Unter dem Motto Französische Violin-Welten fand am 16. Oktober 2025 im Großen Sendesaal des ORF RadioKulturhauses Wien ein Kammerkonzert mit Duo-Kompositionen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts statt. „Französisch“ war hier im weitgefassten Sinne zu verstehen, denn es standen ausschließlich Werke französischsprachiger Belgier auf dem Programm. Freilich: César Franck lebte als naturalisierter französischer Bürger in Paris, wo er als Lehrmeister zwei Generationen französischer Komponisten ausbildete. Auch Guillaume Lekeu, Schüler Francks, verbrachte den letzten Abschnitt seines viel zu kurzen Lebens, in dem er seine bedeutendsten Werke schrieb, in Frankreich. Rémy Ballot (Violine) und Anika Vavić (Klavier) brachten an diesem Abend die Violinsonaten Francks und Lekeus zur Aufführung, die beide für den dritten Komponisten des Programms geschrieben wurden, den großen Violinisten Eugène Ysaÿe. Von diesem erklang zu Beginn das kurze Charakterstück Rève d’enfant. Zwischen den beiden Sonaten spielten Rémy Ballot und seine Ehefrau Iris Ballot den langsamen Satz aus Ysaÿes Sonate für zwei Violinen.
Man hörte also ein stilistisch sehr einheitliches Programm. Die Musik des Abends entführte die Zuhörer in die Welt der Belle Epoque bzw. des Fin de Siècle, deren musikalischer Stil maßgeblich von César Franck geprägt wurde. Es ist die Zeit der opulent angereicherten Funktionsharmonik mit ihren raffinierten Alterationsakkorden, chromatischen Zwischentönen und Stellvertreterharmonien. Bei aller Modernität ihrer Musik haben sich die Komponisten der Franck-Schule, im Gegensatz zu den modernistischen Strömungen seit den 1920er Jahren, nicht als Bürgerschrecks inszeniert. Ihre Musik ist eine Spätblüte der Salon-Kultur des 19. Jahrhunderts. Die Ästhetik ist konziliant, verbindend ausgerichtet: Leidenschaft und Eleganz sind keine Gegensätze, Tiefgründigkeit und Schroffheit keine Synonyme; das Kunstfertige zeigt sich in anmutigster Gestalt (siehe den Kanon im Finale von Francks Sonate) und überall, im Heftigen wie im Ruhigen, strahlt die Musik eine einladende Wärme aus.
Zu diesem Eindruck trägt nicht zuletzt bei, dass viele Gedanken bei Franck, Lekeu und Ysaÿe vokal erfunden sind. Rémy Ballot trägt dieser Gesanglichkeit Rechnung, indem er ausgiebig Vibrato anwendet. Was ihn dazu bewegt ist Kunstverstand und Eigenverantwortung des Ausführenden bei der Verlebendigung der Musik, nicht Manierismus und Mode. Nachdem das Vibrato einige Zeit in gewissen Kreisen ziemlich verpönt gewesen ist, kommt es derzeit anscheinend als Mode und Manier wieder, mit der die Musik zugekleistert wird, ganz gleich, ob es passt oder nicht. Für Ballot ist es schlicht ein Kunstmittel, kein Selbstzweck. Er nutzt es, um Schattierungen zu schaffen und Binnenkontraste zu setzen, was sich gerade in der 40-minütigen Sonate Lekeus als vorteilhaft erweist. Je nach Situation im musikalischen Geschehen wendet er es stärker oder schwächer an. Ganz fremd ist ihm die übertriebene Emotionalisierung, der aufgesetzte Effekt, die Affektiertheit. Er entwickelt die Musik von innen her, dem Spannungsauf- und abbau der harmonischen Verhältnisse folgend. Ganz wunderbar gelingt ihm die allmähliche Entfaltung des Kopfsatzes der Franck-Sonate aus der Stille heraus!
Anika Vavić ist zweifellos eine ausgezeichnete Pianistin. Das Geburtstagskonzert für Kalevi Aho, das sie gemeinsam mit dem Ehepaar Ballot vor zwei Jahren in Wien gegeben hat, ist mir noch in guter Erinnerung. Leider war diesmal ihre Leistung nicht ganz so herausragend wie damals. Die Lekeu-Sonate wirkte nicht ausreichend durchdrungen, was anhand der ruhigeren Teile des Werkes deutlich wurde. Der aufgewühlte letzte Satz war nicht zu beanstanden. Diejenigen Abschnitte der beiden ersten Sätze, die im Klavier wenig figuriert sind, hätten dagegen mehr melodische Ausrichtung vertragen. Hier wirkte manches eher aneinandergereiht denn als tonsprachliche Sinneinheit erfasst. Vavićs Vortrag der Franck-Sonate litt nicht unter dieser Schwäche. Hier fanden Violine und Klavier zu einer gelungenen Darbietung zusammen.
Den Höhepunkt des Abends markierte der zweite Satz aus Ysaÿes Violinduo, ein 1915 entstandenes Stück, das stellenweise die Grenzen des Franckschen Idioms zum Impressionismus Debussys überschreitet. Das Zusammenspiel von Iris und Rémy Ballot ist in seiner makellosen Harmonie schlichtweg bewundernswert. Angesichts der Achtsamkeit, mit der sie einander die Motive hin- und herreichen und sich gegenseitig stützen und ergänzen, meint man, einen einzigen Menschen zugleich auf zwei Violinen spielen zu hören. Gern hörte man von den beiden nun auch die übrigen Sätze der Ysaÿe-Sonate!
[Norbert Florian Schuck, Oktober 2025]