Archiv der Kategorie: Buchrezension

Standardwerk eines Musiktauben zum finnischen Dirigentenphänomen [Rezensionen im Vergleich]

Vesa Sirén: Finnlands Dirigenten. Von Sibelius und Schnéevoigt bis Saraste und Salonen (finnische Erstausgabe von 2010 erweitert, gekürzt und aktualisiert vom Autor und übersetzt von Ritva Katajainen, Benjamin Schweizer und Roman Schatz)

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Scoventa Verlag, 2017; ISBN: 9783942073424

Nichts läge näher und mehr im musikalischen Trend der Zeit, als ein Buch über die Dirigenten (übrigens auch die Komponisten) Finnlands zu schreiben: ein Land mit ca. 5 Millionen Einwohnern produziert mittlerweile mehr international bedeutende Kapellmeister als Deutschland, Österreich, Frankreich, die Schweiz und Italien zusammen. Das ist ein bisschen so, als kämen die alle aus dem Großraum Berlin oder Wien, aus Paris oder Rom… Vesa Sirén, alteingesessener Kritiker bei einer der beiden großen Tageszeitungen in Helsinki und lange schon auf den Fersen der Maestri, hat sich an die Aufgabe gewagt und ein hinsichtlich Informationsmenge und historischer Panoramasicht beeindruckendes Kompendium von fast 1.000 Seiten verfasst. Für alle, die durchblicken wollen beim finnischen Dirigentenphänomen, ist dies ein Standardwerk, und es ist zugleich für jedermann unterhaltsam und in vieler Hinsicht hochinteressant zu lesen. Geschrieben in laienhaft feuilletonistischer Manier, liegt die große Stärke des Buchs in der mühevoll zusammengetragenen Fülle von Originalzitaten, historischen Fakten, Kommentaren von Zeitzeugen (Dirigentenkollegen, Orchestermusiker, Kritiker), was äußerst wertvoll ist, und die biographischen Beschreibungen der Karrieren und Wechselwirkungen.

Also: das Buch lohnt die Anschaffung, wenn man Bescheid wissen und mitreden will, wenn man sich über einzelne Dirigentenpersönlichkeiten kundig machen will (höchst lesenswert sind z. B. die Kapitel über Kajanus, Sibelius, Schnéevoigt, Funtek, Berglund oder Segerstam). Doch zugleich ist es mit Skepsis, mit Vorsicht und Abstand zu lesen. Denn fortwährend beweist Sirén entwaffnend, dass er von Musik so gut wie gar nichts versteht. Peinliche Fehlurteile kommen stapelweise, und die amateurhaft-kompetenzgierige Argumentation bei der Besprechung von Aufnahmen und der Schilderung von Konzerteindrücken zeigt auf Schritt und Tritt, dass nur musikfremde Konventionalität und peinlich einengende Ideologien, Prominenz und das Absichern an vermeintlichem common sense die Grundlage der subjektiven Urteile bilden. Daher wird natürlich Esa-Pekka Salonen in peinlicher Weise vergöttert, und andere – wie Hannu Lintu oder gar John Storgårds – kommen ziemlich bis offenkundig schlecht weg. Dafür gibt es jede Menge Gossip, der Ton des Autors neigt zu verächtlicher Häme, wo der wahrscheinliche Rückschlag sich in Grenzen hält. Sirén ist ein Angeber und Feigling, und im Grunde versteht er wie viele Kritiker schlicht nicht die Grundlagen dessen, wovon er schwadroniert. Anscheinend mangelt es nicht nur hierzulande an verantwortungsbewusst kompetenten Kritikern! Dass John Storgårds’ bahnbrechende Gesamtaufnahme der Sibelius-Symphonien mit dem BBC Philharmonic in einem Satz als „Manchester-Tunke“ herabgewürdigt wird, schlägt dem Fass den Boden aus. Und ein weltweit unübertroffener Meister der Streichorchester-Kultivierung und Pionier substanziellen Repertoires wie Juha Kangas, der Gründer des Ostrobothnian Chamber Orchestra, wird mit hauptstädtischer Ignoranz so nebensächlich und unspezifisch abgehandelt, dass man sich fragen muss, ob die finnischen Meinungsmacher überhaupt etwas von dem mitbekommen, was in ihrem Land abgeht. Das geht so weit, dass Kokkola auf der Karte der wichtigsten finnischen Musikstädte nicht auftaucht. Nein, Vesa Sirén ist entweder ein bösartig schwatzender Manipulateur oder einfach nur musiktaub, ahnungslos autoritätshörig und dumm. Der Kaiser ist nackt. Trotzdem, all dessen eingedenk, ist das Buch zwar oft sehr ärgerlich, aber doch höchst informativ zu lesen. Und es gibt (noch) keine Alternative zu dieser geschickt und flüssig formulierten Fleißarbeit. Und was er nicht beurteilt oder proportional entstellt, also was objektive Tatbestände betrifft, ist dieses schön und solide aufgemachte Buch jetzt die maßgebliche Quelle für den deutschen Leser.

Folgende Dirigenten werden behandelt: Robert Kajanus, Jean Sibelius, Georg Schnéevoigt, Armas Järnefelt, Leo Funtek, Toivo Haapanen, Martti Similä, Tauno Hannikainen, Simon Parmet, Nils-Eric Fougstedt, Jussi Jalas, Paavo Berglund, Jorma Panula, Ulf Söderblom, Leif Segerstam, Okko Kamu, Atso Almila, Esa-Pekka Salonen, Jukka-Pekka Saraste, Osmo Vänskä, Juha Kangas, Sakari Oramo, Mikko Franck, Pertti Pekkanen, Petri Sakari, Ari Rasilainen, Markus Lehtinen, Tuomas Ollila, Tuomas Hannikainen, Hannu Lintu, John Storgårds, Susanna Mälkki, Ralf Gothóni, Olli Mustonen, Jaakko Kuusisto, Pekka Kuusisto, Jari Hämäläinen, Ville Matvejeff, Boris Sirpo, Nikolai van der Pals, Miguel Gómez-Martinez, Muhai Tang, Jean-Jacques Kantorow, Sergiu Comissiona, Leonid Grin, Valery Gergiev, Pietari Inkinen, Dima Slobodeniouk, Santtu-Matias Rouvali

[Annabelle Leskov, Juni 2017]

GINASTERA und das Eldorado der Musik

Volker Tarnow – GINASTERA und das Eldorado der Musik

Boosey & Hawkes, Berlin 2017; ISBN 978-3-7931-4164-8

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Vor circa einem halben Jahr bekam ich Nicolas Slonimskys Autobiographie „Perfect Pitch“ in die Hände und las sie mit allergrößtem Vergnügen. Ich kannte vorher weder den Autor noch die Rolle, die er in der Musik des 20. Jahrhunderts spielte. Sein „zweites Bein“ als Verfasser verschiedenster lexikographischer Bücher bescherte mir kurze Zeit später sein „Music of Latin Amerika“. Es öffnete mir die Augen für die ungeheure Fülle mir bis auf Villa-Lobos und wenige andere unbekannter Musiker und ihrer Musik. Diese Tatsache teile ich vermutlich mit den meisten anderen Europäern.

Und da kam im April 2017 das Buch über den größten argentinischen Komponisten Alberto Ginastera. Von dem hatte ich bei einem Konzert hier in München von Hugo Schuler, dem jungen argentinischen Pianisten, die „Danzas Argentinas“ gehört. Der Name Ginastera war mir als Gitarrist durchaus geläufig, aber von seiner Musik hatte ich eben bislang wenig bis gar nichts gehört.

Welche Rolle Alberto Ginastera in der argentinischen und allgemein in der amerikanischen Musik spielte und spielt, das ist das große Thema in Volker Tarnows neuem Buch. Wie auch seine beiden anderen Bücher über „“Das romantische Schweden“ und über „Jean Sibelius“ liest es sich hervorragend.

Nimmt man es in die Hand, so wundert man sich zu allererst einmal über das Gewicht. Man ist bei heutigen Büchern selten überrascht, was das Papier angeht, aber bei Volker Tarnows neuem Buch hat der Verlag (Ginasteras Exklusivverlag Boosey & Hawkes) weder am Papier noch an der Aufmachung gespart. Hin und wieder denkt man, man hätte zwei Seiten umgeblättert, bis einem aufgeht, dass es wirklich so ein exquisites Papier ist. Das gelbe Lesebändchen als Orientierungsgeber gehört natürlich auch dazu.

Neben den „Äußerlichkeiten“ überzeugt das Buch aber vor allem durch seinen Inhalt, durch die Bilder und Fotografien, durch Lebenslauf, Werkverzeichnis und Anmerkungen. Bei allem ausgebreiteten Wissen über Leben, Werk, Werdegang und die einzelnen Kompositionen liest es sich flüssig und ist durchaus unverkennbar mit dem Tarnow’schen Humor gewürzt, der mir auch in seinen anderen beiden Büchern schon so gut gefallen hat. Natürlich kennt sich der Autor nicht nur in musikalischen Dingen hervorragend aus, er lässt vor uns den ganzen Reichtum der südamerikanischen Musikkultur entstehen, angefangen mit der präkolumbianischen über die peruanische bis zur aktuellen argentinischen. Ginasteras Leben wird im Zusammenhang mit der politischen Situation in Buenos Aires und dem ganzen Land geschildert, seine Aufs und Abs als Musiker, auch als Leiter der verschiedensten musikalischen Institutionen, seine Auslands-Aufenthalte und die Freundschaften mit den verschiedensten Musikern vor allem in den USA, später dann auch in Europa, wo er in Genf mit seiner zweiten Frau – der Cellistin Aurora Nátola – lebte.

All das wird mit leichten Ton geschildert, dazwischen natürlich die Beschreibung seiner einzelnen Kompositionen, seien sie für Orchester, seien sie kammermusikalisch, seien sie für die Bühne oder für den Film. Bei einem Lebenswerk von „nur“ 60 Opera ist die Verschiedenheit der Kompositionen doch erstaunlich, auch drei gewaltige Opern sind dabei, und das Werkverzeichnis listet sie natürlich alle chronologisch auf. Die Verbindung – mal mehr, mal weniger – zur ursprünglichen indianisch oder invasorisch gauchoesk gefärbten indigenen Musik und ihren Instrumenten wird ausführlich dargestellt, auch die Verbindung zu seinen Kollegen in Brasilien oder Mexiko, in Peru oder Kolumbien.
Und Tarnow räumt mit einem Vorurteil auf, welches die Musikwissenschaft lange immer wieder aufs Neue tradierte: Auch die Inkas kannten weit mehr als die in der Forschung aufgedeckte Pentatonik primitivster Art. Wobei wir natürlich leider ob der oftmals schlechten Quellenlage originale Inka-Musik nur in geringem Maß erkunden können. Zu barbarisch haben die Eroberer in Süd- und Mittelamerika gehaust und gewütet. Was heute an „Volksmusik“ aus den Andenregionen und von anderswoher zu uns kommt, ist weitestgehend bloßer Kommerz wie die nervenden Bläsergruppen vor den Kaufhäusern.

Was dieses neue Buch so spannend macht, ist die Tatsache, dass es einen Komponisten umfassend sichtbar und erlebbar macht in seinem ganzen Lebensumfeld und seinem Werdegang. Die nächste Stufe wird also sein, dass ich die Musik dieses bedeutendsten argentinischen Komponisten neben dem viel einfacheren Astor Piazzolla suchen und hören werde. Denn Volker Tarnows Buch hat das geschafft, was ein Buch über ein staunenswertes „Phänomen“ – einen bisher ziemlich unbekannten Musiker namens Alberto Ginastera – so lebendig werden lässt, dass das Anhören seiner Musik der zwangsläufig nächste Schritt sein muss.

[Ulrich Hermann, Mai 2017]

Zielen auf Unausgeschöpftes

Mensch und Musik von Hans Erik Deckert (Novalis-Verlag, 2016)
Novalis; ISBN: 978-3-941664-48-7

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„Mensch und Musik“ zielt auf in der Zeit nach unserer Jahrtausendwende auf neue Weise Unausgeschöpftes. Die Essays des Buches aus den Jahren 1981 bis 2015 widmen sich bei hohem geistig-seelischem Anspruch dem musikalischen Weg zum Selbst, zum teamwork, zur Gemeinschaft, der sozialen Potenz der Musik, der anthropologischen Potenz der Musik, mithin spirituellen Potenzen der Musik.

