Mensch und Musik von Hans Erik Deckert (Novalis-Verlag, 2016)
Novalis; ISBN: 978-3-941664-48-7
„Mensch und Musik“ zielt auf in der Zeit nach unserer Jahrtausendwende auf neue Weise Unausgeschöpftes. Die Essays des Buches aus den Jahren 1981 bis 2015 widmen sich bei hohem geistig-seelischem Anspruch dem musikalischen Weg zum Selbst, zum teamwork, zur Gemeinschaft, der sozialen Potenz der Musik, der anthropologischen Potenz der Musik, mithin spirituellen Potenzen der Musik.
Die scheinbar nüchterne Phänomenologie der Tonalität wird gestreift bei der Erörterung der Intervalle, der tonalen Kohärenz, der Bildung von Tongestalten und musikalischer Formprozesse. Die Funktion derartiger Elemente der Musiklehre und zudem die Funktion der Notenbeispiele des Buches (Beethoven, Mendelssohn, Schostakowitsch, Martinu) erfüllen sich bei Deckert erst dann, wenn sie sich in einem höchst verantwortlichen Umgang realisieren – einem erneuerten Umgang mit und in der Musikkultur. Deckert arbeitet im besten Sinne idealistisch heraus, was Musik, die ihren Namen verdient, eigentlich heißt, bedeutet und fordert! Dezent verbindet der Autor dies mit Fähigkeiten und Werten wie Staunen, Hingabe, Demut, Dankbarkeit, Heiligkeit. Nicht umsonst erscheint Arnold Schönbergs Wort vom „Priester der Kunst“ als kardinales Zitat.
Damit verbunden ist für Deckert die Abwendung von Unterhaltung und die Kritik oder Verdammung des heute fast omnipräsenten Happy Sound, der die Menschen bei vielerlei täglichen Verrichtungen vielerorts umspült – solange man nicht mit Deckert versucht, gegen den ein oder anderen modischen mainstream zu schwimmen.
Deckerts Abgrenzung von Rock und Pop muss man zumindest dezidiert, ja radikal nennen. Rock-Musik und ihre Varianten werden im Anschluss an den 1940 geborenen Jan W. Morthenson unter den Verdacht faschistoider Gesellschaftsbildung gestellt (auch knüpft Deckert an das Diktum „Hinrichtung der Sinne“ an, das Urs Frauchiger geprägt hat , mit dem Deckert übrigens auch die Hochschätzung Sergiu Celibidaches verbindet).
Gerne möchte ich Deckert zustimmen, dass jedwedes Militärische (ein Musiker wie Arturo Toscanini wird nicht explizit genannt, könnte aber mitgemeint sein) das Gegenteil von Musik im emphatischen Sinne ist.
Wenn Deckert die Gegenwart in einer tiefen Krise sieht, werden meines Erachtens sehr berechtigte Sorgen wachgerufen durch Stichworte wie Reizüberflutung und eine Abstumpfung, deren musikalische Kehrseite mancherorts interpretatorische Egomanie war. Abstumpfung, Leerlauf, Trägheit, Wertezerfall umschreiben einen Teil dessen, wodurch Deckert sich herausgefordert fühlt. In der Verbannung der popular music indessen geht der Autor, der Rudolf Steiner verpflichtet ist, (mir) zu weit.
Hier gebe ich zu Bedenken: Kann nicht auch ein chorisch arrangierter Satz wie „Viva la vida“ (Coldplay) oder eine konzertant freilich immer nur elektrisch verstärkt dargebotenes Songbook etwa einer Melody Gardot gerade unsere heutigen Jugendlichen zu Erfahrungen führen, die auf die vielleicht noch tiefere Welt des Musikalischen wenigstens vorzubereiten vermögen? Das Sprichwort, demzufolge man manchmal mit dem Teufel über die Brücke gehen muss, bis man drüben ist, bliebe Deckert wohl eher fremd. Vielleicht ist aber gerade das digitale Zeitalter voller solcher Notwendigkeiten?
Insgesamt ist diesem Buch ein Leserkreis zu wünschen, der im Kreis von Instrumentallehrern, Lehrern an allgemeinbildenden Schulen und Instituten Aufmerksamkeit erregen möge. Deckert, der als junger Mann noch bei Pablos Casals und in Frankfurt bei Kurth Thomas gelernt hat, gibt genügend Anregung – nicht zuletzt bei der (ent)spannenden Frage nach den Vorteilen der Stimmtonhöhe von 432 oder 435 Hertz, mit der der Autor aufgewachsen war.
[Matthias Thiemel, Januar 2017]