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Sehr französische Indienträume

Chandos; LC 7038; EAN: 0 9511519572 7

Albert Roussel: Évocations;  BBC Philharmonic, CBSO Chorus, Yan Pascal Tortelier (Leitung), Kathryn Rudge (Mezzosopran), Alessandro Fisher (Tenor), François Le Roux (Bariton)

Yan Pascal Tortelier hat sich auf CHANDOS Albert Roussels großem Indienpanorama «Évocations», der vielgespielten Suite F-Dur und der symphonischen Dichtung «Pour une fête de printemps» angenommen. Leider gelingt nicht alles auf überzeugendem Niveau.  

Neben Nikolai Rimski-Korsakow ist Albert Roussel wohl der einzige bekanntere Komponist, der eine Zeit lang zur See gefahren ist, sicherlich ein Grund für beider Liebe zu exotischen Sujets. Wenn heute Roussel vor allem noch für seine 3. und 4. Symphonie – klare Zeugnisse des Neoklassizismus der frühen 1930er Jahre – gerühmt wird, so gab es bis kurz nach dem Ersten Weltkrieg eine bedeutende Phase, die man impressionistisch nennen muss, auch wenn Roussel das Erbe der Spätromantik längst nicht so konsequent abgelegt hat wie Debussy oder Ravel. Roussel unternahm mit seiner Gattin auch lange nach seiner Militärzeit eine ausgedehnte Hochzeitseise nach Indien und Fernost. Die zwei beeindruckendsten Zeugnisse davon sind Évocations (1910-11) und später seine Opéra-ballet Padmâvatî (1913-1918).

Évocations zeichnet in drei Sätzen ein geheimnisvolles, raffiniert instrumentiertes Bild Indiens; im letzten Satz treten zum Orchester noch drei Gesangssolisten und Chor hinzu. Michel Plasson hat 1986 eine überragende Aufnahme dieses in Vergessenheit geratenen Dreiviertelstünders hingelegt (EMI), an der sich Yan Pascal Tortelier leider messen lassen muss. Die düsteren Schatten des ersten Satzes und die zart changierenden Rosatöne des zweiten (La Ville rose, ein Porträt Jaipurs) gelingen Tortelier gleichermaßen, wenn auch etwas unflexibler bei den Tempi als Plasson. Die Aufnahmetechnik ist bei Chandos etwas direkter und luftiger. Aber was ist dann im dritten Satz mit Chor und Solisten los? Der Chor des City of Birmingham Symphony Orchestra produziert ein gähnend langweiliges Gesäusel, zudem von der Aufnahme zu sehr in den Hintergrund gepresst, ohne jede Präsenz. Aber es kommt noch ärger: Hatte Plasson drei Weltklasse-Solisten (Nicolai Gedda, Nathalie Stutzmann und José van Dam) zur Verfügung, die ihrem Namen alle Ehre machten, können weder Kathryn Rudge noch Alessandro Fisher irgendwelche Akzente setzen – und auch hier sorgt die Technik für eine unidentifizierbare Positionierung. Ehemals Abbados Pelléas, zeigt sich François Le Roux leider nicht einmal mehr als Schatten seiner selbst: Die Stimme ist völlig brüchig, wackelig, detoniert; das könnte man gerade noch als Sprechen, aber nicht mehr als Singen bezeichnen – eine echte Zumutung, die den über 22-minütigen Satz komplett abschießt.

Tadellos dagegen die bereits neoklassizistische Suite F-Dur und die symphonische Dichtung Pour une fête de printemps, die ursprünglich als Scherzo der 2. Symphonie geplant war und mit hübscher Polymodalität (Roussel) überrascht. Hier gelingen Tortelier, der sich ja u.a. bereits als erstklassiger Dutilleux-Dirigent auf Chandos präsentiert hat, differenzierte, rundum erfreuliche Darbietungen. Trotz des Repertoirewerts fällt es mir wegen des absolut verunglückten Finalsatzes der Évocations schwer, diese CD zu empfehlen.

[Martin Blaumeiser, August 2018]

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Französische Spezialitäten, nivelliert auf hohem instrumentalen Niveau

Albert Roussel: Bacchus et Ariane-Suiten op. 43 Nr. 1 & 2; Claude Debussy/orchestr. Ernest Ansermet: Six Épigraphes antiques; Francis Poulenc: Les Biches-Suite
Orchestre de la Suisse Romande, Kazuki Yamada
Pentatone SACD PTC 5186558 (EAN: 827949055867)

Ein grandioses französisches Programm mit einem der Traditionsorchester, die sich seit jeher dafür zuständig sehen, auf einem Label, das für herausragende Klangqualität bekannt ist: Da ist die Vorfreude groß.