Die scheinbar nüchterne Phänomenologie der Tonalität wird gestreift bei der Erörterung der Intervalle, der tonalen Kohärenz, der Bildung von Tongestalten und musikalischer Formprozesse. Die Funktion derartiger Elemente der Musiklehre und zudem die Funktion der Notenbeispiele des Buches (Beethoven, Mendelssohn, Schostakowitsch, Martinu) erfüllen sich bei Deckert erst dann, wenn sie sich in einem höchst verantwortlichen Umgang  realisieren – einem erneuerten Umgang mit und in der Musikkultur. Deckert arbeitet im besten Sinne idealistisch heraus, was Musik, die ihren Namen verdient, eigentlich heißt, bedeutet und fordert! Dezent verbindet der Autor dies mit Fähigkeiten und Werten wie Staunen, Hingabe, Demut, Dankbarkeit, Heiligkeit. Nicht umsonst erscheint Arnold Schönbergs Wort vom „Priester der Kunst“ als kardinales Zitat.

Damit verbunden ist für Deckert die Abwendung von Unterhaltung und die Kritik oder Verdammung des heute fast omnipräsenten Happy Sound, der die Menschen bei vielerlei täglichen Verrichtungen vielerorts umspült – solange man nicht mit Deckert versucht, gegen den ein oder anderen modischen mainstream zu schwimmen.

Deckerts Abgrenzung von Rock und Pop muss man zumindest dezidiert, ja radikal nennen. Rock-Musik und ihre Varianten werden im Anschluss an den 1940 geborenen Jan W. Morthenson unter den Verdacht faschistoider Gesellschaftsbildung gestellt (auch knüpft Deckert an das Diktum „Hinrichtung der Sinne“ an, das Urs Frauchiger geprägt hat , mit dem Deckert übrigens auch die Hochschätzung Sergiu Celibidaches verbindet).

Gerne möchte ich Deckert zustimmen, dass jedwedes Militärische (ein Musiker wie Arturo Toscanini wird nicht explizit genannt, könnte aber mitgemeint sein) das Gegenteil von Musik im emphatischen Sinne ist.

Wenn Deckert die Gegenwart in einer tiefen Krise sieht, werden meines Erachtens sehr berechtigte Sorgen wachgerufen durch Stichworte wie Reizüberflutung und eine Abstumpfung, deren musikalische Kehrseite mancherorts interpretatorische Egomanie war. Abstumpfung, Leerlauf, Trägheit, Wertezerfall umschreiben einen Teil dessen, wodurch Deckert sich herausgefordert fühlt. In der Verbannung der popular music indessen geht der Autor, der Rudolf Steiner verpflichtet ist, (mir) zu weit.

Hier gebe ich zu Bedenken: Kann nicht auch ein chorisch arrangierter Satz wie „Viva la vida“ (Coldplay) oder eine konzertant freilich immer nur elektrisch verstärkt dargebotenes Songbook etwa einer Melody Gardot gerade unsere heutigen Jugendlichen zu Erfahrungen führen, die auf die vielleicht noch tiefere Welt des Musikalischen wenigstens vorzubereiten vermögen? Das Sprichwort, demzufolge man manchmal mit dem Teufel über die Brücke gehen muss, bis man drüben ist, bliebe Deckert wohl eher fremd. Vielleicht ist aber gerade das digitale Zeitalter voller solcher Notwendigkeiten?

Insgesamt ist diesem Buch ein Leserkreis zu wünschen, der im Kreis von Instrumentallehrern, Lehrern an allgemeinbildenden Schulen und Instituten Aufmerksamkeit erregen möge. Deckert, der als junger Mann noch bei Pablos Casals und in Frankfurt bei Kurth Thomas gelernt hat, gibt genügend Anregung – nicht zuletzt bei der (ent)spannenden Frage nach den Vorteilen der Stimmtonhöhe von 432 oder 435 Hertz, mit der der Autor aufgewachsen war.

[Matthias Thiemel, Januar 2017]

Treuer Wegweiser im Abenteuer der Musik

„Mensch und Musik“ von Hans Erik Deckert
Novalis; ISBN: 978-3-941664-48-7

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Unter dem Titel „Mensch und Musik“ hat Hans Erik Deckert ein für die heutige Zeit aufrüttelndes Buch geschrieben, eine Art Testament seines über siebzigjährigen, vielfältigen musikalischen Wirkens. Als Cellist, Dirigent und Hochschulprofessor kann er in seinem Erfahrungsschatz bis zu Pablo Casals und Wilhelm Furtwängler zurückblicken. Darin zeigt sich eine außergewöhnliche Biographie.

„Mensch und Musik“ ist ein brennendes Plädoyer für die Musik, um den Menschen von heute wieder bewusst zu machen, wovon eigentlich die großen Musiker seit jeher wussten und was sie zielstrebig verfolgt haben: Von J.S. Bach ist uns überliefert: „Alle Musik soll zur Ehre Gottes und zur Rekreation des Gemüts sein. Wo dieses nicht in Acht genommen wird, da ist’s keine eigentliche Musik, sondern nur ein teuflisches Geplärr und Geleier“. Beethoven sagte: „Musik ist höhere Offenbarung als alle Weisheit und Philosophie“. Auch bei Denkern wie Rudolf Steiner oder Goethe findet Deckert klare Bekenntnisse zur Musik, und schmückt damit durch aussagekräftige Perlen seinen Diskurs.

Viele Aspekte unseres Umgangs heute mit Musik werden in diesem Buch ans Licht geholt: Wie Musik mit elektronischen Mitteln (CD, Lautsprecher) vermittelt wird.  So hören wir z.B. bei der Trauung eines Ehepaares die geistlichen Lieder von einer CD gesungen, sogar bei der Beerdigung von Sergiu Celibidache, einer der größten Gegner von Aufnahmen, wurde vom Messner eine Schallplatte aufgelegt. Auf welchen Kammerton ‚a‘: 432, 440 bis 445 Hz – sollen die Instrumente gestimmt werden? Und warum eigentlich immer höher? Die Kunst des Instrumentalspiels, das zu einer faszinierenden technischen Meisterschaft gewachsen ist, als Selbstzweck zu pflegen, und immer schneller: ist das, wohin der Weg heutiger Musiker führen sollte? In all diesen Phänomenen zeigt sich, dass der Begriff „Musik“ mit seinem Kleid, dem Klang, gleichgesetzt wird, anstatt zu verstehen, dass aus Klang Musik entstehen kann, Klang jedoch oftmals nichts mit Musik zu tun hat.

Ein zentrales wertvolles Thema ist Deckerts Auffassung der Kammermusik als soziale Kraft, und wie sie das Solistische sowie das Orchestrale befruchten kann. Hier kann sich eine Tür zur Menschenbildung öffnen.

Konkreter zeigt er, welche Rolle die Technik im Instrumentalspiel einnimmt, und welche Gefahren es mit sich bringt, wenn sie getrennt von einer musikalischen Vorstellung gepflegt wird. Auch auf dem pädagogischen Gebiet können wir in diesem Buch wertvolle Gedanken für den Lehrer-Alltag finden.

Mit Notenbeispielen gibt uns H.E. Deckert aus seinem Erfahrungsschatz kostbare Orientierungshilfen für die Phase der Aneignung eines Musikstücks. Vor welcher Verantwortung steht doch zum Schluss jeder Musiker, wenn es um das Vermitteln des musikalischen Phänomens als geistige Realität geht!

Wir halten hier ein Buch mit vielen wunderbaren Anregungen in Händen, das als treuer Wegweiser dienen kann, um das wunderbare Abenteuer des Musizierens zu beflügeln.

[Rudolf Kuhn, Dezember 2016]

Die Musik in Gefahr?

Novalis; ISBN: 978-3-941664-48-7

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Mensch und Musik heißt Hans Erik Deckerts Anthologie von Aufsätzen aus den Jahren 1981 bis 2015. Der Cellist, Dirigent und Musiktheoretiker geht auf die Wirkung der Musik im Menschen, auf ihre Heiligkeit, auf die Folgen der aktuellen Musiknutzung, auf die Kammermusik und auf weitere Phänomene ein.

Ist die hörbare Kunst in ernsthafter Gefahr? Immer wieder tritt diese Frage, die Mahnung in den Aufsätzen von Hans Erik Deckert hervor. Es ist bei weitem nicht die einzige Frage, die diese umfassende wie weitreichende Anthologie umfasst, aber doch ist es die aktuellste – die, die einen jeden heute betrifft. Die Begründung dieser Befürchtung: mehr als frappierend und definitiv denkwürdig. Die Grundannahme, von der Deckert ausgeht, ist, dass es eine objektive Existenz der Musik gibt und dass sie in uns allen als eine Art Heiligtum prädisponiert ist. Deckert geht dabei auf die Sphärenharmonie Pythagoras‘ zurück, welche die Musik in Musica Mundana (Musik der Welt), Musica Humana (Musik im Menscheninneren) und Musica Instrumentalis (Stimme und Musikinstrument) unterteilt. Somit sind wir ständig umgeben von diesem kostbaren Gut, zudem ist es in uns selbst verankert – und erst in dritter Instanz können wir sie bewusst erzeugen. Doch wie hat sich die Musik durch die Möglichkeit der Tonaufnahme gewandelt, wie wird sie nun dargestellt und was macht sie mit uns? Wir werden belastet von einer Dauerbeschallung, ob in Film und Werbung, im Kaufhaus oder auf der Straße, in manchen Städten wie München gar in den U-Bahn-Stationen. Musik ist jederzeit wieder-abrufbar, die Einmaligkeit der Aufführung wird durch Reproduktion mit endloser Laufzeit ersetzt. Die Folgen für die Musiker unterminieren frühere Praxis und führen von der Gestaltung des unwiederbringbaren Moments hin zu einer Fixierung auf technische Brillanz und Makellosigkeit, die für eine ‚verewigte’ Aufnahme angeblich nötig sei. So wird auch im Konzertsaal versucht, an die Perfektion einer geschnittenen Aufnahme heranzukommen. Die Seele der Musik wird preisgegeben für einen schönen Körper. Nicht geringer, vielleicht sogar noch gravierender, sind die Konsequenzen für den Hörer. Er lernt das „Weghören“, gewöhnt sich an die stumpfe Hintergrundberieselung und nimmt diese irgendwann überhaupt nicht mehr wahr – entsprechend verlernt er das „Hinhören“, die Konzentration auf den erlebbaren Zusammenhang der Musik. Daraus resultiert, wie Deckert sagt, eine rein triebgebundene Musik, welche auf Zuständen statt auf entwickelnder Form basiert, die Musik zur Droge, zum vereinzelten Gefühl oder zum ’schönen Geräusch‘ abwertet. Auch wenn ich an dieser Stelle nachdrücklich eine generelle Verteufelung der so genannten ‚Unterhaltungs-Musik‘ fragwürdig finde und die Ablehnung für übertrieben halte, sollte sich der Hörer doch bewusst des musikalischen Gehalts und wahrhafter künstlerischer Leistungen bewusst werden, sollte sich nicht von Oberflächlichkeiten und schon gar nicht von Gewohnheiten blenden lassen, sondern lieber auf tieferen Ebenen suchen, um auch bei leichter Muse nicht vom wachen Zugang in einen benebelten Zustand abzugleiten.

Doch wie nun kommt man heraus aus diesem Teufelskreis der musikalischen Abstumpfung, die uns dieses Heiligtums zu berauben droht? Vollständig, so die ernüchternde Antwort, vermutlich gar nicht, denn zu stark werden wir bereits von außen mit Hintergrund- und Zustandsmusik beschallt, um nicht die natürlichen Abwehrreflexe im Sinne von bewusstem wie unbewusstem Weghören auszubilden. Verbessern können wir den Zustand zum einen natürlich durch veränderte Gepflogenheiten des Musikhörens, indem wir das „Hören“ zum Zentrum und nicht zum Hindergrund oder zum Teilaspekt eines Multitasking machen, vor allem aber wieder Konzerte hören anstelle von Aufnahmen. Denn nur live versprüht die Musik unverfälscht (ohne künstliche Membran etc.) ihre volle Lebendigkeit und die unwiederbringliche Einmaligkeit des Moments, das echte Erlebnis. Zum anderen ist es selbstverständlich das bewusste Musizieren selbst: Deckert nennt vor allem die Kammermusik als quasi heiligen Gral der Musik. Nur hier kann die „notwendige Durchdringung des Individuellen mit dem Sozialen“ stattfinden, kann der Mensch sich als gleichwertiger Teil eines Ganzen mit tragender Aufgabe finden. Aktives Hören ist in der Kammermusik unentbehrlich, um sich einfügen zu können. Über die Wege, wie nun eine musikalische Gemeinschaft gebildet und ausgebildet werden kann wie auch über das, was unbedingt beim Musizieren zu vermeiden ist, schreibt Deckert ausführlich. Vor allem dem Thema „Zu hoch, zu schnell, zu laut“ schenkt er notwendigerweise ein ganzes Kapitel, in welchem auf die verheerenden Auswirkungen unserer heutigen Musizierpraxis eingegangen wird: Auf den zu hohen Kammerton, der besonders den Sänger Überlastung der Stimmbänder beschert; auf zu schnelle Tempi, die all die herrlichen Details unhörbar machen; sowie auf zu heftige Lautstärke, die die Ohren der Musiker (wie auch des Publikums) belasten und schädigen.

