Warum?

Ars Produktion Schumacher, ARS 38 573; EAN: 4 260052 385739

Wir hören eine Aufnahme von Franz Schuberts Winterreise nach Gedichten von Wilhelm Müller durch den Bariton Benjamin Hewat-Craw und den Pianisten Yuhao Guo.

Ich verstehe die Begeisterung, die man für Franz Schuberts Winterreise empfinden kann – habe sie selbst am Klavier in Feuereifer erarbeitet und sogar Auszüge im Konzert vorgetragen. Die angedeutete Geschichte, die unmittelbar ansprechende Topoi behandelt und jeden Hörer gefangen nimmt, die formale Stringenz und das vielseitig auslegbare Ende, dazu eine an Perfektion grenzende Musik voll harmonischen Feingefühls, hinreißenden Melodien und gespickt von präzise abgewogenen Überraschungen, die das Hören nie verleiden lassen.

Und dennoch frage ich mich: Wie viele Aufnahmen dieses Zyklus‘ braucht es noch? Ohne Statistiken dazu gesehen zu haben, bin ich der festen Überzeugung, dass kein anderer Liederzyklus so oft eingespielt wurde; und jedem dürften wohl auf den Schlag ein halbes Dutzend überzeugender Darbietungen einfallen. So sehr ich mich im Konzert immer wieder auf eine Winterreise freue, glaube ich doch, nur die eigenständigsten und aussagestärksten Künstler sollten noch an eine Einspielung dieser denken. Ähnlich wie für Pianisten die beliebtesten Beethovensonaten für Einspielungen nahezu verübelt werden durch den gewaltigen Druck der bereits im Regal stehenden Konkurrenz (was uns gerade in diesem Jahr dennoch nicht von einer Flut absolut mittelmäßiger Aufnahmen schützt), so ist es für Sänger die Winterreise: Und dazu kommt, dass man als Pianist naturgemäß ein wesentlich größeres Repertoire pflegen kann als ein Sänger. Alleine von Schubert könnte man noch hunderte andere Lieder entdecken, von denen mindestens zwei Drittel ebenso lohnende Qualität besitzen; eine Aufzählung an selten aufgeführten Großmeistern des Liedes könnte endlos weitergeführt werden: Braunfels, Mattiesen, Grieg (schrieb hunderte Lieder, von denen höchstens zehn regelmäßig erklingen), Wetz, Erdmann (als Pianist übrigens einer der überragendsten Schubert-Spieler; übrigens markierte er in seiner kritischen Schubert-Gesamtausgabe über 400 Lieder als von außerordentlicher Qualität), Reger, Keußler, Lalo, Magnard, Weingartner, Reichardt, Sträßer und viele mehr. Warum also immer das selbst Stück bei solch einer überwältigenden Vielfalt an Repertoire, das ich teils noch nie live hörte, das teilt noch nie auf CD erschien?

Die hier vorliegende Aufnahme soll unter diesem Aspekt auch überhaupt nicht abgewertet werden. Die beiden Musiker offenbaren ein gutes Gespür für Stimmung und Abwägung der Intensität – aber gerade deshalb würde ich mir von ihnen auch einmal unbekanntes Repertoire wünschen. Teils nehmen Benjamin Hewat-Craw und Yuhao Guo die Tempi zu hektisch, um all die harmonischen Finessen hörbar umzusetzen, besonders auffällige Wechselpunkte überakzentuieren die beiden dafür, obgleich man sie auch in dezenterer Ausführung wahrgenommen und möglicherweise noch stärker mitempfunden hätte. Sehr angenehm klingt die Stimme des Baritons Benjamin Hewat-Craw, voluminös und rund im Klang, in welchem zahllose Facetten stecken, die für einen vielseitigen Vortrag gefiltert werden können.

[Oliver Fraenzke, September 2020]

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