Große Welt im kleinen Dorf: Das Quatuor Arod mit Attahirs „Al Asr“ in Feldafing

Was soll man dazu sagen? Die kulturelle Asymmetrie ist frappierend: Wo die Geldbeutel noch einigermaßen voll sind (soweit das bei den heutigen Zuständen noch zutrifft), wird entweder eingehegt lobbyistisch organisierte Nischenkultur gepflegt (musica viva usw.) oder überwiegend ein vermeintlicher Mehrheitsgeschmack mit PR-gestütztem Mainstream versorgt.

Feldafing ist ein kleines, äußerst beschauliches Dorf – mit einer Anmutung wie ein Städtchen von langer Tradition – am Starnberger See. Seit vielen Jahren finden dort im Juli die Musiktage Feldafing statt, derzeit unter der künstlerischen Leitung der Geigerin Franziska Hölscher und des mittlerweile weltbekannten Pianisten Kit Armstrong. Für das diesjährige Eröffnungskonzert haben sie sich mit dem französischen Quatuor Arod das überragende Streichquartett unserer Zeit an die Seite geholt, mit einem rein französischen Programm. Das Quatuor Arod hat zuletzt mit einem phänomenalen Album der Quartette von Debussy und Ravel sowie des Quartetts Al Asr von Benjamin Attahir (erschienen bei Erato/Warner Classics) die internationale Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Nie zuvor habe ich beispielsweise die Mittelsätze von Ravel und Debussy so großartig musiziert gehört (eine unbedingte Empfehlung für jeden Interessierten!).

Diesmal brachten sie das Quartett von Attahir mit. Davor spielten Franziska Hölscher, Cellist Jérémy Garbarg und Kit Armstrong als Continuo das erste Concert Royal von François Couperin – eine elegante, freundlich kurzweilige Eröffnung. Dann Attahir: keine Beschreibung wird hinreichen, um die Größe und Intensität dieser Musik zu charakterisieren. Unverkennbar ein Werk des neuen Jahrtausends, ist es – zumindest in der unüberfrefflichen Aufführung des Quatuor Arod – von absolut bezwingendem Zusammenhang in einem einzigen großen, die stark kontrastierenden Abschnitte überspannenden Bogen. Schon früh wird jenes markante Motiv eingeführt, welches dann die gewaltige Schlussfuge bestimmt. Seit dem späten Beethoven hat niemand eine so revolutionäre, unaufhaltsam über Stock und Stein jagende Fuge geschrieben, die zugleich absolut frei und trotzdem eine wirkliche Fuge ist.

Diese Musik ist nicht nur von physisch spürbarer Sprengkraft, extremer Spannung und Dichte, sondern auch ein fortwährend unvorhersehbares Abenteuer, dabei aber unbeirrbar zusammenhängend geformt. Im weitesten Sinne ist sie ‚freitonal‘, das heißt stets im Spannungsbezug erlebbar um harmonische Zentren herum aufgebaut und sich kontinuierlich entwickelnd; in konventionellem Kritikersprech freilich würde dies als ‚atonal‘ bezeichnet, was nur der Beweis wäre, dass man das Wesentliche nicht hört. Ich kenne jedenfalls keinen Komponisten der jüngeren Generationen heute, der auch nur entfernt die Größe erreicht, die für Benjamin Attahir den Ausgangspunkt seines Schaffens bildet, in welchem (wohl auch, obwohl in Toulouse geboren, auf seine marokkanisch-libanesische Herkunft zurückweisend) Einflüsse arabischer Musik erkennbar sind, jedoch niemals klischeehaft oder einengend. Ein Genie, mit einem Wort, und auf Augenhöhe serviert. Man muss sich denn auch nicht wundern, dass das gänzlich ‚undressierte‘, unvoreingenommene Publikum mit überbordender Begeisterung reagierte.

Danach spielte das Quartett zusammen mit Kit Armstrong das recht selten im Konzert zu hörende, wunderbare 1. Klavierquintett von Gabriel Fauré, ein sowohl abgeklärtes als auch leidenschaftliches Spätwerk. Die eigentlich makellose Aufführung litt lediglich unter den deutlich zu raschen Tempi, die der Pianist in allen drei Sätzen anschlug und durchzog. Diese Entscheidung liegt bei solch spontaner Zusammenkunft klar bei ihm, und er spielte mit edler Klangkultur und klarer Struktur, wie gewünscht ‚harfengleich‘, und mit durch nichts ablenkbarem Fokus.

Dann folgte das 1890-91 entstandene Concert für Violine, Klavier und Streichquartett von Ernest Chausson, das große Meisterwerk seiner wenig Konkurrenz bietenden Gattung – eine Musik von so überbordend ekstatischer Leidenschaftlichkeit in vier glanzvollen, auch dem Tragischen und Melancholischen und sowieso dem Stürmischen immensen Raum gebenden Sätzen, dass mir als beste Kurzcharakterisierung erscheint: Sie ist das historische Bindeglied zwischen Wagners Tristan und Scriabins Poème de l’extase, ein Stück Bekenntnismusik ohnegleichen, nicht nur in der französischen Literatur ohne Pendant. Wie schade, dass Chausson 1899 mit gerade einmal 44 Jahren einem Unfall zum Opfer fiel!

In diesem hochkarätigen Monumentalwerk, das auch klanglich die Besetzung maximal ausschöpft, durften alle Beteiligten glänzen und sich ihres Musikerschicksals erfreuen. Und welch ein Luxus es ist, als Solisten von einem solchen Streichquartett sekundiert zu werden, kann sich jeder denken.

Wunderschön dann die Zugabe: Faurés früher, in seiner gemütvollen Versonnenheit erstaunlich Brahms-naher Cantique de Jean Racine, das Gesangsquartett schlicht aufs Streichquartett übertragen und getragen von Kit Armstrongs Klaviergewebe – hier auch tempomäßig ideal. Ein sensationelles Konzert hinsichtlich Programm und Ausführung, für dessen Abwesenheit sich die ‚Weltstadt‘ München schämen und auf dessen Ausrichtung das kleine Feldafing stolz sein darf, zumal die kleine, wunderschöne Alte Pfarrkirche St. Peter und Paul ein idealer akustischer und optischer Rahmen ist.

[Christoph Schlüren, Juli 2025]

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