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Durch und durch ein Orchesterkomponist

Naxos, 8.574084; EAN: 7 47313 40847 4

Nachdem Fabrice Bollon mit dem Philharmonischen Orchester Freiburg bereits die vier Symphonien Albéric Magnards bei Naxos herausbrachte (8.574083 & 8.574082 – die insgesamt vierte Gesamtaufnahme nach Plasson, Ossonce und Sanderling), erscheinen nun die fünf Einzelwerke für Orchester: Suite d’orchestre dans le style ancien op. 2, Chant funèbre op. 9, Ouverture op. 10, Hymne è la justive op. 14 und Hymne à Vénus op. 17.

Von den insgesamt nur 21 Opusnummern im Werkkatalog von Albéric Magnard werden ganze neun von Orchesterwerken eingenommen: vier davon die groß angelegten, gar visionären Symphonien, fünf von je zehn- bis fünfzehnminütigen Einzelwerken. Diese sind auf vorliegender CD mit Fabrice Bollon und dem Philharmonischen Orchester Freiburg zu hören.

Magnard wurde Zeit Lebens wenig beachtet, anfangs als Wagnerianer abgetan und später aufgrund gewisser Nähen zur deutschen Symphonik kritisiert. Was uns heute nicht mehr stören mag, war in Frankreich um die Jahrhundertwende ein schwerwiegender Vorwurf – wandte man sich schließlich zu dieser Zeit aktiv einer eigenen, französischen Musik zu und von deutscher Tradition (insbesondere namentlich Wagner) ab. Seinen vorhandenen Patriotismus zu beweisen, kostete Magnard sein Leben, als er sein Grundstück im Alleingang gegen die Besetzung deutscher Truppen verteidigte: Erst durch diesen Tod fiel ihm überhaupt Aufmerksamkeit zu. Ein Jahr zuvor vollendete er seine Vierte Symphonie, die maßgeblich in die Zukunft blickt und einen völlig neuen Abschnitt seines Schaffens eröffnet hätte.

Von Anfang an sah sich Magnard als Symphoniker und so macht bereits seine zweite Opusnummer ein Orchesterwerk aus: die Suite im alten Stil. Erst kurz zuvor hatte er sein Studium bei Vincent d’Indy aufgenommen und bislang nur Lieder und drei Klavierstücke geschrieben, letztere als Opus 1 veröffentlicht. Zwar hätte Albéric Magnard auch bei César Franck studieren können, doch entschied er sich aktiv für den Gründer der Schola Cantorum d’Indy, da dieser besondere Fähigkeiten der Orchestration und der Instrumentenlehre bewies. Die so fast ohne jegliche Erfahrung komponierte fünfsätzige Suite dans le style ancien präsentierte er seinem Lehrer, der ihn prompt wieder an den Schreibtisch schickte, um die Orchestration zu überarbeiten: zwar gefielen die Themen und allgemein auch die formale Konzeption, doch trug Magnard in den Orchesterfarben noch viel zu dick auf und überfrachtete das Werk. Aus der vollständigen Revision resultiert ein relativ klein besetztes Werk mit doppeltem Holz, Hörnern, Trompete und Schlagwerk, das durchaus beachtlich geformt ist – wenngleich die eröffnende Française natürlich keineswegs eine vorklassische Tanzform darstellt und auch nicht in eine traditionelle Suite gehört. Magnard nutzte die Suite mit ihren knappen, lebendigen Sätzen als Experimentierfeld, um mit dem orchestralen Schreiben vertraut zu werden und Instrumentationen zu erkunden; besonders interessant artet das Menuet an, welches in seinem weittragenden, beinahe symphonischen Gestus seinen späteren wie größeren Formen den Weg weist.

Als Magnard sein Chant funèbre op. 9 schrieb, hatte er seine ersten beiden Symphonien (opp. 4 & 6) bereits veröffentlicht. Mit dem Chant funèbre gelang gewissermaßen ein Durchbruch hin zu einem reiferen Stil mit expansiveren Themen und einer sich aus nur einem Kern entwickelnden Stimmung, die die Spannung den gesamten Satz über hält. Gewidmet ist das Werk dem Andenken an seinen Vater, wenngleich er zu ihm ein schwieriges Verhältnis hatte; der Komponist gab ihm gewissermaßen die Schuld für den frühen Suizid seiner Mutter. Diese Würdigung erklärend schrieb Magnard in einem Brief, er habe seinen Vater erst verlieren müssen, um zu verstehen, wie viel er ihm bedeutete.

Im gleichen Jahr komponierte er die Ouvertüre op. 10, die uns stilistisch tatsächlich nahe an die deutsche Symphonik um die Jahrhundertwende bringt, konzipiert als klassische Sonatenhauptsatzform mit beschwingten Themen und auftrumpfenden Charakter.

