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Ein unterschätztes Genie

Joseph Martin Kraus, Aufnahmen von 1991 bis 2007; Amphitryon   Kantaten   Sinfonien   Kammermusik

Capriccio C7325

Hätte es Mozart nicht gegeben, Joseph Martin Kraus gehörte heute selbstverständlich zu den ganz Großen der klassischen Musik. Aber so wird er immer mit dem Götterliebling verglichen und dadurch ist sein Nachruhm – wenigstens bei uns in Mitteleuropa – der Qualität nicht angemessen. Seine Übersiedelung nach Stockholm, dem guten Ruf des höchst musischen damaligen schwedischen Königs Gustav III. folgend, wozu ihm ein Studienkollege geraten hatte, bezahlte er erst einmal mit einer langen Durststrecke, bis seine erste Oper „Proserpina“ ihm den gewünschten Erfolg und die Stellung als Hofkompositeur eintrug. Bei steigernder Arbeitsbelastung komponierte er dennoch unaufhörlich. Seine Schwindsucht, die schon sehr früh auftrat, setzte seinem jungen Leben (er teilt mit Mozart das Geburtsjahr 1756) 1792 ein Ende, kurz nachdem im selben Jahr auch sein Gönner – Schwedens König – nach dem berühmten Attentat im März 1792 verstorben war. Für sein Begräbnis hatte er noch eine dreisätzige Trauersymphonie geschrieben in c-Moll, von der ein Hörer schrieb, dass diese Musik die wahre Trauer verhindert habe durch ihre hohe Kunst.

In dieser CD-Box sind Teile aus den Intermezzi zu Molières „Amphitryon“ enthalten, weltliche Kantaten nach Texten von Metastasio, acht seiner 14 Symphonien und zwei Streichquartette samt einem Flötenquintett enthalten. Jeder Hörer kann sich also ein eigenes Hör-Bild davon machen, wie die Musik des Zeitgenossen von Mozart ihn berührt und bewegt.

Ich beschränke mich hier auf die beiden ersten CDs, denn die anderen sind in anderer Form schon früher erschienen.

Die weltlichen Kantaten singt die Sopranistin Simone Kermes, Dirigent ist Werner Erhardt mit dem Ensemble Köln. So virtuos diese Musik komponiert ist und gesungen wird, ist sie doch auf die Dauer einer ganzen CD – trotz der eingeschobenen instrumentalen Zwischenspiele – etwas ermüdend. Ein derart hoher – ich wage zu sagen: manchmal fast hysterischer in seinem exzessiven Vibrato –, an die Grenzen gehender Koloratursopran ist sowieso Geschmacksache, meine Liebe ist es eher weniger. Und natürlich hat Kraus diese Stücke für eine der berühmtesten zeitgenössischen Sängerinnen geschrieben, Lovisa (Sofia) Augusti (1756-1790), aber sicherlich nicht für die Aufführung von fünf dieser Kantaten hintereinander. Da ermüdet man einfach beim Zuhören. Selbstredend ist die Musik genial komponiert, auch ausgezeichnet realisiert und aufgenommen, der Einwand gilt also mehr der Dramaturgie und auch der Sängerin als dem Komponisten.

Dass Joseph Martin Kraus in allen Bereichen zu Hause war, zeigt sein Werkverzeichnis, das alle Sparten umfasst von der Oper bis zur Kirchenmusik, von leichten Singspielen über viele Lieder bis hin zu einer Menge Kammermusik, Symphonien und Konzerte. Dass er mit dem schwedischen Dichter-Musiker Carl Michael Bellman befreundet war, zeigt nicht nur die Musik zu mehreren Singspielen, sondern vor allem die schon zwei Monate nach Mozarts Tod entstandene „Trauerelegie auf Mozarts Tod“ vom Januar 1792, der vermutlich ersten musikalischen Antwort auf dieses Ereignis.

Die erste CD enthält also Intermedien und Divertissement zu Molières „Amphitryon“, die Kraus 1784 auf Wunsch Gustavs III. komponierte. Damals hatte er mit seiner Oper „Proserpina“ schon réüssiert, war ein gefeierter Komponist und begleitete seinen König kurz darauf auf einer ausgiebigen Europareise. Auch in dieser Musik kommt dem Sopran eine tragende Rolle zu, gesungen von Chantal Santon, den Tenorpart singt der schon von anderen Aufnahmen bekannte Tenor Georg Poplutz, der Bonner Kammerchor ist mit von der Partie und wieder dirigiert Werner Ehrhardt das Concerto Köln. Sehr melodisch und natürlich tonal ist diese Musik – Kraus hat sich in seinen Klaviersonaten auch sehr weit in die Chromatik gewagt –, und sie wird seinem König sicher nicht missfallen haben. Denn was da an feinster Instrumentation zu hören ist, ist aufregend, und die immer vorhandene Leichtigkeit dieser Musik beschreibt sein Schüler Pehr Frigel (1750-1842) – nachzulesen im vorzüglichen Booklet – wie folgt: „….eine Arbeit, wo sich all das findet, was an Spielerischem, Naivem, Neuem, Feurigem und Gefälligem komponiert werden kann. Man war nun verwundert zu sehen, dass Kraus‘ Genius sich nicht nur auf das Traurige, das Chromatische beschränkte, sondern dass er ebenfalls ein Meister des Heiteren und des Strahlenden war.“

Kurzum, diese fünf CDs bieten eine – noch dazu recht preiswerte und vorzüglich aufgenommene – Möglichkeit, die Musik dieses Meisters, der vor allem Christoph Willibald Gluck (1714-1787) zu seinen Vorbildern zählte, den aber auch Joseph Haydn schätzte, zu erleben und sich sein eigenes Urteil darüber zu bilden.

[Ulrich Hermann, Juli 2019]