Lateinamerikanische Vitalität

Ars Produktion Schumacher, ARS 38 579; EAN: 4 260052 385791

Für Ars Produktion Schumacher haben Nicole Peña Comas (Violoncello) und Hugo Llanos Campos (Klavier) ein abwechslungsreiches Programm mit lateinamerikanischer Kammermusik aufgenommen.

Es ist traditionell der Zweck von Anthologien, die Leistungen einer Gruppe von Autoren dem Publikum in nuce zu präsentieren, ihm die Augen – bzw. im vorliegenden Fall die Ohren – für die Reichhaltigkeit eines Bestands kultureller Güter zu öffnen und es auf Weiteres aus diesem Repertoire neugierig zu machen. Das Programm, das die aus der Dominanischen Republik stammende Cellistin Nicole Peña Comas und der chilenische Pianist Hugo Llanos Campos für ihre CD El Canto del Cisne Negro zusammengestellt haben, erfüllt diesen Zweck aufs Schönste. Der gemeinsame Nenner dieser gut einstündigen Anthologie ist Lateinamerika, und zwar nicht nur dahingehend, dass die dargebotenen Stücke eben von lateinamerikanischen Komponisten stammen: Peña Comas und Llanos Campos haben gezielt Musik aus allen Himmelsrichtungen des lateinamerikanischen Kulturraums zusammengebracht. Auch vereint die CD Werke unterschiedlicher Gattungen vom dreiminütigen Charakterstück bis zur viersätzigen Sonate. Zeitlich liegen die Schwerpunkte auf dem frühen 20. Jahrhundert und der Gegenwart.

Die Kultur Mittel- und Südamerikas wurde entscheidend durch das Zusammentreffen verschiedenster Traditionen im Laufe der Geschichte bestimmt, sodass Musiker hier seit jeher mannigfache Anregungen vorfanden, die zu neuen Synthesen inspirierten. Mit der Etablierung eines bürgerlichen Musiklebens nach europäischem Vorbild stellte sich für lateinamerikanische Komponisten seit dem späten 19. Jahrhundert auch verstärkt die Frage nach dem Verhältnis zur Alten Welt. Vier der auf der vorliegenden CD versammelten Komponisten wurden in den Jahren um 1880 geboren. In ihren Lebensläufen zeigt sich, auf welch unterschiedliche Weise diese Frage jeweils beantwortet wurde.

So haben Constantino Gaito (1878–1945), Joaquin Nin (1879–1949) und Manuel María Ponce (1882–1948) den bedeutendsten Teil ihrer Ausbildung in Europa absolviert. Der Argentinier Gaito studierte in Neapel, der Mexikaner Ponce in Bologna und Berlin. Joaquin Nin, in Havanna als Sohn eines Katalanen und einer Kubanerin geboren, wuchs in Barcelona auf und lebte lange Zeit in Paris, starb allerdings in der Stadt seiner Geburt. Hingegen hat Heitor Villa-Lobos (1887–1959) – als Brasilianer der einzige portugiesischsprachige Komponist des vorliegenden Albums – Europa erstmals als ein Mittdreißiger betreten, den man keineswegs mehr einen Studenten nennen konnte: Auf Anregung seines Freundes Darius Milhaud war er nach Paris gereist, um dort seine Werke bekannt zu machen. Auch war Villa-Lobos, anders als Gaito, Nin und Ponce, Autodidakt. So verschieden die Ausbildungswege der einzelnen Komponisten sein mochten: Einig waren sie sich in der Wertschätzung der Folklore als Inspirationsquelle. Ponce und Villa-Lobos hatten bei einer Begegnung in Paris während der 1920er Jahre Gelegenheit, dies einander persönlich zu bestätigen. Auch die beiden zeitgenössischen Komponisten, der Chilene Luis Saglie (* 1974) und der Mexikaner José Elizondo (* 1972), sehen sich offensichtlich in dieser Tradition. Zudem hat es beide, wie ihre Kollegen aus der Vergangenheit, in die weite Welt gezogen: Elizondo, der auch als Mathematiker und Ingenieur Ansehen genießt, studierte in Boston und New York; Saglie wirkte nach Studien in Wien und Los Angeles als Kompositionslehrer und Dirigent in Ecuador und Chile, und ist derzeit in Sidney tätig.

