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Beethovens ‚Eroica’ „mit 180 Instrumentisten“

Symphonierezeption in deutschsprachigen Periodika von 1798 bis 1850. Eine Quellensammlung in 3 Bänden, herausgegeben von Jin-Ah Kim und Bert Hagels

Ries & Erler, Berlin 2017; ISBN: 9783876760339

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Dies ist eine äußerst verdienstvolle Publikation in 3 Bänden mit fast 1.400 Seiten. Bis auf ein kurzes, sachlich erläuterndes Vorwort enthält sie ausschließlich zeitgenössische Quellen, die mit einem Minimum ergänzender Kommentare versehen sind. Was in deutschen Periodika zwischen 1798 und 1850 erschienen ist und von den beiden herausgebern ausfindig gemacht werden konnte, ist hier an Kritiken symphonischer Musik enthalten – mit Ausnahme dessen, was bereits 1987 in Stefan Kuntzes ‚Ludwig van Beethoven. Die Werke im Spiegel seiner Zeit’ und 2002 in ‚Hector Berlioz in Deutschland. Texte und Dokumente zur deutschen Berlioz-Rezeption’ (herausgegeben von Günter Braam und Arnold Jacobshagen) zugänglich gemacht wurde. Trotzdem gehören natürlich auch in dieser dreibändigen neuen Kompilation Beethoven und Berlioz zu den meistrezensierten Komponisten (Beethoven mit 164 und Berlioz mit 45 Seiten), und es dürfte die Kenner überwiegend nicht überraschen, wer sonst hier viel Platz einnimmt: Félicien César David (vor allem dank seiner symphonischen Ode ‚Le Désert’), Niel Wilhelm Gade, Joseph Haydn, Johann Wenzel Kalliwoda, Franz Lachner, Felix Mendelssohn Bartholdy, Wolfgang Amadeus Mozart, Ferdinand Ries, Franz Schubert, Robert Schumann und Louis Spohr (Letzterer auf 107 Seiten!) – wobei zu vermuten ist, dass Spohr, Kalliwoda und Ries auch aufgrund der editorischen Arbeit von Herausgeber Hagels besonders ins Blickfeld genommen wurden. Zwei heute als Symphoniker kaum bekannte Namen sind frappierend umfangreich dokumentiert: der als Organist berühmte Breslauer Meister Adolf Friedrich Hesse (1809-63, Schüler Spohrs und Lehrer Widors, Guilmants und Lemmens’, auf 21 Seiten) und der Böhme Johann Friedrich Kittl (1806-68, Schüler Tomascheks, auf 24 Seiten). Doch kann man Kittels Zweite, seine Jagd-Symphonie, auf Youtube nachhören, und sie beweist sein Können und hat Elan und Eleganz. Hesses Symphonien im gelehrten fugierten Stil hingegen, deren scholastische Ausrichtung immer wieder beanstandet wurde, wie auch die offenkundige Anlehnung an seinen Lehrer Spohr (vergleiche hierzu die beiden Kritiken Robert Schumanns, der durchaus zunehmende Eigenständigkeit erkennt), sind für uns ein Rätsel, bei dessen Lösung das Studium seiner Orgelmusik nur bedingt helfen dürfte. Wenn wir nur wüssten, was wirklich der genaueren Erforschung wert ist! Hierunter dürfte auf jeden Fall der genialische Schubert-Freund und Salieri-Schüler Anselm Hüttenbrenner zu sählen sein, dessen ungedruckt gebliebene E-Dur-Symphonie 1819 in einer Grazer Besprechung gewürdigt wird. Die wissenschaftliche und editorische Erschließung seiner Orchesterwerke steht noch aus, und ich habe keinen Zweifel, dass dies ein lohnendes Kapitel ist, das uns auch zeigen wird, in welcher Umgebung wir Schuberts Schaffen betrachten können.

Im Großen und Ganzen ist, nun wirklich nicht überraschend, festzustellen, dass der Beruf des Musikkritikers damals mit mehr Ernst und Bildung betrieben wurde, und zugleich herrschte auch schon vor 1850 ein erhebliches Gefälle, was uns immer wieder besonders froh sein lässt, wenn sich eine echte Autorität wie Robert Schumann zu Wort meldet. Auch fällt auf, dass man größeres Interesse hatte, die Kritiken der Kollegen zur Kenntnis zu nehmen, was sich andererseits bei weniger selbständigen Kommentatoren in der Übernahme von Vorurteilen niederschlug – aber auch das kennen wir von heute, wenngleich die meisten Kritiker unserer Zeit gar nicht mehr wissen, von wem sie welche Ansichten übernehmen.

Die vorliegende Anthologie ist besonders hilfreich sowohl für all jene, die mehr über die Rezeptionsgeschichte bestimmter Komponisten und Orchesterwerke wissen wollen, als auch für die Neugierigen, die sich Inspiration für die Entdeckung heute völlig unbekannter Meister und Symphonien holen wollen. Natürlich spielte bei der kritischen Betrachtung die scholastische Ausbildung eine dominierende Rolle, und vieles, was wir heute als genial oder eigentümlich wahrnehmen, erschien den damaligen Beurteilern als verworren und befremdlich, wie auch vieles, was einst als hochbedeutend empfunden wurde, heute Leere und Prätention offenbart. Die seriösen Kritiker haben stets die natürliche und einzig ernstzunehmende und faire Reihenfolge von 1) Beobachten, 2) Beschreiben und 3) (gegebenenfalls) Beurteilen einzuhalten gewusst, und doch ist diese aufrichtige und verantwortungsbewusste Haltung, in der sich Selbstbewusstheit mit Bescheidenheit vereint, zu keiner Zeit allgemein verbreitet gewesen – denn dann kann der Kritiker nicht mehr eine Kompetenz vorgaukeln, die nicht in der Bemühung um Objektivität und dem Respektieren der eigenen Grenzen des Urteilsvermögens verankert ist.

Natürlich gewährt diese Sammlung auch viele Einsichten in höchst Kurioses, und wir erfahren beispielsweise, dass der Hamburger Opernkapellmeister Carl August Krebs 1841 Beethovens ‚Eroica’ „mit 180 Instrumentisten in zwei Gesammtproben’ einstudierte und aufführte. Auch das ist „historische Aufführungspraxis“, wenngleich im 24. Jahr nach dem Tod des Komponisten!

Es liegt hier mit Überraschungen gespicktes, in seinem Umfang respektgebietendes Kompendium vor, das selbstverständlich weiter komplettiert werden kann, uns jedoch erstaunliche Einsichten in die Musikkultur der Zeit gewährt. Und wir möchten wünschen, dass es eine Fortsetzung gibt, die wohl die Jahre 1851-1900 umfassen könnte. Wer sich für die Aufführung und Komposition von Orchestermusik der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum und ihre Rezeption interessiert, findet hier jedenfalls einen reichhaltigen Fundus vor, der alle Erwartungen an ein solches Unternehmen übertrifft.

[Christoph Schlüren, Oktober 2017]