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Leonie Karatas spielt Vítězslava Kaprálovás Solo-Klavierwerke – gediegen und impressionistisch

EuroArts 2069107; EAN: 8 80242 69107 1

Bereits im letzten Sommer erschien auf EuroArts die neue Gesamtaufnahme des Solo-Klavierwerks der viel zu jung verstorbenen tschechischen Komponistin Vítězslava Kaprálová (1915–1940), in Berlin eingespielt von der deutschen Nachwuchspianistin Leonie Karatas. Bislang eher als Randnotiz erwähnt, wird es Zeit für ein ausführlicheres Plädoyer für diese beachtliche Darbietung.

Nach einigen teils schon etwas älteren Produktionen aus Tschechien bzw. der damaligen Tschechoslowakei hatte vor anderthalb Jahren das Naxos-Label mit einem Querschnitt durch ihre Orchesterwerke erneut auf Vítězslava Kaprálová aufmerksam gemacht (siehe unsere Rezensionen). Von einzelnen Klavierwerken der fast noch jugendlichen Hochbegabung existierten bereits verschiedene Einspielungen, allerdings auch erst eine Gesamtaufnahme – vom tschechischen Pianisten Giorgio Koukl auf Grand Piano.

Die Neuaufnahme des Klavierwerks durch Leonie Karatas – mit Unterstützung der Kaprálová Society – erweist sich nicht nur als erfreulich, sondern derjenigen Koukls in vielerlei Hinsicht deutlich überlegen. Zwar stellt Jonathan Woolf, der sich die CD für MusicWeb International angehört hat, zu Recht fest, dass Karatas‘ Tempi durchgängig langsamer sind als die Koukls, zieht daraus allerdings zu einseitige Schlüsse und vergleicht in einem Fall sogar Äpfel mit Birnen: Leonie Karatas spielt bei den Drei Klavierstücken op. 9 als drittes – wie vorgesehen – Scherzo Passacaglia, Giorgio Koukl hingegen anstatt dieses dritten Stückes die Grotesque Passacaglia. Das sind zwar nur zwei Versionen desselben musikalischen Materials – jedoch enden sie in jeweils anderen Tonarten (A-Dur – passend zum Rest von Op. 9 – bzw. C-Dur); vor allem aber ist Scherzo Passacaglia um 40 Takte länger und braucht bei Karatas dann halt entsprechend 70 Sekunden mehr. Abgesehen davon, dass sich Karatas womöglich selbst nicht darüber im Klaren ist, es mit zwei verschiedenen Stücken zu tun zu haben – in ihrem persönlichen Booklettext schreibt sie „Scherzo Passacaglia, auch Grotesque Passacaglia genannt – entdeckt sie bei real langsamerem Grundtempo allerdings darin so einen völlig ironischen Wiener Walzer, wo sich Koukl mit ein wenig schräger neoklassizistischer Strenge begnügt.

Da, wo die junge deutsche Pianistin sonst noch tatsächlich spürbar langsamer ist (etwa im Praeludium von Op. 9), bringt sie dafür immer Details zum Leben – deutlicher gemachte polyphone Stimmführung, schärfere dynamische Kontraste – und unterfüttert interessante harmonische Wendungen teilweise mit sinnvoller Agogik. Es stimmt freilich, dass dadurch an manchen Stellen der musikalische Fluss unnötig zäh gerät. Auf der anderen Seite wirkt die demonstrative Eloquenz des Routiniers Koukl keineswegs überall stringenter, sondern oft auch schlicht langweilig. Karatas‘ reiche Farbpalette und ihre feine, sehr bewusste Anschlagskultur verleihen der Musik Kaprálovás – selbst Frühwerken wie den Fünf Klavierkompositionen von 1931–32 – stets Gewicht und Charakter, ganz gemäß der Prämisse „jeder […] noch so scheinbar übertriebenen Emotion, jedem Stimmungswechsel, jedem Augenzwinkern Raum zu geben, sofern es die Musik stimmig erlaubt“. Dazu kommt eine exzellente Aufnahmetechnik, die den Steinway in der Berliner Ölberg-Kirche räumlich und dynamisch hervorragend abbildet, wohingegen Koukls Flügel schon suboptimal gestimmt ist und dadurch unentwegt unschöne Obertonartefakte produziert.

