim Anblick des Mississippi erfasst.

Zum Schluss gibt es ein unlängst entstandenes, kammerorchestral besetztes Flötenkonzert, dessen Außensätze dem Flötisten gute Gelegenheit geben, solistische Qualitäten zu zelebrieren. Das zentrale Andante ist in freier Fantasieweise über dem berühmten, schwebend-schwingenden Mittelsatz von Mozarts C-Dur-Klavierkonzert KV 467 gebaut – sozusagen, angemessen postmodern gesprochen, eine so gefällige wie fein ausgearbeitete ‚Elvira Madigan-Hommage’. Der Bezug ist so offenkundig, dass es keines Kommentars bedurft hätte, die Entwicklung natürlich nicht bezwingend wie beim großen Vorbild, aber immerhin recht vornehm unterhaltend. Da ist beispielsweise der viel minimalistischere, geheimnisraunende Mittelsatz seines neobarock gerahmten Konzerts für Oboe und Streicher weit faszinierender. Fazit: gut gemachte Hintergrundmusik, die das positive Amerika, wie es gerne erscheinen würde, als äußerlich wohltuende Heimeligkeit all jenen vermitteln darf, die gerne etwas Unproblematisches hören, das einen komfortabel abgefederte, zärtlich umschmeichelnde Langatmigkeit verbreitet. Und ein womöglich therapietaugliches Genussmittel, das die Unschuld der Welt wieder herstellen möchte. Spannung oder Herausforderung im musikalischen Sinne ist hier kein Thema. Relax, friends, nothing really happens…

[Annabelle Leskov, August 2016]