Die beiden Hymnen an die Gerechtigkeit und an die Venus haben zutiefst persönlichen Charakter, sprechen ihm aus dem Herzen – und doch gelingt es Magnard, gewissen Abstand zu den Themen zu erhalten und allgemeingültige statt auf ein spezielles Sujet bezogene Aussagen in Töne zu fassen. Gerechtigkeit bedeutete für Magnard einen zentralen Aspekt seines Handelns und gewissermaßen später auch seines Sterbens, und die Liebe stellte für ihn eines der höchsten Güter dar: Widmungsträger der Venushymne ist seine Frau, die er bis zum Tode abgöttisch liebte und verehrte.

Die Einspielungen dieser CD entstanden wie auch die der Symphonien zu verschiedenen Zeitpunkten von 2017 bis 2019. Allgemein geraten sie durch die einsätzigen Formen noch stringenter und kompakter als die umfangreichen, mehrsätzigen Symphonien. Gerade aus dem Chant funèbre kitzelt Fabrice Bollon auch noch den letzten Rest an Innigkeit heraus. In der Suite d’orchestre dans le style ancien sticht der lebendige und frische Charakter hervor, den die Freiburger mit subtil historisierender Spielweise unterstreichen, bei der parallel Platz bleibt für das musikgeschichtlich Aktuelle. Die knappen Sätze erscheinen prägnant und gebündelt, in sich einheitlich abgeschlossen. Den überschwänglichen Charakter nimmt Bollon auch in die Ouverture mit, hält die Form streng geschlossen und wandelt grazil auf dem schmalen Grad zwischen Übermut und Haltung. Freier gestaltet er da die beiden Hymnen in ihrem erzählerischen Charakter, deren „Geschichten“ man als Hörer gut nachvollziehen kann. Den Chant funèbre nimmt Bollon mit den Freiburgern tatsächlich als ausgewachsenen Gesang voll hinreißender Melodik, wobei er besonders ein absteigendes Motiv hervorhebt, welches das gesamte Werk durchzieht und den ausweglosen Zug in die Tiefe symbolisiert. Mit warmen Orchesterfarben, sonorem Klang und echtem Gefühl gelingt hier eine der stimmigsten Magnard-Aufnahmen.

[Oliver Fraenzke, Juni 2020]

Ambivalenter Magnard aus Freiburg

Naxos 8.574083; EAN: 7 4731340837 5 (Nr. 1&2)

Naxos 8.574082; EAN: 7 4731340827 6 (Nr. 3&4)

Das Philharmonische Orchester Freiburg unter seinem Generalmusikdirektor Fabrice Bollon legt auf zwei bei Naxos erschienenen CDs die vier – leider immer noch zu wenig gespielten – Symphonien des Franzosen Alberic Magnard (1865-1914) vor. Doch auch hier gab es schon ernstzunehmende Konkurrenz.

Im letzten Jahr machte die – seit der Uraufführung 1931 – erst zweite Inszenierung von Magnards bereits 1897-1900 entstandener Oper Guercoeur in Osnabrück Furore und wurde zu Recht von der Opernwelt als „Wiederentdeckung des Jahres“ gefeiert. Der öffentlichkeitsscheue und überaus selbstkritische Komponist galt schon zu Lebzeiten als Einzelgänger. Man nahm dem Privatschüler d’Indys seine anfängliche Nähe zu Wagner übel, bezeichnete ihn später dies- und jenseits des Rheins gar als „französischen Bruckner“ und verschmähte die wenigen, dafür aber recht vertrackten Werke. Sein Tod – er wurde bei der Verteidigung seines Anwesens beim Einmarsch deutscher Truppen 1914 erschossen – machte ihn zunächst berühmter als seine Musik.

In der Tat spürt man gerade in der ersten, noch etwas ungelenken Symphonie (1890) – mit einem alle vier Sätze verbindenden Hauptthema – gewisse Eigenheiten, die man auch Anton Bruckner zuordnen könnte, z.B. der Abbruch im ersten Satz (vor der Generalpause) auf einem Septnonakkord. Ebenso werden einem die wagnerisch anmutenden Horn- und Trompeteneinwürfe im Finale sowie die Wiederkehr des großartigen Chorals aus dem zweiten Satz als Schlussapotheose gerade aus der deutschen Symphonik vertraut vorkommen. Doch bereits in der 2. Symphonie hat Magnard eine ganz eigene Sprache entwickelt, die eher manche Elemente Mahlers aufgreift als sich an älteren Vorbildern zu orientieren. In den letzten beiden Gattungsbeiträgen (1896 bzw. 1913) tritt eine Formvollendung und eine Instrumentationskunst zu Tage, die sie vielleicht noch über die Solitäre von Chausson, Franck oder Dukas zum Bedeutendsten französischer Symphonik vor der Moderne erheben – echte Meisterwerke. Die Dritte dirigierte der Komponist immerhin auf Einladung Busonis 1905 mit den Berliner Philharmonikern.  

