Schubert: depressiv, lyrisch und dann doch wieder versöhnt

Ars Produktion Schumacher, ARS 38 312; EAN: 4 260052 383124

Drei Sonaten in A von Franz Schubert werden durch die Pianistin Elena Margolina für die Ars Produktion eingespielt. Sie beginnt mit der Klaviersonate a-Moll D 784 aus dem Jahr 1823, kontrastiert mit der pastoralen A-Dur-Sonate D 664 (1819) und schließt mit der umfangreichen, weitschweifenden a-Moll-Sonate D 845, die Schubert 1825 den Weg wies in Richtung seiner monumentalen, bedauerlicherweise letzten Sonaten.

Wer unbefangen dem Klavierschaffen von Franz Schubert gegenübersteht, mag zunächst verdutzt sein von den weiten Formen, dem scheinbar kontrastlosen Themengebrauch und den damit verbundenen teils eigenwillig erscheinenden Proportionen. Die Noten wirken geradezu kahl, wenn man Mozart und Beethoven gewohnt ist. So verwundert nicht, dass die bedeutenden Werke dieses Meisters erst im 20. Jahrhundert voll zur Blüte kamen, im großen Stile vor allem entdeckt durch die Pianisten Eduard Erdmann und Artur Schnabel, die zudem mit die vollendetsten Aufnahmen schufen. Und bis heute werden die meisten der Werke nur selten gespielt, höchstens die Impromptus und die letzten drei Sonaten finden regelmäßigeren Einzug in Konzertprogramme; von den pianistisch größtenteils undankbaren, schwer greifbaren und noch schwieriger auswendig zu lernenden früheren Sonaten halten die meisten Abstand.

Alfred Brendel nannte Schubert einen komponierenden Schlafwandler, was die formalen Konstruktionen durchaus griffig beschreibt: anders als Beethoven, der ein architektonisches Gerüst schuf und mit den Kontrasten jonglierte, scheint sich Schubert in seinen Kompositionsprozess zu verlieren, prozessiert sein Material immer weiter durch und führt es geradlinig fort. Mit Willkür hat das Konzept dabei nichts zu tun, die Musik schreitet geradlinig und zusammenhängend voran, spannt dabei große Bögen und wirkt in der Gesamtheit doch stimmig ausproportioniert. Nichtsdestoweniger stellt eine Adäquate Darbietung dieser Werke eine enorme Herausforderung dar: schnell können die, wie Schumann es bezeichnete, „himmlischen Längen“ langatmig wirken oder die aneinandergereihten Elemente auseinanderfallen. Schuberts Werke erscheinen als epische Erzählungen, die in die Ferne blicken und doch jedes Detail würdigen. Dies pianistisch umzusetzen, geht an die Grenzen des mental Erfassbaren.

Elena Margolina widmet sich schon lange dem Klavierschaffen Schuberts und brachte bei der Ars Produktion bereits mehrere Alben mit dessen Musik heraus. Entsprechend vertraut wirkt sie in dieser Aufnahme nicht nur mit den Stücken an sich, sondern mit der allgemeinen Stimmung und der doppelbödigen Aura, die Schuberts Musik umgibt. So handelt es sich allgemein um eine wirklich gelungene Einspielung der drei Sonaten in A, welche die Formen bewältigen und den erzählerischen Gestus stimmig vermitteln.

