Hochemotional und kultiviert: Simone Young dirigiert beim BRSO Werke der Zweiten Wiener Schule

Im Konzert des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks am 15. Mai 2025 erklangen in der Isarphilharmonie unter Leitung der exzellent vorbereiteten Simone Young drei Meilensteine der Neuen Wiener Schule: Anton Weberns „Fünf Stücke für Orchester op. 10“, Alban Bergs „Drei Orchesterstücke op. 6“ und Alexander Zemlinskys „Lyrische Symphonie“ – mit der Sopranistin Maria Bengtsson sowie dem Bariton Michael Volle.

Maria Bengtsson, Simone Young und Michael Volle mit dem BRSO © BR/Astrid Ackermann

Christopher Mann nennt in seiner Einführung mit der schon dabei gut aufgelegten australischen Dirigentin Simone Young sogleich den Namen, der über allen folgenden Darbietungen schwebt: Arnold Schönberg. Als Schüler und späterer Schwager Alexander Zemlinskys (1871–1942) gilt er ja als Begründer der Zweiten Wiener Schule; und er war wiederum Lehrer von Anton Webern (1883–1945) und Alban Berg (1885–1935). Die drei Werke des Abends entstanden innerhalb von nur 12 Jahren – zwischen 1911 und 1923 – und sind relativ selten zu hören: Weberns Fünf Stücke für Orchester op. 10 wegen ihrer minimalistischen Besetzung kaum in Programmen mit großen Klangkörpern, Bergs Drei Orchesterstücke op. 6 genau umgekehrt wegen des geforderten Riesenapparats, und Zemlinskys Lyrische Symphonie hat an diesem Donnerstag gar ihre Erstaufführung beim BRSO.

Weberns Orchesterminiaturen op. 10 (1911/13) sind quasi ein Gegenentwurf zu seinen großbesetzten 6 Orchesterstücken op. 6, die wiederum Vorbild für Berg waren. Von den gut 20 Instrumenten – darunter allerdings Exoten wie Mandoline, Celesta oder Röhrenglocken – erklingen oft nur wenige gleichzeitig. Der klangliche Reichtum und die Konzentration des Ausdrucks der insgesamt (!) nur etwa fünf Minuten dauernden Stücke verlangt von den Musikern höchste Präzision und in einem so großen Saal extrem gutes Aufeinander-Hören. Simone Young – u. a. zehn Jahre GMD an der Hamburgischen Staatsoper – zeigt, nur hier ohne Taktstock, alles genauestens an, insbesondere die sehr delikat auf den Raum abzustimmende Dynamik. Die erstaunlich phantasievollen, knappen musikalischen Gesten werden so zu echten Kabinettstückchen. Einfach grandios, wie man in der Isarphilharmonie etwa am Schluss des dritten Stücks die große Trommel im ppp mehr über den Solarplexus als über das Gehör wahrzunehmen glaubt. Aber verglichen mit dem, was danach kommt, ist dies natürlich nur ein Appetizer.

Bergs Drei Orchesterstücke op. 6 – vollendet unmittelbar bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs – warten nun mit einem Orchester auf, das selbst Mahlersche Dimensionen zu sprengen scheint. Sie sind vielleicht der Inbegriff des musikalischen Expressionismus, von ihrer emotionalen Intensität wie von der strukturellen Komplexität her, die keine „Füllstimmen“ kennt: Alles hat thematisch-motivisches Gewicht und stellt Dirigenten bei der Herstellung einer dynamischen Balance, die sowohl die Details hörbar macht, zugleich die Schichtungen von Haupt- und Nebenstimmen verständlich abbildet, vor bis dato völlig unbekannte Probleme. Zudem sind schon die rein instrumentalen Anforderungen an sämtliche Spieler exorbitant: Die 1. Posaune z. B. beginnt direkt mit einem hohen es“. Rhythmisch wird es ebenfalls dicht, obwohl keine Orgie an Taktwechseln notiert ist, wie etwa in Strawinskys Sacre. Frau Young koordiniert dies alles nicht nur perfekt, sondern geht auch emotional mit, ohne je übers Ziel hinauszuschießen: zutiefst beeindruckend. Alles bleibt klar, sieht immer geschmeidig aus, und mit der linken Hand gibt die Dirigentin nicht nur alle wichtigen Einsätze, sondern klug disponierend stets sehr deutliche dynamische Impulse. Die instrumentale Virtuosität und Empathie der Musiker des BRSO wird dem in jeder Weise gerecht. Vom anfangs noch wie in Schleier gehüllten Präludium über den unwirklichen Reigen streift der Zuhörer fast wie ein Voyeur in einem von Wänden unbehinderten Flug quer durch verschiedenste morbide Tanzböden, wo Walzer- und Ländler-Fetzen nur momentweise und perspektivisch verzerrt erscheinen, dabei längst keine fin-de-siècle Hochstimmung mehr aufkommen mag. Der Marsch schließlich wird zum reinen, gewalttätigen Horrortrip: wie eine Vision der noch ungeahnten Gräuel des beginnenden Krieges. Und hier darf der mörderische Holzhammer aus Mahlers Sechster tatsächlich dreimal aktiv werden – bis zum bitteren Ende. Wie kultiviert und farbig das dann trotzdem klingt, ist an diesem Abend schon ein kleines Wunder, das sofort erste Bravorufe provoziert.

