Stanfords unterschätzte Kammermusik

Capriccio C5381; EAN: 8 45221 05381 3

Quasi als Visitenkarte des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin scheint das Label Capriccio eine neue CD mit Quintetten des irisch-stämmigen Komponisten Charles Villiers Stanford vermarkten zu wollen, da, abgesehen vom Berliner Pianisten Nikolaus Resa, sämtliche beteiligten Musiker Mitglieder des Orchesters sind. Eingespielt wurden Stanfords großformatiges Klavierquintett d-Moll op. 25 sowie zwei der späten Fantasien für Streichquartett plus Horn bzw. Klarinette. Diese wertvolle Kammermusik ist auch auf Tonträgern kaum angemessen vertreten, so dass eigentlich jede Neueinspielung willkommen sein sollte.

Angesichts der Tatsache, dass der aus Dublin stammende Charles Villiers Stanford (1852–1924) im Grunde die halbe nachfolgende britische Komponistengeneration ausgebildet hat – darunter Bridge, Holst, Vaughan Williams, Ireland, Howells und Coleridge-Taylor, um nur ein paar zu nennen –, und seine eigenen Kompositionen zu Lebzeiten von den namhaftesten Künstlern gespielt wurden, ist es kaum verständlich, dass diese Musik schon ab dem Ersten Weltkrieg schnell in Vergessenheit geriet. Auf dem Kontinent hatte Stanford eh nie richtig Fuß fassen können – trotz bedeutender Fürsprecher: allen voran Joseph Joachim und Hans Richter. Aber selbst Richter hat hier regelmäßig lediglich einige der sechs Irischen Rhapsodien Stanfords dirigiert, von seinen sieben ausgezeichneten Symphonien hingegen nur die dritte („Irische“). Joseph Joachim, der viel in England unterwegs war, förderte Stanford bereits ab 1875, und war schon im Vorfeld neugierig auf das ausladende Klavierquintett d-Moll von 1886 – das Booklet liegt hier mit 1887 falsch. Mehrere von Stanfords acht Streichquartetten erfuhren erst kürzlich ihre Ersteinspielung.

Es sind vor allem deutsche Einflüsse, die zumindest Stanfords Instrumentalstil geprägt haben. Hatte der in einer musikalischen Familie aufgewachsene Ire ab 1870 zunächst in Cambridge studiert, verbrachte er 1874 und die beiden Folgejahre jeweils zur Hälfte in Deutschland – seine Lehrer waren hier Carl Reinecke in Leipzig und Friedrich Kiel in Berlin. Der reisefreudige Brite kam dann auch schnell in Kontakt etwa zu Brahms oder Offenbach. So verwundert es kaum, dass unter zahlreichen Aspekten die Klavierquintette seiner beiden, großen Vorbilder – Schumann und Brahms – Pate für Stanfords Gattungsbeitrag gestanden zu haben scheinen. Unter der halbwegs ruhigen, aber stets dunklen Oberfläche des 13-minütigen Kopfsatzes brodelt es gewaltig. Strukturell klar, dabei enorm beziehungsreich, ist dies über Strecken emotionaler als Brahms, vom Klang gleichermaßen orchestral – als Kammermusik ebenso noch Schumann verpflichtet. Das Scherzo im 9/8-Takt (eine Jig) überrascht vor allem durch nervöse, rhythmische Verschiebungen und ein verhaltenes, volksliedhaftes Trio als Ausgleich. Melodisch voller gelungener Wendungen, von deren eine (zufällig?) ein wenig an Mendelssohns Hochzeitsmarsch erinnern mag, hellt sich im Adagio espressivo die Stimmung langsam auf. Das Finale (D-Dur) schließlich verströmt erfrischende, selbstsichere Heiterkeit. Großartige Musik, die zudem – gerade im Vergleich zu Brahms‘ f-Moll-Quintett – wegen ihres deutlich leichter „greifbaren“ Klaviersatzes recht problemlos zu realisieren ist.