Natürlich handelt es sich bei „Mensch und Musik“ nicht um ein Buch, welches ausschließlich auf Probleme eingeht und unsere heutige Praxis kritisiert – das Hauptanliegen ist viel eher, uns die besonderen Kräfte der erlebten Musik – gespielt wie gehört – nahezubringen, uns die „Heiligkeit“ der Musik zu vermitteln und uns dazu anzuregen, Musik wieder bewusst wahrzunehmen und sie als Teil von uns in uns aufzunehmen. Dies alles mit einer nun beinahe neunzigjährigen Lebenserfahrung, die so viele Veränderungen der Musikwahrnehmung und -ausführung aktiv mitbekommen hat, ergibt ein umfassendes Bild über das Wesen der Musik. Es lässt den Leser so einiges kritisch überdenken und kann helfen, die Liebe zur Musik noch weiter zu entfachen.

[Oliver Fraenzke, Januar 2017]

Die Musik als universelle Schule für den Menschen

Hans Erik Deckert: Mensch und Musik
Novalis Verlag, 2016; ISBN: 9783941664487

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Hans Erik Deckert ist mir schon lange ein Begriff, und ich habe viele hervorragende, oftmals auch prominente Musiker, vor allem aus Skandinavien, getroffen, die ihm als Schüler, Studenten und Kollegen begegnet sind. Wir saßen in den gleichen Kursen bei Sergiu Celibidache in Mainz, und er hatte schon damals immer ein offenes Ohr für uns junge, naive Anfänger. Deckert wurde 1927 in Hamburg als Sohn eines deutschen Vaters und einer dänischen Mutter geboren. Am 15. Januar diesen Jahres zelebrierte er seinen 90. Geburtstag mit der Leitung und Einstudierung von Thomas Tallis’ 40stimmiger Motette ,Spem in alium’ mit 40 Cellisten bei einem Festkonzert in der Martinskirche Müllheim in der Nähe von Freiburg im Breisgau. Er ist also ungebrochen aktiv und lebt seine Passion und Botschaft: die Kammermusik, deren Prinzipien er als einer der gefragtesten, legendären Mentoren unserer Zeit jungen Musikern aus allen Ländern nahebringt im Rahmen seiner ‚Cello-Akademie’. 1939-44 war er Schüler des Komponisten und Chordirigenten Kurt Thomas am Musischen Gymnasium in Frankfurt am Main und setzte seine Ausbildung 1948-52 in den Fächern Cello, Dirigieren und Musiktheorie an der Kopenhagener Musikakademie fort. Er hat Meisterkurse von Pablo Casals und – wie erwähnt – später bei Sergiu Celibidache besucht und pflegte intensiven Austausch mit vielen großen Musikern des 20. Jahrhunderts, die längst in die ewigen Klanggründe eingegangen sind. Viele Jahrzehnte wirkte er als Solist, Dirigent und Kammermusiker und sammelte jene Erfahrungen, von denen seither seine Studenten profitieren, die er nicht nur in Europa, sondern auch in Ägypten, Südafrika, Japan, Lateinamerika und den USA unterrichtet. Geistig steht er der Anthroposophie Rudolf Steiners nahe, was natürlich auch die Affinität zu Goethe und fernöstlicher Spiritualität einschließt, also eine zutiefst humanistische Musizierhaltung, wie sie eben auch bei solchen Meistern wie Wilhelm Furtwängler, Bruno Walter, Leo Weiner, Zoltán Kodály, Paul Hindemith, Celibidache, Casals, Edwin Fischer, Adolf Busch, Heinrich Neuhaus, Josef Vlách, Isaac Stern, Sándor Végh, Jean Louis Florentz oder Anders Eliasson in unterschiedlichster Ausprägung zu finden war, und wie sie heute von Musikern wie dem 80jährigen Berliner Streichquartett-Mentor Eberhard Feltz oder dem in Salzburg wirkenden Geiger und Dirigenten Lavard Skou Larsen verkörpert wird.

Es ist mithin naheliegend, wenn Deckerts so schnell vergriffenes und soeben in zweiter Auflage erschienenes Buch ‚Mensch und Musik’ heißt und dort viele Zitate eines Großteils der vorgenannten Legenden ihren Niederschlag finden. Das Buch ist eine Sammlung von Vorträgen und Aufsätzen Deckerts aus den Jahren 1981-2015. Deckert hat dabei stets nicht nur eine musikalische und soziologische, sondern eben auch eine ethische, ja moralische Botschaft zu vermitteln. Der verantwortungsbewusste Musiker hat gute Chancen, sich auch als verantwortungsbewusster Mensch zu bewähren – was ja keine Selbstverständlichkeit ist. Dabei ist Deckert stets zugleich Praktiker und Idealist. In einem der zentralen Essays – ‚Geben und Nehmen. Kammermusik als Schule der musikalischen Zusammenarbeit’ benennt er als die „drei Grundgesetze der Kammermusik“: das „Prinzip der rhythmischen Verzahnung“, das „Prinzip der Motiv-Übernahme“, und „das des aktiven, aus ganzer Seele teilnehmenden Begleitens“. Man könnte auch sagen: das Miteinander, das Ineinander, und das Füreinander – es geht hier also immer um den Gleichklang von Musikalität und Menschlichkeit, was sich wie ein roter Faden durch das ganze Buch zieht, ob explizit benannt oder im Hintergrund anwesend. Kapitel wie ‚Das musikalische Phänomen’ oder ‚Musikalisches Bewusstsein’ führen auf eine zeitlosen Gesetzmäßigkeiten verpflichtete Weise in die Voraussetzungen bewussten, verantwortlichen Musizierens ein. Am Beispiel Beethovens wird aufgezeigt, wie äußerste Einfachheit der Melodiebildung zugleich Ausdruck höchster, reinster, leuchtender Größe der menschlichen Innenwelt ist – nicht das Material ist wirklich entscheidend, sondern der ausgerichtete Geist, der es empfängt und formt, eine Botschaft also, die diametral jener das Materialistische und das Emotionale trennenden Musikauffassung entgegentritt, wie sie seit dem Siegeszug der Atonalität im intellektuellen Diskurs so prägend für die Moderne und im Gefolge dessen überhaupt für die Musikausbildung geworden ist. Entschieden stellt sich Deckert der Popmusik und überhaupt jeder Form verstärkten und künstlich erzeugten Klangs entgegen, denn hier spiegelt sich der Triumph der unmenschlichen Kräfte wider, das mechanische Robotertum, das  im narzisstischen Perfektionismus und der unerbittlichen Wettbewerbsmentalität unserer Zeit seinen entmenschlichten Niederschlag findet. Dazu ist freilich einzuwenden, dass der Jazz, die avancierte Rockmusik und andere daraus in der Übernahme weiterer Einflüsse wie Folklore, indigener Kunstmusik oder auch klassischer Musik hervorgegangene Strömungen und Fusionen höchst kreative Musiker hervorgebracht haben (ich denke z. B. an Erscheinungen wie King Crimson, Astor Piazzolla, Peter Michael Hamel, Oregon usw.). Trotzdem, es stimmt, es bleibt absolut wesentlich, dass wir Erfahrungen mit dem Klang in seiner reinen, natürlichen, ursprünglichen Form machen, und daraus hervorgehend mit der Korrelation der Klangphänomene zu höherer Einheit der Gestalt, was Voraussetzung ist, um die Identifikation mit der gegenständlichen Welt, die Abhängigkeit von den Dingen, die wir letztlich nicht mitnehmen können, transzendieren zu können. Deckerts Kritik am Zustand der musikalischen Welt muss intelligent gelesen werden, und dass wir uns in einer Epoche der Dekadenz befinden, können wir erkennen, wenn wir uns intensiv und unabhängig kritisch mit jenen Strömungen auseinandersetzen, die heute insbesondere in Mitteleuropa das feuilletonistisch verbürgte Siegel ‚Neue Musik’ tragen, das in den meisten Fällen mit erlebtem, also erlebbarem Zusammenhang nichts zu tun hat und uns vor allem in eine Welt der sinnlichen Effekte und spekulativen Methoden katapultiert, die uns so leicht von unserem inneren Erleben abschneiden können, indem sie uns eine aufregende Illusion der elaborierten Künstlichkeit offerieren. Natürlich gibt es auch heute große Komponisten, doch die müssen wir suchen, und wir werden sie weder in der etablierten ‚Avantgarde’ finden noch in ihren populären Antipoden, der Unterhaltungsmusik vom billigen Schlager über die sentimentalisierende Hollywoodsauce bis hin zur mechanistischen Minimal Music. Große Musik heute muss nichts ausschließen, überhaupt ist sie nicht eine Frage der Mittel an und für sich (man denke an die Melodik Beethovens!), und wer kennt schon einen so genialen Komponisten wie den Norweger Ketil Hvoslef, oder den vor wenigen Jahren verstorbenen Franzosen Jean-Louis Florentz, um stellvertretend nur zwei Namen zu nennen, deren Musik hinsichtlich des Materials und der sich daraus entfaltenden Dynamik verschiedener nicht sein könnte?

Deckert betrachtet eingehend die musikalischen Grundphänomene Rhythmus, Medodie und Harmonie (die Anders Eliasson, ein anderer ganz großer Meister unserer Epoche, als das H2O der Musik bezeichnete, denn „Musik muss fließen, und wenn man sie anschieben muss, ist es keine Musik“) und gibt dem Kammermusiker, sei er nun Anfänger, Amateur, Lehrer oder hochqualifizierter Virtuose, auf Schritt und Tritt wertvolle Hinweise. Und immer geht es dabei um das Menschliche, denn Musik wird von Menschen entdeckt, empfangen, gestaltet, um Menschen an einem zutiefst menschlichen Erleben teilnehmen zu lassen.  Insofern ist Musik, um den großen dänischen Komponisten unserer Zeit Per Nørgård zu zitieren, ein „unendlicher Empfang“. In ‚Die notwendige Durchdringung des Individuellen mit dem Sozialen’ konstatiert Deckert:

„Immer wieder passiert es, dass jemand lange Zeit etwas gänzlich allein übt. Anstatt frühzeitig, wenn auch noch so skizzenhaft, sich um die für ihn zuständige musikalische Umgebung zu kümmern. Gerade dieser Sachverhalt zeigt an, dass etwas nicht in Ordnung ist. Dieser zweite Pol muss ständig wachsen. Die Hinwendung zum sozialen Element der Musik muss sich intensivieren, muss nach und nach bewusster werden. Geschieht dies nicht, dann kann es zum Verhängnis werden. Und leider ist es eben vielerorts so, dass dies nur unzureichend geschieht, unter Umständen sogar überhaupt nicht.“

Und in einem Abschnitt über ‚Musikalische Transzendenz schreibt er mit hymnisch ernüchternder Emphase:

„Gerade am Phänomen Kontrapunkt sehen wir die geradezu erschreckende Unterernährung unserer musikalischen Vorstellungswelt. Dieses Fach wird oft zur mathematischen Folter anstatt zur Entwicklung musikalischer Formkräfte. Es gleicht einem ausgetrockneten Flussbett, wo früher einmal ein lebensspendender Strom war.

So haben wir die Möglichkeit, die musikalischen Elemente als Kraftzentren, als geistige Realitäten zu empfinden, denen wir mit immer größerer Ehrfurcht und Hingabe gegenübertreten. Wir sind hier im Bereich des Allerheiligsten in der Musik. Meines Erachtens sollte hier jede musikalische Arbeit ihr Zentrum haben, hier sollte das eigentliche Hauptfach für jeden Musiker sein, für jede Musikausbildungsstätte, für jegliche Form des Musikunterrichtes: Es ist die Musikphänomenologie!“

Hans Erik Deckerts musikalisch-menschliches Credo, getragen von reicher Erfahrung, unterscheidungsfähigem Sachverstand, klarer Vorstellung und unbestechlichem Ethos, ist es wert, von jedem Musiker gelesen und in die aktive Arbeit einbezogen zu werden. Zuallererst von den Pädagogen, aber auch von Musikliebhabern und von begeisterten ebenso wie von frustrierten Berufsmusikern, die ihr ursprüngliches Ideal nicht aus den Augen verloren haben und einen verantwortungsbewussten, fruchtbaren und intelligenten Ansatz suchen, um sich zu orientieren in der von innerer Lebendigkeit getragenen Welt eigentlichen Musizierens jenseits der im besten Falle brillanten Oberflächlichkeit des normalen ‚Survival of the Fittest’-Musikbusiness. Denn, so Deckert:

„Was aber ist dieses Werdende? Es ist der musikalische Konsens in einer Gemeinschaft von Musizierenden, bewirkt durch die gemeinsame Aneignung objektiver musikalischer Gesetze. Dieser Konsens wird sich unmittelbar auf den aktiv miterlebenden Zuhörer übertragen. Eine subjektive Interpretation hat hier zurückzutreten gegenüber der übergeordneten Erkenntnis musikalischer Zusammenhänge. Ein Lehrer oder ein Dirigent kann zwar musikalische Gemeinschaften suggerieren, doch der Konsens, der durch das musikalische Erleben entstehen kann, beruht allein auf der Freiheit des Einzelnen in der Wahrnehmung der eindeutigen musikalischen Phänomene.