Zu Beginn des Programms erklingt das Stück, das der CD den Namen gab, Villa-Lobos‘ O Canto do cisne negro. Dieser „Gesang des schwarzen Schwans“ war ursprünglich der Schlussteil der Symphonischen Dichtung Naufrágio de Kleónikos (Der Schiffbruch des Kleonikos), ist jedoch in sich selbst so sehr geschlossen, dass er problemlos als eigenständiges Stück aufgeführt werden kann. Raffinierte Einfachheit zeichnet diese langgestreckte Moll-Melodie aus, die ihre Frische und Farbigkeit, ihre sanft schwebende Bewegung, durch gezieltes Umgehen konventioneller Funktionsharmonien gewinnt. Fortwährend betont der Komponist die kleine Septime, doch führt nie ein gewöhnlicher Dominantklang zur Tonika zurück. Wenige chromatische Einfügungen und Alterationen an entscheidenden Stellen der Melodielinie intensivieren den Ausdruck. So, wie Nicole Peña Comas diese Melodie spielt, kann man tatsächlich von einem instrumentalen Gesang sprechen. Mit dezentem Vibrato lässt sie sie leicht an- und abschwellen, gestaltet die einzelnen Phrasen wie Atembögen eines Sängers. Hugo Llanos Campos hat hier zwar nur auf- und absteigende Akkordbrechungen zu spielen, weiß aber, gleich seiner Partnerin, den langen melodischen Atem, der dieses Figurenwerk trägt, herauszuarbeiten. Bezaubernd gelingt ihm das Ritardando über dem langen Schlusston des Cellos. Man merkt, dass auch das Klavier ausatmet.

Hört man Constantino Gaitos Cellosonate op. 26 und schaut danach auf die Spieldauer, glaubt man kaum, es mit einem Werk von bloß 16 ½ Minuten zu tun gehabt zu haben. Der Komponist hat in dieser kurzen Zeit so viele prächtige Einfälle untergebracht, dass die Sonate (ähnlich wie manche Werke von Haydn oder Brahms) deutlich umfangreicher wirkt als sie ist. Gaito ist ein Meister harmonischer Verknüpfungen und liebt modale und chromatische Einfärbungen, vgl. etwa das dorisch anhebende Hauptthema des langsamen Satzes. Rhythmik und Metrik weiß er stets lebendig zu halten. So intensivieren zahlreiche Synkopen die in den Ecksätzen unterschwellig durchweg präsente tänzerische Bewegung. Eine einheitliche Haupttonart gibt es nicht: Die drei Sätze stehen in f-Moll, d-Moll und c-Moll und enden alle in der entsprechenden Dur-Tonart. Den Zusammenhalt stiftet der Komponist durch zyklische Wiederkehr des Kopfsatz-Hauptthemas als Schlussgruppenmotiv des zweiten und, zu quasi-orchestraler Pracht gesteigert, in der Coda des dritten Satzes. Dieses Meisterwerk, das sich vor keiner der großen Sonaten des europäischen Repertoires zu verstecken braucht, ist bei Peña Comas und Llanos Campos optimal aufgehoben. Der dialogisierende Tonsatz Gaitos, der Violoncello und Klavier gleichermaßen anspruchsvolle Aufgaben stellt, kommt in ihrer Darbietung trefflich zur Geltung, wie auch beider Sinn für kantablen Vortrag jede Melodie des Stückes belebt.

Luis Saglies Se juntan dos palomitas (Zwei Täubchen kommen zusammen) gehört zu den 2 Canciones para Violeta, einer Hommage an die große chilenische Volkssängerin Violeta Parra (1917–1967). Das gleichnamige Lied Parras arbeitet Saglie zu einer kleinen Fantasie für Cello und Klavier aus. Er fügt der Melodie reizvolle Begleitharmonien und Gegenstimmen hinzu, verteilt sie auf beide Instrumente und schafft ein ebenso anmutiges wie durch seine schlichte Schönheit berührendes Duo-Stück.

