Repertoirewert

Kaleidos, KAL 6348-2; EAN: 4 260164 634824

Weltersteinspielungen hören wir auf der neuesten CD des Duos Joanna Sachryn und Paul Rivinius: die beiden Musiker spielen die Zweite Cellosonate a-Moll op. 172 und die Serenade op. 109 von Ferdinand Hiller sowie die Cellosonate D-Dur op. 29 von Anton Urspruch.

Zu Lebzeiten waren sie beide gefeierte Komponisten und Pädagogen, doch nach ihrem Tod verblasste ihr Ruhm ohne erkennbare Gründe. Dieses Schicksal teilen sich zahllose große Musiker, die zum größten Teil bis heute in der Versenkung schlummern. Den Wert derer Werke erkennend, machen sich immer wieder Musiker daran, die Komponisten wiederzuentdecken und in Konzert wie Aufnahme an die Öffentlichkeit zu bringen. Ein lobenswertes wie oft musikalisch lohnenswertes Unterfangen! Freilich bleibt es oftmals bei kurzlebigen Renaissancen und die Komponisten verschwinden ebenso schnell im Schatten, wie sie daraus hervorstiegen; andere hingegen feierten so ihr wohlverdientes Comeback auf die großen Konzertbühnen: so unter anderem Walter Braunfels, Friedrich Gernsheim und John Foulds.

Entscheidend für einen bleibenden Erfolg der wiederentdeckten Werte ist allerdings eine adäquate Aufführung. Manch einem Werk wurde eine schlechte oder auch nur mittelmäßige Aufführung zum Verhängnis, da der Hörer bei ihm unbekannter Literatur den Mangel an Verständnis dem Werk und nicht den Musikern zuschreibt. So blieben beispielsweise die Symphonien Tiessens und Erdmanns nach ihrer Aufnahme durch den „Ersteinspielungs-Jäger“ Israel Yinon vollkommen unverstanden, obgleich es sich zweifelsohne ausnahmslos um Meisterwerke handelt, wie bei einem Blick in die Partituren erkennbar wird. Die Liste der auf diese Weise vertanen Chancen ist endlos und kann erschreckend regelmäßig erweitert werden. So auch mit dieser CD.

Vollkommen verständnislos stehen die Musiker vor allem Hillers groß angelegter Zweiter Cellosonate op. 172 gegenüber, die sich in ihrem teils flächig weiten Gestus mit langen Notenwerten auch nicht auf den ersten Blick erschließt. Der kontaktfreudige Hiller kannte Komponisten und Musiker verschiedenster Traditionen, lernte bei Hummel, traf Beethoven, Schumann, Chopin, Liszt, Berlioz, Mendelssohn und Meyerbeer, unterrichtete seinerseits Bruch, Humperdinck und Gernsheim, war also mit sämtlichen Stilen seiner Zeit vertraut und wusste, sie geschickt in seinen Werken zu verschmelzen, um Eigenes zu schaffen. Die düster sich aufbäumende, effektgeladene Zweite Cellosonate präsentiert sich als eigenwilliges, aber substanzgeladenes Werk, das den Hörer grummelnd umherschleift und erst im Finale durch versöhnliche Stimmungen erlöst. Sachryn und Rivinius flüchten sich in überschnelle Tempi und lassen die weitschweifenden Melodien detaillos unausgestaltet. Als Hörer versteht man in dieser Aufnahme nichts von der Durchführungsgabe Hillers oder allein schon von den melodiösen Inspirationen in fein abgeschmeckter Harmonisierung. Das Klavier verschluckt teils gar die Cellostimme, was erlebbaren Kontrapunkt unterminiert und manch thematisch wichtigen Einsatz übertönt. Halt bieten nur rasche Virtuositäten und Effektspielereien. In der Serenade op. 109 tritt die Lyrik als Ankerpunkt in den Vordergrund, woran sich die ausführenden Musiker gemächlicher voranhangeln können.

Am besten gelingt die D-Dur-Sonate op. 29 von Anton Urspruch, dessen Emotionalität, Kantabilität und Reinheit des Ausdrucks Sachryn und Rivinius besser in die Hände spielen. Zwar stören auch hier teils unausgewogenes Zusammenspiel und ein gewisser Drang nach vorne, doch vermitteln die Musiker immerhin die Grundcharakteristika und feinen Stimmungen des Werks. Anders als bei Hiller wird für die Wiederentdeckung Urspruchs mittlerweile organisiert geeifert und die Anton Urspruch-Gesellschaft e.V. realisierte bereits mehrere Konzertprojekte und CD-Aufnahmen. Urspruch darf tatsächlich auch als einer der führenden Romantiker seiner Zeit gelten: er vereinte vollendetes Formverständnis mit lyrisch-inniger Ausdrucksweise, konnte ungezwungen die Kontraste maximieren und widerstandlos zwischen den Extrema changieren.

[Oliver Fraenzke, Juni 2020]

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