Wir können nicht sagen, was Musik ist. Aber wir können erleben, wenn Musik entsteht. Wir können erleben, wenn Töne korreliert werden und ein ewiges ‚Jetzt’ die Zeitdimension aufhebt. In der Kammermusik können die Mitwirkenden gemeinsam korrelieren, aber ohne sich selbst zu verlieren. Hier liegt das Mysterium der Musik, das jedem Menschen zugänglich ist, wenn er sich dafür öffnet. Hier liegt die Chance, die Musik als eine universelle Schule für den Menschen zu empfinden.“

[Christoph Schlüren, Januar 2017]

Neusprech-Lexikon der Frontberichterstatter

Jörn Peter Hiekel und Christian Utz (Herausgeber): Lexikon Neue Musik
Bärenreiter; ISBN 978-3-7618-2044-5

Zusammen mit dem Metzler-Verlag legt der Bärenreiter-Verlag in Kassel ein neues ‚Lexikon Neue Musik’ vor, das uns vor allem in Ästhetik- und Sprachregelung jener Kreise einführt, die sich nach wie vor als Avantgarde der Musikentwicklung begreifen. Die Enzyklopädie besticht mit großem Detailreichtum hinsichtlich des Mainstreams der Moderne, wie er sich in Mitteleuropa seit Dodekaphonie und Serialismus präsentiert. Was sich an der von hier aus als solche wahrgenommenen Peripherie abspielte und abspielt, wird nur sehr lückenhaft wiedergegeben und fällt vielfach unter den Tisch. So erstaunt es dann aber doch, dass im Indien-Artikel die bahnbrechenden Neuerungen von John Foulds unerwähnt bleiben (wahrscheinlich hat Bhagwati seinen Namen noch nie gehört), und dass in der Übersicht der nordischen Länder mit dem Isländer Jón Leifs einer der radikalsten Modernisten (zudem der bekannteste Komponist des Landes) keiner Erwähnung für würdig befunden wird. Das ist peinlich und zeigt wieder einmal, wie viel von der Qualifikation der einzelnen Autoren abhängt, und natürlich auch von deren Vorlieben. Es wird an entsprechender Stelle auch ignoriert, dass beispielsweise der Däne Per Nørgård ein entscheidender Vorläufer des Spektralismus war. Der Schwerpunkt liegt eindeutig bei den üblichen Verdächtigen mitteleuropäischer und US-amerikanischer Provenienz, mit einigermaßen hilfreicher Einbeziehung der russischen Avantgarde. Ganz unzureichend ist der Artikel über Pop und Rock, denn dort fehlen alle entscheidenden Schrittmacher des Fortschritts wie King Crimson, Henry Cow, Univers Zero, auch Van der Graaf Generator oder Soft Machine. Klar, die Autorin kennt sich einfach nicht genug aus.

Die umfangreichen Hauptartikel am Anfang des Buches, die dem alphabetischen Teil vorausgehen, beschäftigen sich mit: ‚Die Avantgarde der 1920er Jahre und ihre zentralen Diskussionen (Ulrich Mosch), ‚Ein Sonderweg? Aspekte der amerikanischen Musikgeschichte im 20. und 21. Jahrhundert (Wolfgang Rathert), ‚Auf der Suche nach einer befreiten Wahrnehmung. Neue Musik als Klangorganisation’ (Christian Utz), ‚Angekommen im Hier und Jetzt? Aspekte des Weltbezogenen in der Neuen Musik’ (Jörn Peter Hiekel), ‚Ästhetische Pragmatiken analoger und digitaler Musikgestaltung im 20. und 21. Jahrhundert’ (Elena Ungeheuer), ‚Raumkomposition und Grenzüberschreitungen zu anderen Kunstbereichen’ (Christa Brüstle), ‚Zwischenklänge, Teiltöne, Innenwelten: Mikrotonales und spektrales Komponieren’ (Lukas Haselböck), ‚Geistliche, spirituelle und religiöse Perspektiven in der Musik seit 1945’ (Jörn Peter Hiekel) und ‚Verflechtungen und Reflexionen. Transnationale Tendenzen neuer Musik seit 1945 (Christian Utz). Diese Artikel sind durchaus teils fundiert und interessant, zeigen aber auch zum Teil bereits auf, wie hier die Herausgeber ihre Idee vom Fortschritt als alleingültig verstehen. Christian Utz insbesondere hat sich auf eine ‚Argumentationsweise’ spezialisiert, die jede Kritik allgemeiner Art an diesem Fortschritt als Polemik abtut. Das ist natürlich sehr beschädigend für jegliche fruchtbare Selbstreflexion, und tatsächlich sind wir jetzt bei einem vom Begriff der ‚Postmoderne’ abgeleiteten Begriff der ‚Posttonalität’ angekommen. Das ist natürlich reine Willkür und besagt eigentlich gar nichts außer der Tatsache, dass man weder im umfassenden Sinn je verstanden hat, was Tonalität ist, noch, was Atonalität ist. Unglaublich klug und kompliziert wird hier argumentiert, ohne dass ein generelles Verständnis der musikalischen Grundlagen vorhanden wäre. Solche ‚Denker’ sind ebenso reaktionär wie die konservativen Theoretiker des 19. Jahrhunderts, die in der Selbstverständlichkeit der dur-moll-tonalen Welt als alleinseligmachender Grundlage befangen waren. Stattdessen herrscht heute eben die reine, auf keinem zusammenhängenden Erleben basierende Willkür und Orientierungslosigkeit, die alles interessant findet, was irgendwie einen Weg aus der Tradition heraus zu weisen scheint. Qualität wird so einfach behauptet wie ihr Gegenteil. Jedoch ist dieses Lexikon sehr nützlich und hilfreich für all jene, die mitreden wollen im aktuellen Diskurs innerhalb des geschlossenen Zirkels derjenigen, die sich als die an der Front der neuesten Musik stehend wähnen – also die Macher, Mitwirkenden, Profiteure und Mitläufer der Festivals und Konzertreihen ‚Neuer Musik’, die nur eines scheuen ‚wie der Teufel das Weihwasser’: erlebt und damit erlebbar zusammenhängendes Komponieren. Das Buch gibt wie kein anderes umfassenden Einblick in die intellektuellen ‚Fundamente’ der Echokammer einer ‚posttonalen’ Welt, die sich selbstherrlich um sich selbst dreht und nur dank massiver Subventionen weiterhin existiert. Wer verstehen will, wie die denken, sollte sich anhand dieser spröden Lektüre damit auseinandersetzen. Die Informationsfülle ist gigantisch, auch wenn sie weitgehend ideologisch programmiert und voll blinder Flecken ist. Diesmal übrigens kann Herr Utz, Frontberichterstatter aus dem heroischen Krieg für das innerlich Zusammenhangslose, in der Ästhetik der 1920er Jahre Steckengebliebene und Mitherausgeber dieser epochalen ‚Neusprech’-Enzyklopädie, zurecht von Polemik sprechen – die er allerdings wie so oft nicht faktisch, sondern lediglich ideologisch kontern könnte.

 

[Annabelle Leskov, Dezember 2016]

Substanzielle Begegnungen mit einem Jahrhundertgenie

Agora Darmstadt, ISBN: 3-87008-026-4

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Heute ist er nur noch wenigen als Pianist ein Begriff, noch mehr als Komponist zu Unrecht beinahe vollständig vergessen und so gut wie nie aufgeführt: Die Rede ist von Eduard Erdmann. Legendär sind seine uns hinterlassenen Aufnahmen, unter anderem von Schubert, Schumann, Mozart, Beethoven und Mussorgsky, die in einer unerreichten Phrasierung und Natürlichkeit erglänzen, in denen jede Stimme ein eigenständiges Leben führt und sein Spiel in orchestral anmutende Sphären vordringen lässt. Seine eigenen Werke, die zweifelsohne zum Substanziellsten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehören, begeistern durch ihre schlüssige Formgestaltung, die einen unterbrechungslosen Spannungsbogen bilden, und durch energetisch ausgefeilte Melodielinien, welche in freier Tonalität an die Grenzen des Erfassbaren und Spielbaren gehen, doch von feinen Musikern zu ungeheuerlicher Wirkung geführt werden können. Aufnahmen gibt es leider wenige, erhältlich sind hauptsächlich einige in mangelhafter Qualität von Israel Yinon eingespielte Orchesterwerke (an die älteren, vermutlich weitaus besseren Aufnahmen der 50er- und 60er-Jahre konnte ich nicht gelangen)  – eine Renaissance in völlig neuem, probenintensivem und musikalisch reflektiertem Herangehen ist dringend notwendig!

Zum 10. Todestag Eduard Erdmanns widmeten Freunde, Schüler und Verehrer dem Künstler und seiner Frau Irene 1968 das Buch „Erinnerungen an Eduard Erdmann“, gesammelt und herausgegeben von Manfred Schlösser und Christoph Bitter bei Agora Darmstadt. Es enthält verschiedenartigste Beiträge über Erdmanns Persönlichkeit, sein Schaffen als Komponist und Wirken als Pianist sowie als Lehrer, zudem finden sich eigene Texte und Briefe von dem und an den Künstler, der Text „Die Mama stirbt“ von Irene Erdmann sowie ausführliche Anhänge inklusive Werk- und Aufnahmeverzeichnis. Die Beitragenden sind: Manfred Schlösser, Christoph Bernoulli, Heinz Tiessen, Ernst Krenek, Hans Ornstein, Albert Schulze-Vellinghausen, Viktor Achter, Ernst Lehmann-Leander, Sava Savoff, Marianne Savoff, Philipp Jarnach, Gert Kroeger, Max Rychner, Volker Scherliess, Rudolf Bauer, Frank Wohlfahrt, Paul Baumgartner, Karl Grebe, Arthur Willner, Oscar Bie, Walter J. R. Turner, Robert Oboussier, Josef Müller-Marein, Christof Bitter, Carl Seemann, H. Schmidt-Isserstedt, Helmuth Wirth, Karl Lenzen, Hilde Langer-Rühl, Astrid Schmidt-Neuhaus, Alfons Kontarsky, Aloys Kontarsky, Hans Eckart Besch, Karl H. Girgensohn und Jürgen Klodt. Briefkonversationen wurden geführt mit Hans Jürgen von der Wense, Artur Schnabel, Ernst Krenek, Alban Berg, Walter Gropius, Wassily Kandinsky, Yrjö Kilpinen, Hans Pfitzner sowie Max Rychner.

Die Spanne reicht von guten bis hin zu das Gros bildenden außergewöhnlich fantastischen Beiträgen, und mit jedem Artikel ergänzt sich das Bild dieses einzigartigen Menschen, Komponisten und Musikers mehr. Am Ende wird man beinahe glauben, selbst ein Bekannter von Eduard Erdmann gewesen zu sein. Kaum ein Geheimnis bleibt unangetastet, der Leser erfährt von Erdmanns eigenwilliger Mutter, von seinen ersten Erfahrungen auf dem Podium, von seiner Leidenschaft als Büchersammler und seiner allumfassenden Gebildetheit, von gemeinsamen Reisen; Ebenfalls nicht vorenthalten werden dem Leser zeitgenössische Konzertkritiken, Gedenkworte und ähnliches.

Gerne würde ich auf jeden Artikel gesondert eingehen, denn beinahe jeder wäre es wert, doch würde dies den Rahmen der Besprechung sprengen. Besonders hervorheben möchte ich allerdings den großen Beitrag „Eduard Erdmann in seiner Zeit“ von dessen Lehrer, dem fantastischen Komponisten und ebenso überragenden Musiktheoretiker Heinz Tiessen, der Erdmann um dreizehn Jahre überlebte und somit am Anfang (Erdmann kam mit neunzehn zu ihm) wie am Ende von dessen Karriere Zeuge war – und alles dazwischen liegende auf eloquenteste Weise niederschrieb. Bemerkenswert sind auch die Texte von Erdmanns Komponistenkollegen Ernst Krenek und Philipp Jarnach, die besondere Einblicke gewähren. Neben den eigenen Texten auch eine wahre Pflichtlektüre ist der in gehobener Prosa geschriebene Text „Die Mama stirbt“ von Irene Erdmann, hier wird noch das letzte Geheimnis aus der Familiengeschichte Erdmanns angesprochen. Nicht zuletzt natürlich entscheidend sind die Texte von Erdmanns Schülern, wie er im Unterricht gearbeitet hat, auf was er wert legte und wie seine Vorstellung von lebendigem Klavierspielen war, wie überhaupt er sich die Musik erarbeitet hat.