In José Elizondos Otoño en Buenos Aires (Herbst in Buenos Aires), einem Stück aus seiner Sammlung Danzas latinoamericanas, ist Nicole Peña Comas allein zu hören. Sie musiziert gewissermaßen im Duett mit sich selbst, denn der Komponist erzeugt durch Andeutung polyphonen Satzes und geschickte Lagenwechsel den Eindruck, als spielten mehrere Instrumente. Für die Cello-Solo-Literatur ist dieser kleine Tanz mit seinen straffen Tango-Rhythmen, der dennoch den Eindruck innerer Ruhe und Vergeistigung erweckt, jedenfalls ein Gewinn.

Dass die Musik seines Freundes Maurice Ravel, der selbst freilich von spanischer Volksmusik deutlich beeinflusst war, einen großen Eindruck bei Joaquín Nin hinterlassen haben muss, lässt sich aus seiner Seguida Española (Spanische Suite) heraushören. Die vier kurzen Sätze, die sämtlich auf Volksmelodien basieren, sind der Ästhetik des französischen Impressionismus verpflichtet und bieten differenzierte Klangkunst bei betont ausgespartem Tonsatz. Häufige Quint-Oktav-Parallelen und diatonische Dissonanzen dienen als Farbtupfer in einem musikalischen Plein-air-Gemälde. In diesem Stück ist vor allem das Talent der Musiker gefragt, Atmosphäre zu erzeugen, Klangräume sich auftun zu lassen. Auch dies gelingt Peña Comas und Llanos Campos vorzüglich. Die beiden langsamen Sätze strahlen große Ruhe aus, die beiden raschen geraten zu Bildern ausgelassenen Volkslebens.

Manuel María Ponces viersätzige Cellosonate in g-Moll beschließt das Programm. An Wert kommt sie der Sonate Gaitos nahe, stilistisch unterscheiden sich beide Stücke beträchtlich. Auch Ponce verfügt über eine blühende Erfindungsgabe im Harmonischen. Während jedoch Gaito die Sonatenform als verdichtete musikalische Handlung auffasst, gestaltet Ponce die einzelnen Perioden seiner Sätze als ausgedehnte, deutlich voneinander abgesetzte Flächen. Zudem findet sich in seiner Sonate, dem ziemlich ausgedehnten Fugato im Finale zum Trotz, insgesamt weniger polyphones Ineinandergreifen der Stimmen. Viel lieber schichtet Ponce rhythmisch kontrastierende Ebenen übereinander und entwickelt seine Formen durch Umschichtung derselben, wie man gleich zu Beginn des ersten Satzes hören kann: Das Klavier wiederholt beständig ein Synkopenmotiv (man geht wohl nicht falsch, darin die Imitation von Kastagnetten zu hören), während im Cello das langgestreckte Hauptthema erklingt; nach Abschluss dieser Periode tauschen die Instrumente die Rollen. Höchst bemerkenswert erscheint in dieser Hinsicht der „in der Art einer Etüde“ geschriebene zweite Satz. Hier haben die Musiker in der Regel drei verschiedene rhythmische Schichten zu beachten, wobei die konsequent durchgehaltenen Sechzehntelquintolen zu den übrigen Ebenen scharf kontrastieren. Der langsame Satz bezaubert durch seine schweifende, sich lange einer eindeutigen tonalen Festlegung entziehende Harmonik. Ein Finale, das seiner Überschrift „Allegro burlesco“ alle Ehre macht, bringt die von Peña Comas und Llanos Campos von Anfang bis Ende hingebungsvoll musizierte Sonate zum krönenden Abschluss und beendet damit ein Album, das ohne Einschränkung empfohlen werden kann.

Das Beiheft beschränkt sich auf die Künstlerbiographien und ein kurzes Vorwort von Nicole Peña Comas. Der einzige Schönheitsfehler der Produktion hat nichts mit den Werken selbst und ihrer Aufführung zu tun: Einige Pausen zwischen den einzelnen Programmnummern sind zu kurz geraten, sodass die Stücke von Saglie, Elizondo und Nin beinahe attacca aufeinander folgen.

[Norbert Florian Schuck, Januar 2021]

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