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Von Beethoven bis Bierflaschen

Lawo, LWC1130; EAN: 7 090020 181523

Ketil Hvoslef: Chamber Works No. IV; Ricardo Odriozola, Māra Šmiukše (Violin), Einar Røttingen (Klavier), Ilze Klava (Viola), John Ehde (Cello), Steinar Hannevold (Oboe), James Lassen (Fagott), Britt Pernille Lindvik (Trompete), Håvard Sannes (Posaune), Håkon Nilsen (Klarinette)

Die vierte der insgesamt neun CDs mit Kammermusik des norwegischen Komponisten Ketil Hvoslef ist erschienen: Sie enthält das frühe Sextett, das Beethoventrio, das Klavierquintett und den Nordischen Kontrapunkt für Fiedeln und Bierflaschen.

Seine Eigenständigkeit und persönliche Aussage sowie sein instinktives Gespür für Form machen Ketil Hvoslef zu einem der bedeutendsten Komponisten der Gegenwart. 1939 wurde er als jüngster Sohn des großen Symphonikers Harals Sæverud geboren, dessen Ruf zwar kaum die Grenzen Norwegens überschreitet, aber dessen Werke doch von Musikern wie Leopold Stokowski oder Jan Henrik Kayser geschätzt, gespielt und aufgenommen wurden. Als Ketil nach Anfängen als Maler entschloss, sich doch der Musik zuzuwenden, nahm er den Namen seiner Mutter Marie Hvoslef an. Doch woher kam der Entschluss, sich von der bildenden Kunst abzuwenden? Es war das Urteil seines Lehrers, das Hvoslef zu diesem Bruch trieb: es gebe keine eigene Aussage in seinem Werk. Und vielleicht gab dies auch Anstoß zu einer nie endenden Suche nach dem „Eigenen“ in seiner Musik: Hvoslef schwört allen Konventionen ab, hat sich nie den Avantgardisten angeschlossen, den Postavantgardisten, Spektralisten, Minimalisten oder sonst einer Stilgruppe. Stattdessen schreibt er Musik, wie sie in ihm aufkommt und sich in ihm entwickelt.

Die Musik von Ketil Hvoslef entwickelt sich frei und organisch, überrascht den Hörer immer wieder und spielt mit Erwartungen. Der Norweger liebt es, sich selbst Grenzen zu setzen und in seinen Möglichkeiten zu beschneiden, um dadurch einen stringenten Fluss zu fördern, der eben nicht durch eine unendliche Vielzahl an Ideen und Möglichkeiten seinen Lauf verliert. Einfachste Mittel genügen Ketil Hvoslef, um mit ihnen die Spannung aufrechtzuerhalten, ohne gekünstelte Manierismen oder Effekthascherei. Die Musik erregt den Hörer und bannt die Aufmerksamkeit, ein Zurücklehnen oder passives Hören hingegen verwehrt sie vollständig.

Das früheste Werk, das für die CD-Reihe eingespielt wurde, ist das Sextett, welches noch Bezüge zu Strawinsky aufweist und durch kontinuierliche Rhythmik und herbe Kontraste besticht. Dunkel und beinahe gruselig erscheint das Beethoventrio, wenngleich ein heiteres Thema aus Beethovens Trio op. 11 immer wieder dazwischenfunkt – wobei diese Ausgelassenheit durch den Kontext immer weiter in Frage gestellt wird. Der Nordische Kontrapunkt für Fiedeln und Bierflaschen wirkt wie ein humorvolles Intermezzo, und doch handelt es sich um seriöse Musik, die beweist, dass Ketil Hvoslef sogar aus Bierflaschen ein Melodieinstrument zaubern kann. Die Flaschen dienen nicht einem reinen Effekt, sondern geben tatsächlich einen Kontrapunkt zu den beiden Violinen und werden eher wie eine Panflöte behandelt. Das Hauptwerk dieser CD ist allerdings das Klavierquintett, welches Hvoslef dem Pianisten Einar Røttingen widmete, es für und mit ihm schrieb. Es besteht aus einem einzigen Satz, der mit einer Länge von 27 Minuten zu den längsten Kammermusiksätzen des Norwegers gehört. Thematisiert wird die Wechselwirkung zwischen einem Klavier und vier zusammengehörigen Streichern. Das Quintett ließe sich als Anti-Quintett bezeichnen, denn das Klavier ist weder virtuos, noch sticht es als Solist hervor: Hvoslef beschneidet seine Möglichkeiten, indem er nur die nötigsten Töne setzt und dabei aus wenigen nackten Noten den vollen Ausdruck schöpfen will. Das Klavier kämpft meist gegen die Streicher an, aber nimmt doch hin und wieder ihre Ideen und Klänge auf – nicht ohne sie in ganz anderes Licht zu rücken.

Wie auch der Komponist wohnen die meisten Musiker dieser Aufnahme in Bergen und kennen sich, musizieren entsprechen lange Zeit miteinander und mit Ketil Hvoslef. Wir hören ein Klangresultat aus jahrelanger Freundschaft, intensiver Arbeit und Verständnis für diese Art von Musik. Alles ist am rechten Platz, die Musiker spielen wie aus einem Atem heraus und können jedes noch so feine Detail umsetzen: Imponierend gestaltet sich das Finale des Klavierquintetts, welches aus einem sich langsam steigernden Crescendo und ebenso langsam abfallenden Decrescendo besteht, beide beinahe unrealisierbar lang. Doch es gelingt den Musikern, eine absolut konstante Dynamikschwellung zu verwirklichen! Andere Effekte wirken auf subtilerer, unterschwelligerer Ebene, wurden in gleicher Weise fein und bewusst umgesetzt. Hier hören wir eine absolut grandiose Leistung aller Beteiligten, wie sie ihresgleichen sucht.

[Oliver Fraenzke, September 2018]

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