Eine bei Schubert komplexe Frage ist die nach den Expositionswiederholungen: Selbst bin ich der Auffassung, der vorwärtstragende Duktus und die melodiöse Geradlinigkeit verweigern das erneute Beginnen von vorne, unterstrichen durch die enorme harmonische Fortschreitung. (Den Extremfall stellt die letzte Sonate, in B-Dur, dar, bei welcher Schubert für die Wiederholung eine viele Takte umspannende Rückführung komponieren musste, um harmonisch zum Ausgangspunkt zurückzukehren: Es darf die Behauptung aufgestellt werden, diese Takte inklusive der Wiederholung dürfen getrost weggelassen werden, da sie nur dem Formideal der auslaufenden Wiener Klassik geschuldet sind und sich Schubert schlicht nicht traute, dieses auf dem Papier zu durchbrechen, während seine Musik doch nach ganz anderen Wegen schrie. Ausschließlich in den Impromptus wagte er, angespornt von der hierin erlangten formellen Freiheit, den Ausbruch.) Die munter-spritzige A-Dur-Sonate D 664 erlaubt es durchaus, die Exposition zwei Mal zu spielen, schwieriger wird es bei der umfangreicheren Sonate a-Moll D 845, wo durch die Wiederkehr ein deutlicher Bruch entsteht. Klar erscheint es schließlich bei der Sonate a-Moll D 784, die zum Ende der Exposition so weit prozessiert ist, dass eine Umkehr wie fehl am Platz wirkt: Hier hätte Elena Margolina eher das Tempo (Moderato!) ein kleines Stück herunterfahren, vom Alla Breve auf den vorgeschriebenen 4/4-Puls zurückkehren, und dafür die Form durch Auslassen der Wiederholung straffen können.

Den Kopfsatz der Sonate D 784 nimmt Margolina rasch und lebendig, behält stets die drohenden Elemente im Hinterkopf und bringt so eine intensive Darbietung hervor. Die Kontraste lässt sie durchaus aufklaffen, ohne dabei – und dies sei besonders hervorgehoben – im Anschlag Härte zu zeigen. Zu keiner Zeit lässt sie die Akkorde und selbst die Akzente knallen, sondern behält immer eine weiche Note, die Schuberts von der menschlichen Stimme herrührender Kompositionsweise entspricht. Schubert sprach selbst aus: „[W]eil ich das vermaledeyte Hacken, welches auch ausgezeichneten Clavierspielern eigen ist, nicht ausstehen kann.“ Damals wie heute wahre Worte, und so erfreut Elena Margolinas abgerundete Tongebung umso mehr. Auch ihr Pianissimo, namentlich gegen Ende des Kopfsatzes und im Mittelsatz, überzeugt durch lyrische Klanggestaltung und vielschichtige Dynamikabwägung. Das Finale braust voran und auf, Elena Margolina nimmt es als stürmisch-unruhige Fantasie und nimmt sich einige kleine Freiheiten, die aber der Musik sehr zugute kommen. Einzig stört die durch Pausen unterbrochene Linie nach den Fortissimo-Doppelläufen: denn sie wirkt wie auf den Taktschwerpunkt komponiert und nicht, wie in den Noten steht, eben dagegen. Gleiches fällt teils in der anderen a-Moll-Sonate auf. Solch synkopische Wendungen sind freilich nur schwerlich umzusetzen, dafür frappieren sie dann umso mehr.

Die späteste der drei hier zu hörenden Sonaten, die in a-Moll D 845, besticht unter den Fingern von Elena Margolina durch unerbittlichen Zug nach vorne ohne Rast und Halt, was eine enorme Wirkung erzielt. Besonders die brodelnden Crescendopassagen seien hervorzuheben, die sich nie voll entladen, sondern in voluminöse Forti und Fortissimi münden, was den Ausdruck unterstreicht. Der Andantesatz singt förmlich und wirkt auch in den virtuosen Variationen schlicht und zärtlich. Innerlich aufwühlend braust das Scherzo auf, das uns packt und bis zum Ende nicht mehr loslässt, obgleich es mit siebeneinhalb Minuten Spielzeit ein für das knappe thematische Material recht langer Satz ist. Ein finales Rondo rundet die Sonate ab, auch dieses drängt nach vorne, basiert auf rein introvertiertem Effekt ohne jegliche Äußerlichkeit. Elena Margolina nimmt es in einem großen Zug, spannt einen einzigen Bogen.

Gegenüber den beiden düsteren Mollsonaten fungiert die A-Dur-Sonate wie ein versöhnlicher Gegenpol: eines der ganz wenigen wirklich durchgehend friedlichen Werke Schuberts. Ein unscheinbarer Moment muss an dieser Stelle erwähnt werden, nämlich die Oktavenpassage des Kopfsatzes, die selten so stringent und lyrisch zu hören ist wie in dieser Einspielung Elena Margolinas.

[Oliver Fraenzke, März 2021]

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