In den vier April-Präludien op. 13 gelingt so eine bemerkenswerte Kombination von schon enormer Virtuosität – gerade im vierten, durchaus an Prokofieff erinnernden Stück – und ergreifender Schlichtheit (3. Prélude), bei der Karatas keinerlei Details überspielt und emotional ebenso verständlich bleibt. Nicht nur hier passieren übrigens Koukl einige Lesemissverständnisse: In den Schlusstakten des Andante semplice muss es z. B. in der Oberstimme dreimal h heißen. Zwei fehlende Auflösungszeichen in den letzten drei Takten sind ein Fehler des Erstdrucks; Karatas macht es richtig.

Die beiden kniffligsten und musikalisch anspruchsvollsten Klavierwerke der Tschechin – die großartige Sonata Appassionata op. 6 sowie die Variations sur le carillon de l’église St-Étienne-du-Mont op. 16 meistert Leonie Karatas eh‘ überzeugend. Gerade in den technisch vertrackten Passagen – dem Fugato im Variationssatz der Sonate und der 4. Variation ‚Quasi étude vivo‘ des Carillon – zeigt sich ihre bestechende Pianistik. Insgesamt betrachtet sie Kaprálovás Klavierwerk etwas zu sehr von der französisch-impressionistischen Seite. Immerhin ertränkt sie trotz dieser Lesart nicht derart viel im Pedal wie Koukl. Die wild-slawischen Momente kommen in ihrer Ungezügeltheit jedoch fast ein wenig zu kurz: Hier bräuchte es sogar noch mehr Mut zum Extrem. Einen spannend-irritierenden Hörgenuss bietet diese gelungene CD allemal.

Vergleichsaufnahme: Giorgio Koukl (Grand Piano GP708, 2016)

[Martin Blaumeiser, März 2023]

Ein Heimspiel

EuroArts; Unitel Classica; DVD 2072758; ISBN: 8 80242 72758 9

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Im Prager Smetanasaal des Gemeindehauses dirigiert Jiří Bělohlávek die Tschechische Philharmonie im Rahmen des traditionsreichen Prager Frühlings mit dem wohl bekanntesten Werk des Namenpatrons Bedřich Smetana: Má Vlast, Mein Vaterland. Aufgenommen wurde das Eröffnungskonzerts des Festivals von 2014 unter der Leitung des Videodirektors Tomáš Šimerda.

Die tschechische Musikszene wird hierzulande nach wie vor recht marginal wahrgenommen, lediglich die Namen Bedřich Smetana, Antonin Dvořak, Leoš Janáček und vielleicht noch Josef Suk und Bohuslav Martinů, Ervin Schulhoff sowie ganz am Rande Zdeněk Fibich sind international ein Begriff. Während Dvořak immerhin mit seinen späten Symphonien sieben bis neun und dem Cellokonzert omnipräsent ist und von Janáček gelegentlich einmal eine Oper oder ein Kammermusikwerk aufgeführt wird, haben es die anderen Komponisten nach wie vor recht schwer, sich außerhalb Böhmens durchzusetzen. Smetana konnte nur zwei Orchesterwerke beitragen, die heute immer und immer wieder von sämtlichen Orchestern dieser Welt präsentiert werden und zu Dauerrennern avancierten: Vltava, zu deutsch die Moldau, sowie die Ouvertüre zur Oper ‚Die verkaufte Braut’. Vernachlässigt hingegen sind die fünf anderen Stücke des circa 75-minütigen Zyklus ‚Ma Vlást’, dessen zweite Nummer die Moldau ist, und die einen nicht minder wertvollen Beitrag zur tscheschischen Nationalromantik bilden als diese: Die epochale Burg Vyšehrad, die männerhassende Rebellin Šárka, das Naturschauspiel ‚Aus Böhmens Hain und Flur’ (Z českých luhů a hájů) sowie das Hussitenlager Tábor und der Hussiten letzter Rückzugsort Blaník sind die Besungenen, die so zentral sind für Smetanas tönende Verherrlichung seines Vaterlandes.