Kurzum, das Bild ist allumfassend, das der Leser dieser Lektüre von Eduard Erdmann erhält, und es ist auf vielerlei Ebenen äußerst lehrreich. Es sollte Pflichtlektüre sein für alle Pianisten und Musiker, denen es nicht nur um rein technische Bewältigung der Musik geht, denn gerade hier wird ein unweigerlicher Unterschied bemerkbar. Auch allgemein ist dieses Buch wärmstens zu empfehlen, hier lernt man einen außergewöhnlichen, einzigartigen Menschen kennen, der sich allen Konventionen entzieht und eines verkörperte, was nur die wenigsten von sich tatsächlich behaupten können: einen wahren Künstler und großen Menschen.

[Oliver Fraenzke, November 2016]

Anmerkung: „Begegnungen mit Eduard Erdmann“ ist beinahe ausverkauft, im freien Handel ist die Literatur nur selten zu finden. Restexemplare der 3. Auflage gibt es für  20.-€ {keine BpB}, nur direkt vom Agora Verlag, Nollendorfstr. 28, 10777 Berlin, E-mail: agora-verlag@gmx.de.

Impressionen aus einer verkehrten Welt – Guttenberg statt Strauss

Handbuch Dirigenten – 250 Porträts
Herausgegeben von Julian Caskel und Hartmut Hein
Autoren: die Herausgeber, Kai Köpp, Michael Stegemann, Christine Drexel, Annette Kreutziger-Herr, Andreas Domann, Andreas Eichhorn, Alberto Fassone, Alexander Gurdon, Dieter Gutknecht, David Witsch, Florian Kraemer, Gesa Finke, Hans-Joachim Hinrichsen, Michael Schwalb, Michael Werthmann, Peter Niedermüller, Tobias Pfleger
Bärenreiter/Metzler; ISBN: 9783476023926

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Ein Handbuch über Dirigenten in deutscher Sprache, das sich nicht nur der großen Namen annimmt, sondern ein breiteres beschreibendes Spektrum bietet, war lange überfällig, und insofern kann man dem Bärenreiter-Verlag nur danken, dies endlich umgesetzt zu haben. Ob man dafür die richtigen Herausgeber und Autoren gewonnen hat, ist allerdings mehrheitlich – gelinde gesagt – sehr in Frage zu stellen. Das beginnt schon mit dem – immer sehr problematischen – Thema der Auswahl, wo man es natürlich keinem Kenner recht machen kann. Jedoch wird hier die Grenze des Zumutbaren überschritten, man muss geradezu von gezielter Manipulation der Geschichte sprechen: Egal, was der eine oder andere über Richard Strauss denkt, dass er – wie auch immer bereits im Vorwort vollkommen unplausibel begründet – ausgesondert wurde, ist eine absolute Peinlichkeit: nicht nur einer der überragenden Dirigenten der Geschichte, sondern auch einer der stilprägendsten, ohne den Legenden wie Fritz Reiner, Clemens Krauss oder Karl Böhm undenkbar wären. Kaum weniger verstörend ist das Fehlen von Gustav Mahler, der für Kleiber, Klemperer und Bruno Walter das Maß der Dinge war – wenigstens sind Bülow, Hans Richter, Nikisch und Levi dabei als die Vertreter einer Epoche, die diskographisch nicht dokumentiert ist.

Was die jungen und jüngsten Kapellmeister betrifft, ist die Auswahl ohnehin noch von vielen wackligen Faktoren bestimmt, und natürlich nehmen Spezialisten der sogenannten ‚historischen Aufführungspraxis’ und Dirigentinnen hier, dem Trend entsprechend, mehr Raum ein als objektiv angemessen. Dann muss man sich allerdings umso mehr fragen, warum die großen Kammerorchesterleiter (außer Rudolf Barschai) ignoriert wurden: Edwin Fischer, Adolf Busch, Josef Vlach, Benjamin Britten, Sándor Végh usw. – das sind durchweg weit bedeutendere Musiker als die meisten Herrscher der großen Orchester.

Auf der anderen Seite werden diskographisch überpräsente Halbdilettanten wie Helmuth Rilling oder Enoch zu Guttenberg ausführlich und höchst bedeutsam vorgestellt. Man sieht, hier ist keine wirkliche herausgeberische Professionalität am Werke, sondern der Versuch, sich politisch korrekt an den Erwartungen der KlassikRadio-gewohnten Unbedarften zu orientieren. Das dürfte ein Fehlkalkül sein, denn ein solches Buch erwerben meist dann doch die, die ein echtes Interesse haben, und die sind nicht alle so ahnungslos, dass sie widerspruchslos kommerziellen und modischen Auswahlkriterien folgen wollen.

Das Niveau der einzelnen Artikel ist natürlich höchst unterschiedlich. Besondere Tiefstände werden in der Regel da erreicht, wo der betreffende Dirigent in irgendeiner Weise in Deutschland 1933-45 involviert war. Gewiss gab es bekennende Nationalsozialisten, sei es aus Karrierismus oder schlichter Feigheit, und Namen wie Karajan, Böhm oder Knappertsbusch liegen hier auf der Hand. Dass Clemens Krauss hier nach wie vor – nicht auf dem Erkenntnisstand der Zeit – als besonders belastet abgehandelt wird, ist zum Beispiel eine Unverschämtheit. Das geht so weit, dass über ihn als Musiker fast nichts Brauchbares dasteht. Wie einfach ist es, Herr Caskel, mit Halbwissen und verblendetem Missionsdrang ausgestattet einen Wehrlosen postum in die Tonne zu treten!

Vieles wird in diesem Kompendium auf den Kopf gestellt, Ideologie überwiegt Beobachtung, aber das ist symptomatisch für den debilen Gesamtzustand unserer hoffnungslos unterbezahlten deutschen Musikfeuilleton-Kreise, wo das Wort Intelligenz nostalgische Gefühle hervorruft. Und in den meisten Fällen hat – zumindest die englische – Wikipedia rein faktisch mehr zu bieten. Aber ich habe vergessen: Es geht ja um die subjektive Meinung selbsternannter Experten ohne konkreten musikalischen Hintergrund…

Man muss also ein intelligenter Leser sein – also einer, der sich ständig um die bewusste Unterscheidung zwischen Fakten und feuilletonistisch manipulierendem Kommentar bemüht –, um durch dieses Buch nicht nebenbei verblödet zu werden, während man sich informiert. Davon abgesehen ist es allerdings ein nützliches Nachschlagewerk, wie es in dieser Form, zu einem vernünftigen Preis, erstmals in deutscher Sprache vorgelegt wird. Wer Meinung und Tatsachen zu unterscheiden versteht, kann getrost Nutzen daraus ziehen.

[Annabelle Leskov, August 2016]

Der klingende Schutzschild

EAN: 9 783793 140825

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„Musik aus einer anderen Welt“ oder, wie die hier vorliegende überarbeitete Ausgabe heißt, „Musik in Auschwitz“, ist ein autobiographischer Bericht des Komponisten und Violinisten Simon Laks über seine Zeit im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau. Herausgegeben von Frank Harders-Wuthenow und Elisabeth Hufnagel erschien er bei Boosey & Hawkes, Harders-Wuthenow verfasste zudem ein Künstlerportrait, welches ebenso wie ein Bericht von André Laks über seinen Vater der Ausgabe beigefügt ist.

Beizeiten fällt einem einmal ein Gegenstand in die Hände, der schon längere Zeit im Regal stand und bereits aus der aktiven Wahrnehmung verschwunden war. Doch beim Betrachten zieht er einen erneut in seinen Bann und es überkommt einen, sich auf der Stelle wieder all seinem Zauber zu widmen. Genau so erging es mir mit „Musik in Auschwitz“ von Simon Laks, welches ich Anfang 2015 in Berlin erhielt und mit großer Begeisterung regelrecht verschlang. Nun entdeckte ich dieses Buch wieder und konnte nicht anders, als es erneut ‚in einem Atemzug’ durchzulesen, mich in diese Welt zu vertiefen und das großartige musikalische Schaffen Laks‘ noch intensiver zu studieren, auf dass es seine Einzigartigkeit für mich entfesseln kann.

Der Bericht von Simon Laks über seine Zeit im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau von 1942 bis 1945 setzt sich durch eine Sache ganz klar vom Gros der Zeugnisse von Überlebenden ab: Er verzichtet so konsequent wie irgend möglich auf alle detaillierten Beschreibungen des Schreckens und Terrors im Lager, von Gewalt, Folter, Unterdrückung und Mord. Sein Hauptanliegen: Die Musikszene im Konzentrationslager zu beschreiben, seine Erlebnisse im Bezirksorchester mitzuteilen und allgemein eine reflektierte, nicht aus dem Trauma heraus völlig subjektiv entstandene Schilderung des Lagerlebens zu geben. Drei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geschrieben (obwohl er der Hauptautor ist, stand er damals noch zusammen mit René Coudy als Verfasser da) und dreißig Jahre später überarbeitet, konnte Laks mit der Revision seine Gedanken sammeln und heilende, für Autor und Publikum guttuende Distanz zu den Schreckenserlebnissen gewinnen, um so ein objektiveres und detaillierteres Bild zu vermitteln – ein Bild, das der Leser versteht, da es in Worten und Vorstellungen niedergeschrieben ist, die ihm vertraut sind, obgleich er diese unvorstellbaren Zustände nicht miterlebt hat. So ist der Leser nicht paralysierter Zuhörer eines traumatisch verstörten Schreckensberichts, sondern wird aus seinen individuellen Erfahrungen heraus in diese „andere Welt“ hinein geworfen und kann mit dem autobiographischen Erzähler mitfühlen, sich in ihn hineinversetzen und es selbst miterleben. Das macht Simon Laks‘ Buch zu einem der am unmittelbarsten wirkenden und auch verständlich-informativsten Bücher über das Leben im Konzentrationslager. Nicht nur über das Grauen erfährt man, sondern auch über die sich langsam aufbauende Gesellschaftsordnung in Birkenau, über Handelssysteme und die Wege und Möglichkeiten, innerhalb des Lagers zur Prominenz aufzusteigen. Auch Einzelschicksale einiger Leidensgenossen werden beleuchtet, doch nur um das Bild zu vervollständigen, denn schließlich war jedes Einzelschicksal in Auschwitz zugleich Kollektivschicksal.

Zentral für das Schicksal von Simon Laks ist die Musik. Der Komponist und Violinist erörtert, wie er zum Lagerorchester kam und dort zeitweise sogar zum Dirigenten avancierte, wie dadurch die Musik ihn am Leben erhielt. „Die Geige, die ich halte, ist mein Schutzschild geworden“, so heißt es bereits auf der Titelseite der deutschen Ausgabe; dieser Satz ist Programm. Durch seinen gefragten Posten als professioneller Musiker, Notenschreiber, Violinist und Dirigent nämlich konnte sich Laks schnell Kontakte aufbauen zur Lagerprominenz und gehörte schon bald dazu – sprich, er konnte sich ausreichend Lebensmittel und andere für die Verhältnisse des Lagers unermesslich wertvolle Gegenstände beschaffen. So weiß Laks auch, skurrile Geschichten zu erzählen über besondere Vorlieben einiger Prominenter und SS-Männer, über besondere Musikideale und -vorstellungen. Doch vor allem der Alltag wird detailliert geschildert, die Funktion der Musik für die Gefangenen und für SS-Leute, die von Ermutigung zu Unterhaltung bis hin zur absoluten moralischen Abgründigkeit reichte.

Die Ausgabe bei Boosey & Hawkes bietet darüber hinaus alles, was man sich nur über so einen noch immer viel zu unbekannten Komponisten wünschen kann: Ein Verzeichnis aller Kompositionen Laks‘, die Diskographie und eine Portrait-CD liegen ebenso bei wie zwei absolute Schätze an Essays über Laks. Frank Harders-Wuthenow, zweifelsohne einer der feinfühligsten Musikverständigen in Deutschland und unter anderem mit seiner CD-Reihe „Poland Abroad“ ein beispielloser Vorreiter und Verbreiter der polnischen Musik in Deutschland, verfasst ein äußerst informatives und in prägnanter Kürze umfassendes Portrait über Simon Laks, außerdem erzählt André Laks, Sohn des Komponisten und derjenige, der für die internationale Verbreitung des Buchs Sorge trug, über die lange Geschichte hinter der Entstehung und Veröffentlichung des Buches.

Seit 2014 ist diese 1979 überarbeitete Fassung nun schon in deutscher Übersetzung von Mirka und Karlheinz Machel bei Boosey & Hawkes zu erwerben, doch noch immer ist das Echo darauf allzu gering angesichts des hohen Werts der Publikation. So sei knappe zwei Jahre später dieses Buch und die Musik von Simon Laks wenigstens hier ausdrücklich empfohlen. Egal ob Musiker oder nicht, jeder Leser wird von den sensitiven Schilderungen Simon Laks‘ gefesselt und mitgeschleift durch diese Welt und am Schluss leidet man gar mit ihm, als er einige Zeit nach seiner Befreiung mit echter Empörung sieht, dass die Waffenfabrik gesprengt wird, an deren Aufbau er die letzten Monate seiner Gefangenschaft mitarbeiten musste – war es doch schließlich auch „seine“ Fabrik.