Auf CD gab es bereits drei Gesamtaufnahmen des Zyklus – unter Michel Plasson (EMI), Jean-Yves Ossonce (Hyperion) und Thomas Sanderling (BIS bzw. Brilliant), denen sich nun die Freiburger Produktion stellen muss. Insgesamt darf man der Darbietung einiges Lob zollen: Fabrice Bollon begreift die durchaus unterschiedliche Architektonik aller vier Werke und stellt dann die thematische Arbeit Magnards auch entsprechend in den jeweiligen Kontext. Auffallend ist seine immer große dynamische Spannweite innerhalb einzelner Phrasen, die die hohe Emotionalität magnardscher Melodik noch unterstreicht. Manches wirkt dann aber wirklich sehr deutsch: Besagter Choral am Schluss der Ersten kommt viel zu behäbig und dick aufgetragen daher. Hier ist etwa Plasson lässiger, unaufdringlicher – aber vor allem durchsichtiger. Mag den Hörer über Strecken dessen dauernde Weichzeichnung ermüden und die Musik zu nahe an den Impressionismus rücken, gelingt dem Orchester aus Toulouse eine sorgfältigere Detailarbeit – gerade an kniffligen Stellen. Dafür fehlte es in Freiburg anscheinend an Probenzeit. Nur ein Beispiel: 4. Symphonie, 4. Satz – Ziffern [46] u. [54]; da hört man auf der Bollon-Aufnahme in den hohen Streichern – hier lediglich Begleitschicht – nur unkonturiertes Genuschel; ganz anders bei Plasson oder Ossonce. Trotzdem schafft Bollon auch Momente klanglicher Raffinesse, die den Hörer unmittelbar bewegen und bei der Stange halten: so der Aufbau des Bläserakkords zu Beginn des Finales der 2. Symphonie – hier könnte man schon fast an die Spektralisten denken – oder die fantastisch changierenden Bläserfiguren direkt am Anfang der Vierten. Die Aufnahmetechnik vermittelt ein recht direktes Klangbild mit wenig Hall, ist mir allerdings nicht plastisch genug und im Bass etwas wummerig; da ist die Konkurrenz aber auch nicht perfekt. Magnards Symphonik wird immer noch weit unterschätzt; schön, dass sich nun ein deutsches Orchester ihrer angenommen hat, wenn auch noch recht nahe an Frankreich.     

[Martin Blaumeiser, Februar 2020]

In Reich verschwenderischer Vielfalt

Naxos, 8.574082; EAN: 7 47313 40827 6

Unter Stabführung von Fabrice Bollon spielt das Philharmonische Orchester Freiburg die Symphonien Nr. 3 b-Moll op. 11 und Nr. 4 cis-Moll op. 21 von Albéric Magnard.

Der Werkkatalog von Albéric Magnard ist mit nur 21 veröffentlichten Opusnummern mehr als schmal, dafür gezeichnet von perfektionistischem Streben und dem ständigen Drang, formale Klarheit und Ausgeglichenheit zu schaffen. Die Bruckner’schen Anklänge in seinen symphonischen Werken boten Zielfläche für Anfeindungen, er komponiere nicht französisch genug, nicht nationalistisch – zu der Zeit kein marginaler Vorwurf. Dies könnte einer der Gründe gewesen sein, warum Magnard beim Einfall deutscher Truppen 1914 im Ersten Weltkrieg an die Front stürmte, um seine Heimat zu verteidigen: was er mit dem Leben bezahlte. Erst ein Jahr zuvor beendete er seine Vierte Symphonie und damit sein letztes Werk, in welchem er stilistisch in die Zukunft blickte und ganz neue Pfade betrat. Wir können nur erahnen, wie er diesen Weg weitergegangen wäre. Auf dem Höhepunkt seines Schaffens komponierte Magnard die Dritte Symphonie, wohl die klarste und am leichtesten verständliche von allen. Heute stellt sie das am meisten gespielte seiner Werke dar.

Vom ersten Ton an werden wir in den Bann der verschwenderischen Fülle an Ideen gezogen. Die Symphonien sind durchzogen von dichter Stimmvielfalt und ausgewogenem Kontrapunkt. Die Hauptstimmen werden getragen von mehreren Nebenstimmen und subtilen Motiven, die am Rande der Wahrnehmung ablaufen, was einen Eindruck von Volumen und Dichte schafft. In den raschen Sätzen werden wir regelrecht erschlagen von rhythmischer Präsenz und drängerischem Gestus, in den pastoralen Passagen tragen innige Kantilenen uns fort, doch auch um sie herum schwirrt es an parallel ablaufenden Ideen.