Es ist offenkundig, dass Jiří Bělohlávek und die Tschechische Philharmonie hier ein absolutes Heimspiel haben, jedes Stück ist bis ins Kleinste genauestens bekannt und sämtliche Charaktere sind minutiös idiomatisch erfasst. Von der zartesten Kantilene bis zum überwältigendsten Brausen, vom Naturlaut bis zum geschwinden Bauerntanz kann der Dirigent dem Orchester jede Nuance in Vollendung entlocken. Zu nennen ist hier beispielsweise der trübe Klarinettengesang vor dem finalen Aufruhr in Šárka, bei welchem durch die tremolierenden Streicher eine derartig gewaltige Spannung aufgebaut wird, dass sich der Hörer kaum auf dem Stuhl halten kann. Der Orchesterklang ist dabei durchgehend sehr durchsichtig und klar, auch in polyphonen Passagen wie den die belebte Natur darstellenden Fugati und Fugenbruchstücken aus Z českých luhů a hájů bleibt jede Stimme deutlich und eigenständig. Das verleiht dem Musikerapparat etwas sehr Plastisches und Bewegliches, der Klang scheint alles andere als zweidimensional zu sein. Bělohlávek verzichtet trotz der Transparenz weder auf einen vollen Klang noch auf herbe Timbres, die auch das eine oder andere Mal dämonischer herüberklingen können. Der Klang wird freilich auch beeinflusst durch die interessante Aufstellung des Orchesters mit dem Schlagwerk von der Publikumsseite aus rechts vor den Posaunen und etwas seitlich der Trompeten sowie den sechs (!) Harfen hinten links neben den acht Kontrabässen, die hinter den Posaunen die letzte Reihe bilden. Somit erhalten die tiefen Instrumente von unten eine solide Klangbasis durch die Bässe, und den hohen Streicher wird der Rücken gestärkt durch die positionsbedingt gut hörbaren Harfen. Das Schlagwerk fällt von rechts überfallmäßig ein. Durch das visuelle Medium lässt sich bei dieser Aufnahme zudem etwas über das Dirigierverhalten von Jiří Bělohlávek sagen, was bei rein akustischer Dokumentation im Verborgenen bleiben würde. Die Bewegungen des Orchesterleiters sind größtenteils auf Brust- und Kopfhöhe, er vermeidet unnötig ausladende Gesten. Für die Musiker ist seine Führung sehr verständlich und offen, sie lädt zur aktiv kontrollierten Klanggestaltung ein und strukturiert die volle Bühne spielerisch.

Die DVD zeigt eine unglaubliche Vielfalt an Kameraperspektiven; Gesamt- und Teilaufnahmen der Musiker und des Dirigenten wechseln mit Kameraflügen über die Halle oder Ansichten von hinten oder gar von oben. Sogar die Triangel hat eine eigene Einstellung, wobei diese nicht so grell herausscheppert und das Klangbild dominiert wie in der mittlerweile wohl bekanntesten Aufnahme des ganzen Zyklus von Rafael Kubelik und den Wiener Philharmonikern aus dem Jahr 1959, wo dieses kleine Instrument durch die ungewohnte Präsenz eine außergewöhnliche und angenehme Klangfarbe beisteuern kann. Interessanterweise stören trotz so vieler Einstellungen zu keiner Zeit andere Kameras, die normalerweise in Filmproduktionen irgendwo klobig herumstehen oder durch den Raum geschoben werden. Meist sieht man nur bei ganz genauem Hinschauen die Videoaufnahmegeräte. Ruhig stehen die Kameras hier üblicherweise nicht, durch leichte Fahrten bleibt das Bild stetig im Fluss. Erstaunlich oft sind die Kamerafahrten und Schnitte sogar der Musik angepasst, an dramatischen Höhepunkten bewegen sich vielerorts die Kameras schneller und es werden außergewöhnlichere Positionen wie diejenige senkrecht von oben gewählt, außerdem gibt es dann mehr Schnitte. Auch die Audiowiedergabe ist auf einem durchwegs hohen Niveau und kann glaubhaft die Fülle an einzeln ausgearbeiteten Stimmen vermitteln.

Auch der äußere Eindruck der DVD ist sehr ansprechend mit dem stimmungsvollen Bild einer vernebelten Mooslandschaft und schlicht gehaltener Aufschrift. Das Booklet gibt auf Französisch, Deutsch und Englisch (nicht jedoch auf Tschechisch!) ausführlich Auskunft über Smetana, seinen Zyklus und die einzelnen Stücke, wodurch der Leser alles erfährt, um sich ein Bild zu machen über die Hintergründe der doch sehr programmgesteuerten Musik von Má Vlast. Über das Orchester lässt sich das Booklet allerdings nur auf Englisch aus, Informationen über den großartigen Dirigenten fehlen vollständig, was mehr als bedauerlich ist. Nichts desto Trotz liegt hier wohl eine der besten Musikfilmproduktionen dieses Jahres vor, die sowohl künstlerisch als auch akustisch und optisch wahrhaft hochkarätig ist.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2015]