Nikolaus Resa und die vier Mitglieder des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin – Anne Feltz, Brigitte Draganov, Alejandro Regueira Caumel und Georg Boge – legen eine klanglich sensible, durchsichtige und agogisch vollends natürliche Darbietung hin, die allerdings die Brahms-Nähe fast überbetont. Obwohl sie in allen vier Sätzen teils nur um jeweils wenige Sekunden langsamer sind als die Vergleichsaufnahme mit Piers Lane und dem RTÉ Vanbrugh Quartet, wirkt diese um die entscheidende Spur aufregender, engagierter und – gerade im Scherzo – spritziger. Der Neuaufnahme merkt man diesen leichten Hang zur Behäbigkeit jedoch nur stellenweise wirklich an; als Plädoyer für ein wirklich repertoirebereicherndes, umfängliches Klavierquintett leisten die fünf Berliner Musiker allemal gelungene Überzeugungsarbeit.

Die beiden Fantasien für Streichquartett plus Horn (a-Moll) bzw. Klarinette (F-Dur) – für letztere Besetzung existiert noch eine weitere – sind echte Spätwerke (1922); und hier zeigt sich, dass die ungebrochen konservative, spätromantische Haltung des Komponisten schon damals als nicht mehr zeitgemäß empfunden wurde, so dass diese Stücke bislang ungedruckt blieben. Vor allem die Hornfantasie bietet wenig Möglichkeiten solistischer Entfaltung; das ist eher ein Streichquartett mit obligatem Horn als ein Solostück mit Begleitung. Feinsinnige und stimmungsvolle Musik gibt es da auf jeden Fall zu hören – für uns heute vielleicht einfach herrlich altmodisch. Dániel Ember und Christoph Korn spielen die beiden etwas zu langen Preziosen mit Charme. Leider nivelliert die ziemlich schwammig und zu wenig präsent klingende Aufnahme – obwohl in der für ihre gute Raumakustik berühmten Jesus-Christus-Kirche entstanden – die Bemühungen der Musiker um Durchsichtigkeit. Hier konnte die Hyperion-Einspielung aber ebenso wenig punkten. Im Booklet gibt es zwar umfängliche Künstlerbiographien – erstaunlicherweise auch vom als Ganzes gar nicht beteiligten Orchester. Die Anmerkungen zu Stanford und den Werken selbst sind dagegen ein wenig spärlich geraten. Trotzdem: Endlich mal ein deutscher Beitrag zur völlig unterschätzten Kammermusik Stanfords, die ganz eindeutig mehr Gehör verdient hat.

Vergleichsaufnahme (Klavierquintett): Piers Lane, RTÉ Vanbrugh Quartet (2004, Hyperion CDA67505)     

[Martin Blaumeiser, Januar 2022]

2 Gedanken zu „Stanfords unterschätzte Kammermusik

  1. „Der reisefreudige Brite“

    Als Ire ist man kein Brite. Großbritannien ist die Insel auf der sich England, Wales und Schottland befinden.

  2. Lieber Karsten!

    Wir freuen uns über Ihre aufmerksame Lektüre. Natürlich bezeichnet man heute keinen Iren mehr als Briten. Dennoch werden wir Martin Blaumeisers Formulierung stehen lassen, da eine Bezeichnung Stanfords als Briten, im Gegensatz zu einem heutigen Staatsbürger des unabhängigen Irland, sehr wohl möglich ist. Er starb 1924 als Angehöriger eines Staates, der noch bis 1927 „Vereinigtes Königreich von Großbritannien und Irland“ hieß (Irland hatte 1921 als „Irischer Freistaat“ die faktische Unabhängigkeit erreicht, erkannte aber noch den britischen König als Staatsoberhaupt an). Stanford verbrachte den Großteil seines Lebens in Großbritannien und befürwortete die Irisch-Britische Union. Er sah sich allem Anschein nach sowohl als Iren, als auch als Briten.

    Die Encyclopedia Britannica (die freilich ein britisches Werk ist) nennt ihn einen „British composer“ und differenziert im entsprechenden Artikel zu „Anglo-Irish composer“:

    https://www.britannica.com/biography/Charles-Villiers-Stanford

    Mit freundlichen Grüßen
    Ihre Redaktion von „The New Listener“

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