[Oliver Fraenzke, Mai 2016]

Ein überlauter Schrei der Begeisterung

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Eine vollkommen neue Methode versprach Otto Viktor Maeckel 1938 mit seinem Buch „Das organische Klavierspiel“, welche er nach jahrelanger Unterrichtserfahrung hier niederschrieb. Zu einer Überarbeitung kam es nie, da Maeckel bereits im Jahr darauf verstarb und somit nicht auf Kritik oder eventuell selbst festgestellte Defizite eingehen konnte. Der STACCATO-Verlag gibt nun den Reprint des Werkes des mittlerweile in Vergessenheit geratenen Pädagogen heraus, versehen mit einem Vorwort und kritischen Anmerkungen des Klavierprofessors Gregor Weichert.

Sein ganzes Leben verbrachte O. V. Maeckel mit der Suche nach der „perfekten“ Methode der Klaviertechnik, wie sie laut dem Autor alle großen Pianisten – allen voran Franz Liszt – von Natur aus anwenden, aber nicht in der Lage sind, diese zu beschreiben und somit zu lehren. Ziel soll sein, mit möglichst wenig Kraftaufwand und unter völligem Verzicht auf unnötige Energievergeudung das Klavierspiel zu verbessern und die Technik vollkommen werden zu lassen. Dazu soll der kürzeste, schnellste und natürlich auch einfachste Weg gewählt werden. In der festen Ansicht, schließlich erfolgreich die perfekte Technik entschlüsselt zu haben, bot Otto Viktor Maeckel vierwöchige Kurse an, in denen er seinen Schülern die Grundlagen der Methode in intensivem Training darlegte. Nach diesen vier Wochen sollten die wichtigen Aspekte verinnerlicht sein und die Schüler sie von selbst ausbauen und vertiefen können. 1938 schließlich, nach etlichen Jahren der Unterweisung in seiner Methode, ließ er sich darauf ein, diese auch schriftlich zu fixieren.

O. V. Maeckel gliedert seine Schule in acht Kapitel: Alle Möglichkeiten des einstimmigen Spieles auf dem Klavier; der gleichzeitige Anschlag mehrerer Tasten auf dem Klavier; Triller, Tremolo und Sprünge; die Anwendung der Pedale; die geteilte Hand; das polyphone Spiel; der Unternormalton; das virtuose Klavierspiel.

Der eigentliche Kern der Methode liegt allerdings bereits vollständig im ersten Kapitel vor, der Rest lässt sich vollständig von selbst aus dem einstimmigen Spiel erschließen (vor allem, da es immer wieder mit den selben Anschlagsarten erklärt und weitergeführt wird) oder ist nicht sonderlich neuartig, ja nicht einmal relevant oder wissenswert. Im entscheidenden ersten Kapitel erläutert Maeckel nach einigen Freiübungen ohne Klavier drei Anschlagsarten, die die zentrale Aussage der Methode sind: der „Normalton“, ein ausschließlich durch die natürliche Schwere der von der Gravitationskraft nach unten gezogenen Hand erzeugter Ton; die „schnelle Fingerbewegung“ aus dem Knöchelgelenk; und der „singende Ton“, welcher durch eine Beschleunigung des Fingers während des Anschlags den Dämpfer früher als gewohnt heben lässt und somit die Obertöne früher mitklingen lässt, was wiederum für einen klangschöneren und sanglicheren Ton sorgen soll.

Als zentrale Grundlage für diese Methode sieht der Autor vor allem, wie etliche Male betont, den „federleichten Arm“ an, womit er sich deutlich vom Gewichtsspiel distanziert. Statt sich zu verkrampfen und Kraft anzuwenden, soll nur die genannte „schwere Hand“ eingesetzt werden, so dass der Ruhepunkt der Fingerspitze eigentlich der unterste Punkt der Taste ist; Die Kraftaufwendung betrifft lediglich das Obenhalten der Hand über den Tasten, von wo aus beim Anschlag die Natürlichkeit der Gravitation den Finger sinken lässt. All dies erklärt Maeckel möglichst wissenschaftlich begründet und immer wieder auf die Physik verweisend, stets auf einen sicheren Beweis aus. Auch wenn einige seiner Wissenschaftsbezüge recht vage erscheinen und auch nicht immer richtig sind, ist doch ein Großteil recht sinnvoll und lässt die Methode gut mitvollziehbar erscheinen. Alles in allem ist der Aufbau recht stringent, wodurch das jeweilige Kernthema aus dem Vorherigen erklärbar und logisch ist.

Der Grund dafür, warum die an sich wahrhaft lesenswerte und spannende Methode sich bis heute niemals durchsetzen konnte, ist die Hybris O. V. Maeckels, die ihn immer und immer wieder aufs Neue dazu bringt, zu betonen, wie toll und neuartig seine Methode ist und dass alle anderen Methoden doch komplett unnatürlich und falsch seien. Zu lange wird belegt, warum die eigene Schule so fantastisch ist, und dass auch Liszt allen Augenzeugenberichten nach eigentlich nur diese wiedergefundene Methode angewandt haben kann. Weichert schreibt darauf allerdings versöhnend eingehend in seinem Beschluss über das Buch sehr trefflich, man müsse damit Nachsehen haben, denn Maeckel geriet nach 32 Jahren der Suche sein „Heureka“ eben ein wenig überlaut.

Die Methode an sich zu bewerten, fällt – wie wohl verständlich sein dürfte – schwer. Natürlich war es mir nicht möglich, in der Zeit seit Erhalt des Buchs die gesamte Methodik selbst zu erproben, auch wenn ich mich recht zeitintensiv an den drei Hauptanschlagsarten versucht habe. Diejenigen Quellen, die sich intensiv mit „Das organische Klavierspiel“ auseinandergesetzt haben, also sowohl seine Schüler (nach eigenen Aussagen Maeckels) als auch 1938 sein Verleger Franz Hanemann und der Neuherausgeber Gregor Weichert, sind allesamt überzeugt davon. Und auch ich würde mich nach meinen bisherigen Studien davon keineswegs distanzieren. Zwar sollte der Pianist diese Methode nicht als alleingeltendes Heiligtum ansehen und jede nicht in dem Buch beschriebene Technik a priori verteufeln, aber gerade die Grundlagen sind nicht zu widerlegen, und die drei Hauptanschlagsarten sind das bewusste Erlernen und Anwenden wert. Besonders überzeugen kann die Annahme, dass die heruntergedrückte Taste der Ruhepunkt ist und das Niederschlagen selbst nicht der Moment des Kraftaufwands ist. Bei Beachtung dessen erhält der Musiker automatisch ein deutlicheres Gespür dafür, wie viel Energie überhaupt anzuwenden sei, und verbraucht diese nicht unnötig, was sowohl dem Spiel an sich als auch dem Körper und Geist des Spielers nur zu Gute kommen kann. In wie weit auch der „singende Ton“ perfektionierbar ist, lässt sich schwer sagen, doch ist die Technik tatsächlich gut anwendbar, um entsprechenden Passagen einen runden und vollen Ton zu verleihen.

Sowohl Vorwort als auch Bemerkungen zu „Das organische Klavierspiel“ von Gregor Weichert sind kurz, prägnant und wohlüberlegt geschrieben. Sofort wird Weigerts intensive Beschäftigung mit vorliegendem Werk bemerkbar, und seine kritische Auseinandersetzung damit. Er nickt nicht alles einfach ab, sondern gibt an entsprechenden Stellen nützliche Kommentare hinzu und ist sich auch im Beschluss ganz genau im Klaren, welche Aspekte besonders nützlich und welche eher vernachlässigbar sind.

Weder die Kurse O. V. Maeckels noch sein 1938 erschienenes Buch schafften es, seiner Methode bleibende Bekanntheit zu verschaffen – vielleicht gelingt es nun mit dieser Reprint-Ausgabe. Wert wäre, zumindest einmal davon bewusst Kenntnis genommen zu haben und sich die wesentlichen Aspekte nicht nur durch den Kopf gehen zu lassen.

[Oliver Fraenzke, Dezember 2015]

[Rezensionen im Vergleich 3c] Über das unergründliche Leben von Jean Sibelius

ISBN: 978-3-89487-941-9 (Henschel), 978-3-7618-2371-2 (Bärenreiter)

Die zweite Buchpublikation von Volker Tarnow führt den Leser zu Finnlands bekanntestem Komponisten Jean Sibelius. Auf 288 Seiten erläutert der Autor für Henschel Bärenreiter das lange und vielseitige Leben des Nationalkomponisten, gibt Einblicke in dessen Werk und verschafft einen Überblick über das aktuelle Zeitgeschehen.

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Zweifelsohne gehört Jean Sibelius zu den besonders unergründlichen Komponistengenies sowohl des späten 19. als auch des 20. Jahrhunderts. Das lange Leben des Komponisten, vom 8. Dezember 1865, vor exakt 150 Jahren, bis zu seinem Tod am 20. September 1957, ist uns bis heute in vielerlei Hinsicht ein großes Rätsel voller Unklarheiten und Spekulationen. Wie beginnt die musikalische Laufbahn von Johan Julius Christian Sibelius, der später nur noch Jean oder Janne genannt wird, bis er plötzlich seinen monumentalen Kullervo ans Licht der Welt bringt? Wieso verwirft er diesen Koloss direkt wieder und lässt ihn bis nach seinem Lebensende in Vergessenheit geraten? Welch einen starken Wandel vollzieht seine Musik und markiert ist jede der sieben Symphonien einen von Grund auf vollkommen neuen Stil? Wieso vernichtet er schließlich seine achte Symphonie und warum veröffentlicht er Jahrzehnte lang nicht ein einziges weiteres Werk? Diesen Fragen über das gewaltige Schaffen des Nationalhelden und vielen weiteren um unter anderem Leben, Gewohnheiten, Familie, Ängste oder Zwänge widmet sich Volker Tarnow in seiner neu erschienenen Biografie „Sibelius“.

Tarnow gliedert sein Buch in neun Kapitel, die für ihn die verschiedenen Lebensabschnitte charakterisieren mit den Titeln „Das klassische Niemandsland“, „Aus dem wird was“, „Karelische Träume“, „Freiheit für Finnland!“, „Sinfonie des Südens“, „Innere Stimmen“, „Thors Hammer“, „Die Schatten werden länger“ und „Beredtes Schweigen“. Auch wenn diese Einteilung nicht direkt auf sein kompositorisches Schaffen abgestimmt erscheint, ergibt sich hier doch eine gewisse Stringenz und Sinnhaftigkeit dieser Ordnung, die sein Leben von frühester Kindheit unter Einbezug seiner familiären Geschichte bis zu der langen Schaffenshemmung zum Ende seines Lebens umfasst.

Volker Tarnow schreibt in einem äußerst flüssig lesbaren Stil, seine Wortwahl ist fein abgestimmt und von hohem feuilletonistischen Wert, wird dabei zu keiner Zeit unverständlich oder übermäßig elitär. In dieser Schreibart, die seine langjährige Erfahrung im Bereich des Musikjournalismus widerspiegelt, ist immer wieder Platz für gut angebrachten Charme und Humor, so dass der Leser ein um’s andre Mal ins Schmunzeln gerät angesichts der trefflichen Formulierung. An vielen Stellen gelingen sprunghafte Übergänge von einem Thema zu einem anderen, wo dies als Erläuterung für Folgendes von Nöten ist, ohne dass diese Sprünge sonderlich auffallen, womit eine gute Durchgängigkeit des Leseflusses gewahrt wird trotz wechselhaft beschrittenen Stoffgebiets.

Es steckt eine enorme Recherchearbeit in dieser Biografie, was schnell ins Auge fällt. Nicht nur, dass Volker Tarnow eine ungeheure Menge an Informationen über das Leben und Wirken von Jean Sibelius in seine Biografie packen konnte, sondern auch über alles drum herum. Politische Entwicklung, Verbindungen zu etlichen anderen Künstlern seiner Zeit und interessante Hintergrundinformationen finden ebenso ihren Platz. Besonders eingegangen wird unter anderem auf die Geschichte Finnlands, dessen Erlangung der Unabhängigkeit und die Kriege, die Sibelius miterleben musste. Von des Meisters Gewohnheiten interessiert sich Volker Tarnow vor allem für seinen gehobenen Lebensstil, der besonders in Form von Alkohol und Zigarren einen roten Faden durch die gesamte Schaffenszeit des Komponisten zieht, sowie seinen ewigen Drang zum Reisen und die damit verbundene Vernachlässigung seiner familiären Pflichten. Besonders spannend für den Leser ist, dass Tarnow neben den großen Hauptwerken auch auf die vielen eher unbekannten Stücke von Jean Sibelius eingeht, die normalerweise nicht im Konzertsaal zu hören sind, besonders auch auf die frühen Werke aus Studienzeiten. Somit ergibt sich ein erzählerisches Kontinuum in der Frage um den Stil Sibelius‘, was anhand der großen Werke alleine unmöglich darzustellen wäre.