Das Genfer Orchestre de la Suisse Romande, einst unter seinem legendären Leiter Ernest Ansermet für Decca zuständig für Strawinsky-Aufnahmen und vieles andere, tritt mit seinem mittlerweile weltweit erfolgreichen japanischen, 1979 in Kanagawa geborenen Gastdirigenten Kazuki Yamada an, um eher selten, jedenfalls in Konzerten hierzulande kaum je zu hörende Meisterwerke französischer Musik der klassischen Moderne darzubieten. Roussels Suiten aus seinem erfolgreichen Ballett ‚Bacchus et Ariane’ gehören zum bekanntesten von diesem auch in seiner Heimat sträflich vernachlässigten Großmeister. André Cluytens, Charles Münch, Georges Prêtre, Charles Dutoit gehören zu den Dirigenten, die diese herrlich üppige und zugleich so charakteristisch querständige, eigenwillige Musik auch immer wieder im Konzertsaal präsentierten, und die Referenz dürfte bis heute Cluytens (für EMI, heute Warner Classics) zuzuschreiben sein, auch wenn bei ihm wie bei den anderen das Harsche, Ruppige dieser für französische Verhältnisse sehr bodenständig kraftvollen Musik besser umgesetzt, als das gleichfalls vorhandene zart Verästelte, klanglich fein Abzustimmende. Roussel ist auf jeden Fall der nächste Meister seiner Generation, gleich nach Debussy und Roussel, und allenfalls Paul Dukas und Florent Schmitt können ihm gleichwertig zur Seite gestellt werden. Unter diesen ist er jedenfalls in seinem reifen Schaffen der Unverwechselbarste. Sehr schade, dass ein Celibidache, der das besser konnte als irgendein anderer, von Roussel nur die Petite Suite und die Suite en fa (beide mit den Münchner Philharmonikern, bei Warner Classics) sowie die Dritte Symphonie (mit dem Orchestre National de France, beim japanischen Label Altus, nur Export) aufs Programm setzte.

Technisch spielt das Orchestre de la Suisse Romande unter Yamada vorzüglich, allerdings ohne besondere Finesse, es ist einfach nur tadellos solide, aber wo bleibt von Seiten des Dirigenten die Feinabstimmung der Akkorde, das Ausschöpfen der orchestral mischenden Farbpalette, das für die organische Verbidnung so unentbehrliche subtile Rubato? Nein, über korrekt – und vorzüglich aufgenommen – geht das nicht hinaus. Was natürlich in den späten Six Épigraphes antiques von Debussy, in der nicht genialen, aber sehr gekonnten Orchestration Ansermets, mit ihrer heikleren Faktur noch deutlicher zu spüren ist. In dieser Musik ist so viel mehr drin, als hier rauskommt, und das kann die beste Tontechnik nicht kompensieren! Am ehesten gelingt der frivole Schwung von Francis Poulencs neoklassizistisch unterhaltender Ballett-Suite ‚Les Biches’, wenn auch hier alles Hintergründige, Verfeinertere fehlt, und gewiss kein Sinn für den größeren Zusammenhang – der eben einer gewissen weitschauenden Bündelung der Energien von Seiten Yamadas bedürfte – zu finden ist. Fazit: toll zusammengestellt, exzellent aufgenommen, technisch tadellos und musikalisch mit Powerplay, aber relativ nichtssagend umgesetzt. Übrigens war auch schon Ansermet, wenngleich viel mehr auf die Aussage individueller Details bedacht, kein großer Klangalchimist und auch kein Meister durchgehend tragfähiger Spannungsentwicklung, sondern stets immer recht schulmeisterlich… Aber heute sollten wir doch eine gewisse Entwicklung erhoffen dürfen, auch wenn das kaum vorkommt, und vorliegende Einspielung durchaus auf der Höhe der Zeit ist.

Zum nicht sehr tiefgehenden Booklettext sei erwähnt, dass der Autor, der offenkundig erstmals mit der Musik Roussels zu tun hatte, fälschlich behauptet, Vincent d’Indy sei ein Schüler Roussels gewesen – es war natürlich umgekehrt. So etwas kann passieren, wenn man sich bei Wikipedia in der Eile verliest, doch dass auch die Übersetzer und die Redaktion es nicht bemerken, ist schon bemerkenswert. Schauen wir mal, wer das dann wieder abschreibt…

[Annabelle Leskov, Oktober 2016]