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Licht und Schatten bei Widmann

Wergo WER 7369 2; EAN: 4010228736922

WERGO hat mit „Polyphone Schatten“ und dem „Dritten Labyrinth“ zwei im Abstand von zwölf Jahren entstandene Orchesterwerke des Münchners Jörg Widmann in exemplarischen Aufnahmen herausgebracht. Im ersten Stück übernehmen der Komponist an der Klarinette und der Bratscher Christophe Desjardins die Solopartien. Sarah Wegener ist die Sopranistin des „Dritten Labyrinths“. Die Leitung des WDR Sinfonieorchesters liegt in den Händen von Heinz Holliger bzw. Emilio Pomárico.    

Jörg Widmann hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten sowohl als Klarinettist von Weltrang wie als Komponist einen Namen gemacht. Seine Fähigkeiten als Dirigent darf man noch anzweifeln (siehe Kritik des Musica viva Konzerts vom 29.9.2017, in dem u.a. das Dritte Labyrinth erklang). Auf der vorliegenden CD dirigieren zum Glück zwei erfahrene Experten, die in Widmanns Partituren noch das kleinste Detail hörbar machen.

Beide hier eingespielten Stücke gehören jeweils einem Zyklus an: Polyphone Schatten von 2001 ist Teil II der Lichtstudie; und hier werden Klänge in der Tat wie Skulpturen behandelt, die unter verschiedenen Perspektiven und Beleuchtungen letztlich nicht greifbare Charaktere herausbilden. Das Stück wirkt trotz der großen Orchesterbesetzung – allerdings ohne Oboen, Fagotte und Violinen – durchgehend kammermusikalisch und die beiden Solisten glänzen mit faszinierend virtuoser Mikrotonalität, spannend und unheimlich zugleich. Heinz Holliger umwölkt dies mit großer Sensibilität.

Das Dritte Labyrinth (2013/14) gehört mit fast 47 Minuten zu Widmanns umfangreichsten Instrumentalkompositionen – und es weist Längen auf, die von der Substanz her kaum gerechtfertigt erscheinen. Die vom Zuschauerraum aus schließlich aufs Podium „wandelnde“ Sopranistin bringt sich mit Textfragmenten aus Nietzsches Klage der Ariadne sowie Jorge Louis Borges Das Haus der Asterion in das allzu sehr von Geräuschhaftem – wenngleich hochdifferenziert – dominierte Klangbild der Partitur ein. Sarah Wegener setzt die chimärenhaften Facetten stimmlich mutig um, bleibt dennoch emotional äußerst blass. Das Werk insgesamt stellt aber nicht nur eine imaginäre Mann-Frau-Beziehung dar, sondern auf einer weiteren Metaebene das Labyrinth, das Jörg Widmann während jedes Kompositionsprozesses zu durchschreiten hat. Zu Recht verglich er die sich durch marginalste Entscheidungen neu eröffnenden Wege mit dem Film Lola rennt. Diesen Aspekt unterschlägt der ansonsten höchst informative Booklettext von Pia Steigerwald.

Emilio Pomàrico und sowie der sensationell guten Tontechnik des WDR gelingt hier eine mustergültige Darbietung, die die unvorstellbare Dichte an verschiedensten, oft ungewöhnlichen Spielanweisungen ernst nimmt und über Strecken auch kontrastreich in einen gewissermaßen musiktheatralischen Kontext zu stellen weiß. Dennoch entsteht hier, und das ist bei Widmann ja geradezu Programm, keinerlei Teleologie. Der Hörer bekommt niemals auch nur eine Ahnung davon, wie es an der nächsten „Ecke“ weitergehen könnte – was leider schnell ermüdend wirkt. Davon einmal abgesehen verdient diese CD eine eindeutige Empfehlung, gerade weil Widmanns Detailfülle im Konzertsaal allein akustisch kaum so präzise zu erfassen sein dürfte.

[Martin Blaumeiser, April 2019]