Eine inhaltliche Schwäche der Biografie sind hingegen die Erklärungen musiktheoretischer Grundlagen: Der Autor scheint nicht davon auszugehen, dass der Leser Begriffe wie „Sonatenhauptsatz“ oder „Sinfonie“ kennt und versucht, diese möglichst ohne Voraussetzung irgendwelchen Grundwissens zu beschreiben. Doch diese Erläuterungen misslingen teils phänomenal, weder darf der Eingeweihte hier komplette Richtigkeit der genannten Regelfälle erwarten, noch sind sie für einen Unwissenden wirklich verständlich. Der Sinn dieser teils seitenlangen Definitionen ist höchst fragwürdig, denn diese schränken ganz nebenbei auch die Zielgruppe erheblich ein: Eine Biografie, die so minutiös auf Details eingeht und solche geballte Informationshäufung liefert, wird üblicherweise von Musikinteressierten mit Vorwissen gelesen, denen musikalische Grundbegriffe bereits geläufig sind, die jedenfalls eine Einführung in allgemeine Musiklehre nicht lesen wollen. Diejenigen, die eine solche brauchen würden, werden mit konventionellen Erörterungen ohne Blick auf die dahinterliegenden Prinzipien abgespeist.

Ein zweiter Punkt, der bedauerlicherweise immer wieder die Freude an der Ausführlichkeit und Wortgewandtheit zu trüben vermag, ist die Tendenz, andere Komponisten aus seinem näheren und ferneren Umfeld ständig mit Sibelius zu vergleichen. Während Sibelius immer wieder in alle Himmel gelobt und stets mit Superlativen gerühmt wird, ergeht es vielen anderen herausragenden Musikern hier recht schlecht und sie werden entweder klischeeüberladen in eine Schublade mit Aufschriften wie „komponiert nur in Mundart“ gesteckt oder als unwichtige „Helferleinchen“ des großen Finnen abgestempelt. In einer sachlichen Biografie haben solche Rangordnungsaufstellungen (selbstverständlich mit dem titelgebenden Komponisten als alle übertrumpfende Lichtgestalt) eigentlich nichts verloren und lassen das ein oder andere Mal am Willen zur Objektivität erheblich zweifeln.

Ungeachtet dieser beiden unerquicklichen, da unnötigen und nicht zweckdienlichen Mängel liegt hier eine wirklich hervorragende Biographie vor, die einen tiefen und engagiert persönlichen Zugang zu Jean Sibelius vermittelt. Viel bisher komplett unbeachtetes Wissenswertes floss in Volker Tarnows Werk ein und gibt umfassend und breit gefächert sowohl einen großen Überblick als auch minutiöse Detailauskunft über den großen Finnen. Viele ungeklärte Fragen erhalten einen plausiblen Lösungsansatz, woran Forschung in Zukunft sicherlich gewinnbringend anknüpfen kann. Das letzte Wort zu solch einem Menschen und Komponisten kann wohl nie gesprochen werden, doch anlässlich des Jubiläums sind hier viele Dinge niedergeschrieben, die auch eingefleischte Sibelius-Kenner noch mit einigem Wissen über diesen grandiosen Menschen bereichern können.

[Oliver Fraenzke, Dezember 2015]

[Rezensionen im Vergleich 3b] Himmel und Hölle mit Sibelius

ISBN: 978-3-89487-941-9 (Henschel), 978-3-7618-2371-2 (Bärenreiter)

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Der Musikkritiker und Journalist Volker Tarnow verfasste anlässlich des 150. Geburtstags von Jean Sibelius, stattfindend am 8. Dezember 2015, die aktuellste Biographie, erschienen beim Henschel Verlag.

Eine biographische Würdigung des wohl bedeutendsten finnischen, aber schwedisch aufgewachsenen Komponisten Jean Sibelius ist eine sehr zu begrüßende Unternehmung, allein schon angesichts der immer noch spärlichen Literatur und Forschung zu dieser faszinierenden Persönlichkeit im deutschsprachigen Raum. Umso erfreulicher ist es dann auch, wenn Volker Tarnow auch bislang unübersetzte finnische Quellen wie beispielsweise Tagebucheinträge mit einbezieht. Herausgekommen sei dabei, so die Verlagsinformation, eine „Biografie, die ebenso den Menschen wie den Künstler im Fokus hat und zugleich eine ganze Epoche skizziert.“

Im Großen und Ganzen betrachtet erfahren hier tatsächlich ein Künstlerleben und dessen Zeitumstände eine eingehende Betrachtung, teilweise um kleinste Details und um literarisch-künstlerische wie historische Aspekte des damaligen Europa und Skandinaviens bereichert. Mehr noch, Tarnow versteht es, in einem Stil zu schreiben, der alles andere als trocken wirkt und den Leser in einem clever inszenierten Drama um den einzigartigen Künstler und Menschen Sibelius mitzureißen versteht.

Dabei mutet es jedoch etwas befremdlich an, dass viele Stellen (vor allem zeittypische Rezensionen) mit Belegen gespickt sind, während wiederum andere Passagen es scheinbar nicht nötig haben, nachgewiesen zu werden. Anders gesagt: Tarnow spart nicht damit, Behauptungen aufzustellen, die der nachvollziehbaren Grundlage entbehren. So lautet ein Beispiel von S. 127: „Dass der Geförderte (…) drei Monate lang in Berlin blieb und Sauern mit Persiko trank, (…) schockierte Freund Carpelan und Frau Aino doch ziemlich.“ Gewitzt konterkariert Tarnow dann in Bezug auf weitere Geldspenden, die Sibelius erhielt: „(…) niemals davor und danach tätigte Finnland eine bessere Investition.“

Sätze von solcher Art finden sich immer wieder, es fängt bereits beim Inhaltsverzeichnis der chronologisch aufgebauten Biographie an, wo romantisierende und modische Begrifflichkeiten wie „Karelische Träume“ und „Beethoven-Matrix reloaded“ einzelne Abschnitte aus Sibelius‘ Leben zu versinnbildlichen scheinen. Das sind allerdings nur sprachliche Kleinigkeiten, die ins Auge fallen. Tarnow gibt sich hinter seiner plakativen Inszenierung sehr wohl alle Mühe, ein differenziertes Bild von Jean Sibelius zu zeichnen, was ihm zum guten Teil auch gelingt. Es wirkt sogar ziemlich sympathisch, einen im Grunde eher egomanischen Komponisten zu skizzieren, der es trotz aller Tiefen und Abstürze im Leben am Ende zu etwas gebracht hat. Gleiches gilt für andere gewichtige zeitgenössische Kollegen Sibelius’ und deren Haltung zu ihm. Ein überraschendes Beispiel hierzu liefert Gustav Mahler, dessen Vorurteile gegen skandinavische Musik – für einen Weltkomponisten! – hier schonungslos präsentiert werden (vgl. S.160). Was dabei immer wieder unterschwellig ins Auge fällt, ist eine recht tendenziöse Art, die immer wieder Kopfschütteln auslöst. Es geht gar nicht so sehr um den häufig kolportierten Alkoholismus des Komponisten; der Autor möchte, trotz aller literarischen Raffinesse und Reflexion, Sibelius doch als den einzig ganz großen Musiker des 20. Jahrhunderts darstellen, während alle Musiker seinerzeit, trotz aller Würdigung, diesen Status niemals erreichen können. Warum sonst sollte Tarnow solche Sätze äußern wie ganz am Ende auf S. 277: „Irgendwann wird es sich herumsprechen, dass mit ihm die wahre Avantgarde begann, die Musik der Zukunft.“ Sicherlich war Sibelius eine singuläre Erscheinung und sowohl seinerzeit als auch in der Folge einflussreicher, als es manch deutschsprachiger Musikwissenschaftler eingestehen wollte. Dennoch könnte man bei Sätzen wie dem eben zitierten meinen, es handle sich mehr um einen Anti-Adorno-Reflex als um ein differenziertes Künstlerporträt.

Auch wenn es sich hier um keine wissenschaftliche Arbeit handelt, so hat diese Biographie doch deutlich ehrgeizige intellektuelle Ansprüche. Nun werden die daraus resultierenden Erwartungen, wie man vielleicht meinen könnte, keineswegs regelmäßig enttäuscht. Stimmig etwa beschreibt Tarnow den inneren Identitätskonflikt des Komponisten, was seine schwedischen und finnischen Wurzeln anbelangt, wodurch zumindest einige Charakterwidersprüche erklärt werden können. Besonderen Wert legt der Autor auch auf Seismogramme wichtiger Freundschaften, die der Komponist Zeit seines Lebens pflegte, wie zum Dirigenten Robert Kajanus. Doch sind auch diese Versuche nicht gänzlich frei von Überzeichnungen, zumal auch hier oftmals von einem Sibelius die Rede ist, der sich aller Förderung zum Trotz als undankbarer, zugleich auch eifersüchtiger Künstler und Freund erwies, wohingegen Kajanus offenbar von unendlicher Gutmütigkeit war (siehe etwa S. 165).

Erwähnenswert sind auch die musikalischen Analysen seiner Symphonien sowie zahlreicher anderen Opera. Besonderes Augenmerk legt der Autor auf Gelegenheitswerke, Kammermusik sowie Bühnen-Auftragswerke wie Kuolema oder die vielgespielte Karelia-Suite. Nicht zu vergessen sind die Beschreibungen seiner zahlreichen Liederzyklen, wobei Tarnow gerne das literarische Milieu der Liedtexte in Augenschein nimmt, dabei auch kompetente Einblicke in skandinavische Lyrik gibt. Sieht man auch hier von dem Eindruck, Sibelius immer wieder alleingültig zu glorifizieren, sowie der ziemlich blumigen Wortwahl ab, so kommen doch auch für gestandene Sibelius-Experten einige neue Erkenntnisse ans Tageslicht. Gerade in den Beschreibungen der Symphonien verfolgt Tarnow einen roten Faden, an dem sich Sibelius’ künstlerischer Werdegang ablesen lässt, und liefert informatives, aber niemals langweilendes Wissen beispielsweise zur Fassungs- und Deutungsproblematik der 5. Symphonie in Es-Dur Op. 82. Gleichzeitig findet sich auch hier wieder das oben beschriebene Problem: Tarnow behält seinen fantasievollen, ja kapriziös interpretierenden Erzählstil auch in den Analysen bei, wodurch bisweilen ein religiös verbrämter Beigeschmack entsteht (vgl. S. 227: „Sie [die Sinfonie Nr.5] verweist auf Kräfte, die größer sind als der Mensch, von ihm aber geahnt und ehrfürchtig bewundert werden können.“).

Als Fazit ist zu vermerken, dass die vorliegende Lektüre in ihrem Inhalt mit Bedacht zu genießen sei. Doch ist Tarnows schillernder Beitrag zum Jubiläumsjahr im Großen und Ganzen lohnend und verdienstvoll und möge die Beschäftigung mit Sibelius sowie dessen wissenschaftliche Würdigung gerade auch nach dem Jubiläum noch weiter vorantreiben!