Fabrice Bollon gibt den Symphonien genug Luft zum Atmen, gleichzeitig nutzt er das Zeitmaß auf halbe Noten in den schnellen Sätzen für rasende Ausbrüche, rhythmische Feuerwerke und ausgiebiges Precipitato. Dabei erhält er stets die Souveränität und Erhabenheit der Musik, bietet luzide Einblicke in die Kontrapunktik der Symphonien und verleiht ihnen die notwenige Ausgewogenheit formaler Abstimmung. Das Philharmonische Orchester Freiburg folgt mit klarer Klanggestaltung und geht einfühlsam auf die hinreißenden Melodien ein.

[Oliver Fraenzke, November 2019]

Geheimtipp des Verismo

CPO 7089707; EAN: 7 61203 79602 1

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Die Stilrichtung des italienischen Verismo ist heute v. a. durch Opernkomponisten wie Giacomo Puccini, Pietro Mascagni, Ruggiero Leoncavallo oder Umberto Giordano bekannt. Der 1883 geborene Riccardo Zandonai dagegen, seines Zeichens selbst Mascagni-Schüler, ist heute fast völlig vergessen. Von seinen insgesamt elf Opern dürfte der tragische Vierakter ‚Francesca da Rimini’ allerdings jenes sein, welches Kennern noch am ehesten geläufig ist. Eine Aufnahme mit Ausschnitten aus der ‚Francesca’ unter dem Label Decca mit der Verismo-Diva Magda Olivero und dem berühmten florentinischen Tenor Mario del Monaco aus den späten 60er Jahren ist legendär. Die Geschichte um Francesca, welche sich gegen die arrangierte Ehe auflehnt und letztlich für ihre wahre Liebe stirbt, obendrein am Schauplatz eines von politischen Machtkämpfen zerrütteten Italien im frühen 14. Jahrhundert, hat auf den ersten Blick alles, was das Erfolgsrezept einer guten Oper ausmacht. Doch hatte es Zandonais Musikdrama seit seiner Uraufführung am 19. Februar 1914 in Turin schwer, sich einen Repertoireplatz auf den Bühnen der Welt zu sichern, zumal das damals allmählich aufkommende Medium des Films eine ernstzunehmende Konkurrenz darstellte.

Die vorliegende cpo-Einspielung mit dem Philharmonischen Orchester Freiburg unter der Leitung von Fabrice Bollon dürfte die erste Studioproduktion der kompletten Oper auf kommerziellem Tonträger sein. Allein dieser Umstand kann gar nicht hoch genug gelobt werden. Sowohl das instrumentale Klangbild als auch die musikalische Verwendung der Singstimmen und des Chores erinnern in ihrer eindrücklichen Klangfülle und -gewalt an die Tonsprache anderer Zeitgenossen, wie vor allem Vittorio Gnecchi oder Richard Strauss. Gerade das leidenschaftliche Duett „No, Smaragdi, no! … Inghirlandata di violette“ aus dem dritten Akt, sowie das dramatische Finale der Oper, bei welchem beide Portaganisten ermordet werden, hinterlassen in dieser Hinsicht einen bleibenden Eindruck. In Bezug auf die alte Decca-Einspielung kommt besonders bei der Besetzung der Hauptdarsteller ein leichtes Déjà-vu-Gefühl auf. Der in der Rolle von Francescas Liebhaber debütierende deutsch-brasilianische Tenor Martin Mühle überrascht mit frappierender Ähnlichkeit zu Mario del Monacos bronzenem Timbre. Trotz insgesamt beachtlicher Leistung neigt seine klanggewaltige Stimme allerdings gelegentlich etwas dazu, sich in einem durchgängigen Forte zu verfestigen (interessanterweise eine Eigenart, die man auch bei del Monaco öfters beobachten kann). Christina Vasileva als lyrisch-dramatische Francesca reicht in ihrem Ausdrucksreichtum zwar nicht an Legenden wie die Olivero heran, vermag aber dessen ungeachtet durch ihre einfühlsame Stimmfärbung und -führung sehr zu gefallen. Ihre gefühlvollen Piani, zumal in den sehnend romantischen Passagen, sind besonderer Erwähnung wert. Anders als ihrem Kollegen Mühle gelingt es ihr auch besser, ein differenzierteres Charakterbild ihrer Rolle zu zeichnen. Das Freiburger Orchester unter Bollon ist für seine ausgesprochen solide Leistung besonders zu würdigen. Der Dirigent versteht es dabei auf hervorragende Art und Weise, die dramatischen Untiefen der Partitur filigran auszuloten und den gebündelten Klangkörper der 84 Musiker mit der nötigen Transparenz spielen zu lassen. Alles in allem eine unbedingt hörenswerte Einspielung.

[Georg Glas, Januar 2016]