Vor gut einem Jahr litt das Münchner Rundfunkorchester bei Zemlinskys Lyrischer Symphoniewir berichteten – unter Sänger-Absagen und unglücklichem Timing: nur einen Tag nach dem Jubiläumskonzert des BRSO. Dieses konnte nun unter optimalen Bedingungen seine erste Bekanntschaft mit dem lange unterschätzten Stück machen, das erst seit den 1980er Jahren als gleichrangig zu Mahlers Lied von der Erde anerkannt wird. Liegt die Gemeinsamkeit in der Verwendung asiatischer Dichtung, – hier des Bengalen Rabindranath Tagore – zielt Mahlers Vertonung mehr auf Weltschmerz, Zemlinskys imaginäre Liebesgeschichte hingegen auf ein wenig stereotype psychologische Innenwelten von Mann und Frau, jedoch als Individuen. Zemlinsky ging indes nicht den Weg Schönbergs und seiner Schüler in die Zwölftontechnik mit. Das BRSO unter Simone Young bringt den orchestralen Farbreichtum der tonalen, harmonisch zwischen Modalität und sensibler Chromatik pendelnden Partitur, an faszinierend schönen Details noch über Mahler oder Berg hinausgehend, in voller Pracht zur Geltung. Dabei trägt der große symphonische Bogen über das gesamte Werk. Ausdruck, Tempi, sehr differenzierte, bewusste Agogik und Balance stimmen auf den Punkt. Das übertrifft die gute Aufführung des Rundfunkorchesters dann doch nochmals spürbar.

Michael Volle erfasst als Heldenbariton ohne Sentimentalität und Pathos, aber mit Bestimmtheit und guter Textverständlichkeit, die Vorgaben des Komponisten exakt: Bis zum Schluss „ist der tiefernste, sehnsüchtige, doch unsinnliche [!] Ton des ersten Gesanges festzuhalten.“ Die Ausdruckswelten der Frau sind vielschichtiger und extremer. Dafür reicht der von Zemlinsky angedachte jugendlich-dramatische Sopran der jungen Schwedin Maria Bengtsson nicht ganz aus. Bei „Mutter, der junge Prinz…“ fehlt ihr schlicht das stimmliche Fundament und die Genauigkeit der Artikulation, um über das schillernde Orchester herüberzukommen. Hierzu bräuchte es wohl doch eine Strauss-Stimme, die eher Salome oder die Kaiserin als die Marschallin beherrscht. Da dem Rezensenten Michael Volles Stimme von Opern- und Konzertbühne gut vertraut ist, und dessen Timbre hier ebenso heller wirkt als „normal“, mag daran freilich die Akustik des HP8 mal wieder eine gewisse Mitschuld haben. Im musikhistorisch nachwirkenden vierten Gesang „Sprich zu mir, Geliebter“ wird sowohl der Sopranpart auch das Violinsolo besonders zärtlich und mit Wärme gestaltet, vielleicht ein wenig zu passiv und verhalten. Das ist jedoch anscheinend das Konzept der Dirigentin, die bei der umsichtigen Begleitung der Gesangssolisten ihre lange Opernerfahrung gekonnt einbringt. Absolut ergreifend gelingt Bengtsson dann ihr letzter Gesang „Vollende denn das letzte Lied“ mit seinen bereits nicht mehr tonalen, eiskalten Linien, wo sie glaubwürdig voll aus sich herausgeht. Die nächtlichen Klangfarben des einsamen Endes in ihrer fantastischen Instrumentation – die letzte Partiturseite ist ein Wunderwerk – gelangen mit der großen Streicherbesetzung wirklich zauberhaft ans Publikum.

Insgesamt ein selbst für BRSO-Verhältnisse außergewöhnlich gelungener Abend, der mit begeistertem Applaus für alle Ausführenden honoriert wird. Diejenigen Abonnenten, die dem Konzert – wegen des vermeintlich anstrengenden Repertoires? – ferngeblieben waren, haben da leider eine Weltklasse-Leistung verpasst.

[Martin Blaumeiser, 16. Mai 2025]

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