Stockhausen wie durchs Vergrößerungsglas

Wergo WER 7341 2 (2CD); EAN: 4010228734126

Die Münchner Pianistin Sabine Liebner hat beim Bayerischen Rundfunk zwischen 2015 und 2018 Karlheinz Stockhausens „Klavierstücke I-XI“ als Studioaufnahmen eingespielt. Eine den Notentext bis dato unerreicht ernst nehmende Darbietung, die jedoch teilweise auch Fragen aufwirft.

Die Bedeutung von Stockhausens Klavierstücken I-XI – entstanden zwischen 1952-61 – für die Geschichte der Klaviermusik dürfte unstrittig sein, unabhängig davon, ob man mit dieser Musik als Hörer viel anfangen kann oder auch nicht. Dieser Zyklus spiegelt quasi einen Überblick über die gesamte serielle Epoche – die damit strenggenommen kaum ein halbes Jahrzehnt umfasste (1961 wurden die Stücke VI, IX und X lediglich geringfügig revidiert). Von den kurzen, unter „Nr. 2“  zusammengefassten Klavierstücken I-IV, die einem auf die Spitze getriebenen, seriellen Pointillismus huldigen, über die Stücke V-X („Nr. 4“), die mit Permutationstechniken auf der Basis webernscher magischer Quadrate operieren und in den Stücken VI und X zu ausgedehnten Formen führen, bis hin zum bereits 1956 entstandenen Klavierstück XI („Nr. 7“), das über Zufallsentscheidungen des Interpreten ein sich nie wiederholendes Erscheinungsbild generiert, ist es dennoch ein weiter Weg. Dies schlägt sich auch in Spieltechnik (Cluster in Klavierstück X) und Notation nieder. Die viel späteren Klavierstücke XII-XIX entstammen Stockhausens Opernzyklus Licht und beruhen auf gänzlich anderen Intentionen.

Nach der maßstabsetzenden ersten Schallplatten-Gesamtaufnahme durch Aloys Kontarsky (1967) haben sich nur wenige Pianisten an den kompletten, horrend schwierigen Zyklus (I-XI) gewagt, darunter Bernhard Wambach und – leider unerträglich akademisch und leblos – der große Herbert Henck.

Betrachtet man zunächst Sabine Liebners Spiel von „Nr. 2“, erstaunt sofort, wie präzise sie neben den geradezu absurd irrationalen rhythmischen Schichtungen, feinste dynamische Unterschiede realisiert. „Nuancen“ wäre hier der völlig falsche Begriff, da sich schon in den Stücken I-IV auch die Dynamik seriell ableitet, also auf Zahlen, nicht etwa Ausdruckswerten beruht. Doch gerade durch die Dynamik entsteht auch so etwas wie Expressivität, zumindest musikalische Spannung, die Liebner mit immer kultiviertem Anschlag durchaus hörbar macht. Da steckt harte Arbeit dahinter, meilenweit entfernt von der befremdlichen, geradezu expressionistischen Lesart durch Vanessa Benelli Mosell (Decca 2015), die eine wilde Subjektivität an den Tag legt, die dieser Musik eher unangemessen scheint und dann möglicherweise vor allem der Selbstdarstellung dient.

So kann man die Neuaufnahme Liebners auch bei den Stücken V, VII-IX und XI – von dem uns die Pianistin zum Glück gleich zwei faszinierende Versionen anbietet – ganz klar mit den Begriffen Kultiviertheit und Sorgfalt charakterisieren. Auch die Tontechnik des Bayerischen Rundfunks leistet hier Großartiges und Wolfgang Ratherts Booklettext ist ausgezeichnet. Die Interpretation der beiden längsten Werke, VI und X, wirkt dann aber mehr als irritierend, nicht nur durch die demonstrative Langsamkeit (40 bzw. knapp 45 Minuten) – David Tudor brauchte für Klavierstück X einmal nur 17 Minuten, Ähnliches gilt für Klavierstück VI. Hier notiert Stockhausen in der Tat die relative Veränderung des Tempos minutiös grafisch auf einem eigenen System, allerdings ohne ein Grund- bzw. Anfangstempo festzulegen. So gesehen ist Liebners Tempowahl zumindest eine erlaubte. Dennoch zerfällt das Stück leider in Einzelmomente, die zwar alle wie unter dem Vergrößerungsglas in schönster Deutlichkeit präsentiert werden, deren großer Zusammenhang jedoch verlorengeht. Noch ärgerlicher erweist sich das im berühmten Klavierstück X, bei der durch die Slow Motion auch noch der Faktor Virtuosität (absichtlich?) zerstört wird, womit Maurizio Pollini – ich durfte das mal live erleben – hier immer geglänzt hat. Vor allem die längeren Pausen geraten Frau Liebner endlos; die Musik versinkt jedes Mal im Nichts.

Vielleicht muss man diese Darbietung aber aus einem anderen Grund dennoch sehr ernst nehmen: Sabine Liebner hat sich ja besonders durch ihre nachhaltige Beschäftigung mit der New York School (Cage, Feldman, Brown, Wolf…) einen Namen gemacht. Mir scheint, dass sie gerade die Musik der Klavierstücke VI und X genau aus dieser Erfahrung heraus versucht, durch die amerikanische Brille zu sehen. Sieht man einmal von Tudors – oder Rzewskis – eher flotter Spielweise ab: Wie haben obige Komponisten Stockhausens Notentext innerlich gelesen? Liebner bringt uns hier dessen Musik aus einer Perspektive, die gewissermaßen einmal über den großen Teich und wieder zurück gegangen ist – und alles verändert. Auch das ist mutig und legitim, wenn ich mich auch nach mehrmaligem Hören mit ihrem Konzept nicht wirklich anfreunden konnte.  

[Martin Blaumeiser, März 2019]

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