[Peter Fröhlich, Dezember 2015]

[Rezensionen im Vergleich 3a] Das Leben des Jubilars

Volker Tarnow
SIBELIUS
Biografie

Henschel-BärenreiterVerlag 2015

ISBN 978-3-89487-941-9 (Henschel)
ISBN 978-3-7618-2371-2 (Bärenreiter)

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„Gott aber öffnete seine Tür für einen Augenblick – und sein Orchester spielte … VALSE TRISTE“  (S. 277)

Volker Tarnow, der ja schon zusammen mit Helga Schönweitz ein sehr informatives und lesenswertes Buch schrieb mit dem Titel „Das Romantische Schweden“, legt diesmal hier ein Werk über Finnland vor, besser über Finnlands bekanntesten und für das heutige Konzertleben bedeutendsten Komponisten, Jean Sibelius.
Anders als das sehr voluminöse und nicht immer einfach zu lesende Sibelius-Kompendium von Tomi Mäkelä (Breitkopf & Härtel, 2007) ist Tarnow hier eine Biographie gelungen, die sich herrlich leicht liest – auch deswegen, weil die Anmerkungen hinten einen eigenen Platz im Buch bekommen und so der Lesefluss nicht unterbrochen wird.
Nach diesen Ausführungen über Sibelius‘ Leben und dessen Begleitumstände habe ich noch mehr Lust, mich mit dem einzigartigen Werk dieses Komponisten – von dem mir bislang (abgesehen von einigen der vielgespielten Werke wie dem Violinkonzert) recht wenig bekannt war – intensiver zu befassen. Wie gut, dass da unlängst gerade bei ARTE die Aufführung der 1. Symphonie mit den Berliner Philharmoniker unter Sir Simon Rattle zu sehen war, der alle großen symphonischen Werke des Finnen bereits auf CD einspielte. Die Reihe im Fernsehen soll fortgesetzt werden – hoffentlich. Denn das Lesen der Noten, das unter anderem mit der leider sehr teuren, erst vor kurzem erschienenen Gesamtausgabe bei Breitkopf möglich gemacht wird, wird wunderbar ergänzt durch das Anschauen der Orchester-„Arbeit“ am Bildschirm.
Tarnow erzählt die Lebens- und die Zeitgeschichte mit leichter Hand, manchmal fast zu anekdotisch flott, dafür liest sich alles eingängig, und man bekommt nicht nur trockene Daten oder Fakten zur Musik, sondern auch die entsprechenden – oft feuchtfröhlichen – Hintergründe mitgeliefert. Gerade, dass Sibelius ein großer Raucher und Trinker vor dem Herrn war – eine zeitweilige Abstinenz wurde bald wiederaufgegeben – und wie die Zusammenhänge zwischen Jugendzeit, Ausbildung und Familienleben das Komponieren wieder und wieder beeinflussten und auch oft irritierten, wird so dargestellt, dass das finnische Urgestein unbändig hervortritt.
Auch die überbordende Reiselust in den frühen und mittleren Jahren, oft aus dem Zwang heraus, woanders als zu Hause gerechter beurteilt und anerkannt zu werden, nimmt entsprechenden Raum ein.
Am hervorstechendsten sind natürlich die Beschreibungen der Musik, wobei Tarnow trotz seines Studiums nicht davon ausgeht, dass die Leserin oder der Leser alle Fachausdrücke versteht, also sind sie kurz und bündig erklärt. Der Überblick über Sibelius’ Kompositionen auch im Zusammenhang mit seinen Zeit- und Landesgenossen – seien es Musiker oder Maler, Dichter oder andere Musengeküsste – ist bemerkenswert und lässt darauf schließen, dass Tarnow „seinen“ Sibelius sehr genau kennt und schätzt.
Insgesamt ein Buch, das eine ideale Lektüre zum 150. Geburtstag von Jean Sibelius am 8. Dezember 2015 bildet. (Den wir mit „meinem“ Ensemble „DIE ALTEN RÖMER“ und einigen Gästen mit oben erwähntem „VALSE TRISTE“  zu feiern vorhaben.)

[Ulrich Hermann, Dezember 2015]

Authentische Mannigfaltigkeit

Heinrich Aerni: Zwischen USA und Deutschem Reich. Hermann Hans Wetzler (1870-1943). Dirigent und Komponist

Monographie, erschienen bei Bärenreiter (ISBN 978-3-7618-2358-3)

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Dieses Buch habe ich mit großer Spannung erwartet, nachdem wir in der Studienpartitur-Reihe Repertoire Explorer (www.musikmph.de) vier Orchesterwerke Hermann Hans Wetzlers erstmals nach langer Zeit wieder verfügbar gemacht hatten und Heinrich Aerni bei der Abfassung der Vorworte eine selbstlose Hilfe war. Hermann Hans Wetzler war in den 20er Jahren in Deutschland und auch – wenn auch in geringerem Maße – in den USA ein großer Name konservativer Couleur. Er ist einer der Meister jener mit maximaler äußeren Wirkung geschriebenen Musik fürs große Orchester, die wir als ‚Kapellmeistermusik’ kennen (dies ohne jeden abfälligen Beigeschmack!), also Musik, die mit immenser Beherrschung der instrumentalen Mittel im großen Maßstab verfasst wurde. Die heute prominentesten Komponisten dieser Sorte, die vor allem im deutschen Sprachraum erblühte, waren natürlich – in der Nachfolge von Wagner, Liszt und Bülow – Richard Strauss, Gustav Mahler, Hans Pfitzner, Alexander Zemlinsky, der späte Max Reger, Franz Schreker und schließlich als einer, der ganz andere Wege einschlug, Anton Webern, aber auch Paul Büttner, Hermann Suter, Emil Nikolaus von Reznicek, Max von Schillings, Siegmund von Hausegger, Wilhelm Furtwängler, Felix Weingartner, Max Fiedler, Georg Schumann, und gewiss Wetzler müssen hier, stellvertretend für viele weitere, genannt werden. Fast war es so, dass ein Dirigent, wollte er beweisen, wie tief sein musikalisches Verständnis gereichte, dies zu zeigen hatte, indem er eigene Kompositionen in die Öffentlichkeit brachte, und wer sollte schon mehr vom Orchester verstehen als er? (Auch wenn dem geringere Wirkung beschieden war wie bei Arthur Nikisch, Leopold Damrosch, Frederick Stock, Bruno Walter, Otto Klemperer, Robert Heger oder Leo Blech.)

Wetzlers Leben spielte sich zwischen den Vereinigten Staaten und Deutschland ab, mit einem späten, durch seine jüdische Herkunft erzwungenen Intermezzo in der Schweiz. 2006 gelangte sein umfangreicher und höchst geschichtsrelevanter Nachlass in die Zürcher Zentralbibliothek, wo Heinrich Aerni die Gelegenheit beim Schopf ergriff und sich der Sache intensiv annahm, was letztlich zur vorliegenden Buchveröffentlichung führte. Wie sehr wäre zu wünschen, dass eine derart fundiert informierende Publikation auch anderen Komponisten zugute käme! Wie schön wäre es z. B., ein Dresdner Bibliothekar nähme sich in vergleichbarer Weise Paul Büttners an, oder ein Basler Bibliothekar Friedrich Kloses oder Felix Weingartners – wenn man schon an der Quelle sitzt!

Am 8. September 1870 in Frankfurt am Main geboren, wuchs Wetzler zunächst in Chicago, dann in Cincinnati auf, wo er Violine, Klavier, Orgel und alle musiktheoretischen Fächer studierte und bald zusammen mit seiner Schwester auftrat. 1884 zog die Familie weiter nach New York, im Jahr darauf zurück nach Frankfurt. 1892 wurde Wetzlers Symphonie in Es dort am Hoch’schen Konservatorium uraufgeführt, und noch im selben Jahr übersiedelte er wieder nach New York und heiratete 1896 die Schwester eines Freundes, mit welchem er jahrelang zusammen an der Konstruktion eines ‚Luftschiffes’ arbeitete. 1898 dirigierte er sein erstes eigenes Konzert in New York, und 1902 gelang es ihm, mit geballtem Mäzenatentum im Rücken das Wetzler Symphony Orchestra zu gründen, welches zwei Spielzeiten lang für großes Aufsehen sorgte und u. a. 1904 die Uraufführung von Richard Strauss’ Sinfonia domestica spielte. Doch dann entglitt ihm das Glück. Er zog 1905 zurück nach Deutschland und trat nacheinander Kapellmeisterstellen in Hamburg, Elberfeld (ab 1929 Teil der neugegründeten Stadt Wuppertal), Riga und Halle an, bevor er 1915 in Lübeck Nachfolger Wilhelm Furtwänglers wurde und seine erfolgreichste Ära als Dirigent erleben durfte. In diese Zeit fiel auch 1917 der durchschlagende Erfolg seiner Ouvertüre (und Schauspielmusik) zu Shakespeares ‚Wie es euch gefällt’. 1919 wurde er neben Otto Klemperer erster Kapellmeister an den Städtischen Bühnen Köln, seine Symphonische Phantasie op. 10 kam zur Uraufführung, doch 1923 verlor er nach Zerwürfnissen seine Anstellung und fand auch keine andere mehr. Sein aufsehenerregendster Erfolg als Komponist gelang ihm 1923 mit den ‚Visionen’ (eigentlich ‚Silhouetten’) für großes Orchester, die ein Intermezzo ironico enthalten, in welchem in massiv grotesker Weise moderne Klischees verspottet werden. Höhepunkt seines Schaffens ist meines Erachtens freilich die symphonische Legende ‚Assisi’ op. 13, mit welcher er 1925 den 1. Preis im Kompositionswettbewerb des North Shore Festival in Michigan gewann. 1928 kam in Leipzig seine Oper ‚Die baskische Venus’ zur Uraufführung, die sehr gespaltene Reaktionen hervorrief. 1931 übersiedelte Wetzler in die Schweiz, 1932 spielte Gustav Havemann in Berlin erstmals seine Symphonie concertante für Violine und Orchester, 1933 starb Wetzlers Frau Lini in Wiesbaden, und 1935 zog Wetzler nach Ascona zu seiner Freundin Doris Oehmigen. 1937 wurde in Salzburg sein Magnificat aus der Taufe gehoben, und 1940 emigrierte er in die USA, wo er sein Streichquartett op. 18 vollendete, bei Paul Hindemith Unterricht in modernem Tonsatz in erweiterter Tonalität nahm, den ersten Satz einer American Rhapsody für Orchester schrieb und am 29. Mai 1943 in New York starb.

Als Komponist schwamm Wetzler im Fahrwasser seiner Vorgänger, mit einer immensen lyrischen und dramatischen Begabung versehen, und mit ungeheurem Ehrgeiz und Fleiß. Wagner, Strauss, vieles weitere, später auch Einflüsse jüngerer Provenienz sind omnipräsent, doch in seinen stärksten Werken, in den gelungensten Passagen gerade in ‚Assisi’, findet Wetzler zu einem magisch fesselnden Ton, der nicht nur mit grandioser Könnerschaft imponiert, sondern auch in einer Neigung zu versponnener Naturmystik fasziniert. Großartiger kann ein Orchester nicht klingen! Bei cpo ist vor sechs Jahren eine CD mit der Robert-Schumann-Philharmonie Chemnitz unter Frank Beermann erschienen, mit den ‚Visionen’ und ‚Assisi’, die an dieser Stelle ausdrücklich empfohlen sei (natürlich stammt der fundierte Begleittext aus der Feder von Aerni).

Heinrich Aerni gibt in seinem Buch nicht nur einen höchst schattierungsreichen und spannenden Überblick über Leben und Schaffen Wetzlers, der vor allem mit seiner scharf beobachtenden, zitatenreichen Zeitzeugenschaft fesselt; er liefert zudem im zweiten Teil eine Fülle statistisch aufgeführter Fakten, die als solide Grundlage jeder weiteren Beschäftigung mit diesem vergessenen Komponisten und Dirigenten dienen werden: auf eine knappe Zeittafel folgt ein Werkverzeichnis mit allen relevanten Angaben (auch zu Wetzlers zeittypischen Bach-Bearbeitungen); ein Schriftenverzeichnis (darunter einiges Unveröffentlichte; hier dürfte noch manche wertvolle Entdeckung für die Öffentlichkeit gemacht werden, worauf auch zwei diesbezügliche Briefe Thomas Manns hinweisen); ein umfassendes Repertoireverzeichnis des Dirigenten, Pianisten und Organisten mit exakten Datierungen; eine Auflistung der Aufführungen von Wetzlers Werken zu seinen Lebzeiten (60 Aufführungen allein der Ouvertüre zu ‚Wie es euch gefällt zwischen 1917 und 1923, und 42 Aufführungen von ‚Assisi’ bis 1942); ein umfangreicher Anhang mit Notenbeispielen; drei ausgewählte Texte von Lini Wetzler und, wie erwähnt, Thomas Mann; und ein ziemlich ergiebiges Quellen- und Literaturverzeichnis.

Aerni versteht es, so zu schreiben, dass man alles mit Genuss und Gewinn liest. Gerne unterstreicht er Einzelfakten mit tabellarischen Mitteln, was sehr anschaulich ist. Auch das Bildmaterial ist bemerkenswert vielfältig. Wenn Wetzler damals als Dirigent umstritten war, so möchte ich dem einzig einen Gesichtspunkt anfügen, der bei Aerni nicht angesprochen wird. Damals war das technische Niveau der Orchester natürlich viel dürftiger als heute (jedes heutige deutsche B-Orchester wäre in dieser Hinsicht damals ein Spitzenensemble gewesen); bei den Dirigenten jedoch verhielt es sich umgekehrt: sie waren viel substanziellere Musikerpersönlichkeiten, und wir dürfen sicher sein, dass ein Mann von der Kompetenz, den Fähigkeiten und der unbändigen Energie Wetzlers heute in der allerersten Riege der Dirigenten zuhause wäre. Dies, um die Relationen über die Zeiten hinweg zurechtzurücken.

Fazit: ein exzellentes Buch, das uns nicht nur Hermann Hans Wetzler, sondern seine ganze Zeit und Zunft in einem Maße und einer authentischen Mannigfaltigkeit näherbringt, wie dies sehr selten ist.

Christoph Schlüren, August 2015