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Belebende Gegensätze: Sergiu Celibidache dirigiert Haydn und Tschaikowskij

SWR Classic, SWR19118CD; EAN: 0747313911882

SWR Classic hat in den vergangenen Jahren zahlreiche Schätze aus den Archiven des Südwest-Rundfunks zu Tage gefördert. Ich erinnere nur an die 30-CD-Packung mit den gesammelten Einspielungen von Carl Schuricht und an die glücklicherweise immer noch fortschreitende Hans-Rosbaud-Edition, von welcher zuletzt hervorragende Aufnahmen mit Symphonien von Jean Sibelius und Werken französischer Komponisten erschienen sind. Mit der Veröffentlichung eines Studiokonzerts aus dem Jahr 1959 ist der Reihe ein weiteres Glanzstück hinzugefügt worden. Das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart spielt unter der Leitung von Sergiu Celibidache Joseph Haydns Symphonie B-Dur Hob. I:102 und Pjotr Iljitsch Tschaikowskijs Symphonie Nr. 6 h-Moll Pathétique.

Das Orchester, das Sergiu Celibidache am 17. September 1959 in der Villa Berg dirigierte, hat im Laufe seiner Geschichte mehrfach den Namen gewechselt. 1946 als „Großes Orchester von Radio Stuttgart“ ins Leben gerufen und seit 1949 als „Sinfonieorchester des Süddeutschen Rundfunks geführt“, war es wenige Monate vor dem auf der vorliegenden CD festgehaltenen Konzert in „Südfunk Sinfonieorchester“ umbenannt worden. Den Namen „Radio-Sinfonieorchester Stuttgart“, unter dem es heute vor allem bekannt ist, erhielt es 1975. Durch die Fusionierung zum SWR Sinfonieorchester 2016 beendete der Südwestrundfunk die Geschichte seiner Stuttgarter und Freiburger Orchester als eigenständige Klangkörper. Wie die Rosbaud- und Schuricht-Veröffentlichungen, lässt sich also auch diese Celibidache-CD als musikalisches Denkmal begreifen.

Mit Celibidache verband das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart eine langjährige Zusammenarbeit. Er stand zum ersten Mal 1958 an der Spitze des Orchesters, und kehrte bis 1982, als er sich mit der Übernahme der Münchner Philharmoniker erstmals seit drei Jahrzehnten wieder fest an ein Orchester band, immer wieder nach Stuttgart zurück. Die Verbindung intensivierte sich in den 70er Jahren. Von 1972 bis 1979 war Celibidache ständiger Gastdirigent des Radio-Sinfonieorchesters, das damals keinen Chefdirigenten hatte, und fungierte als dessen künstlerischer Leiter. Da das Orchester als Rundfunkklangkörper, dessen Schwerpunkt auf nicht alltäglichem Repertoire lag, dem Dirigenten viel Einstudierungszeit zur Verfügung stellen konnte, fand Celibidache hier optimale Arbeitsbedingungen vor, um seine künstlerischen Ziele zu realisieren. Bekanntlich nicht an der Produktion von Tonträgern interessiert, duldete Celibidache aber, dass der Rundfunk seine Konzerte aufzeichnete, um sie gelegentlich senden zu können. Mitschnitte zahlreicher Aufführungen aus dieser Zeit (z. B. Symphonien von Bruckner und Brahms, Tondichtungen von Richard Strauss) wurden nach dem Tode des Dirigenten von der Deutschen Grammophon veröffentlicht. Aufzeichnungen von Proben, die den Editionen beigegeben wurden, dokumentieren die äußerste Sorgfalt, mit der Celibidache bei den Einstudierungen zu Werke ging, und die Hingabe, mit der die Stuttgarter Musiker seine Anweisungen in Klang umsetzten.

Mit der neuen SWR-Classic-CD wird dem Bild, das uns die früheren Veröffentlichungen von Celibidaches Wirken in Stuttgart vermittelten, ein weiterer wichtiger Mosaikstein hinzugefügt. Die Platte bietet ein ganzes Konzert des damals 47-jährigen Dirigenten. Es umfasst, wie es Celibidache gerade zu jener Zeit liebte, mit Joseph Haydns B-Dur-Symphonie Hob. I:102 und Pjotr Tschaikowskijs Pathetique zwei Werke, die unterschiedlicher kaum sein könnten: ein Programm extremer Kontraste. Celibidache war keiner jener Dirigenten, die glaubten, durch einseitige Überbetonung bestimmter Aspekte den Charakter eines Werkes besonders deutlich machen zu können, oder gar an den Stücken einen persönlichen Interpretationsstil demonstrieren zu müssen. Solche Darbietungsweisen, die letztlich den Beigeschmack der Einseitigkeit hervorrufen, haben ihn nie interessiert. Stattdessen sichtete er die Partituren phänomenologisch, indem er die Fortschreitung der Harmonien verfolgte, der Beschaffenheit des Tonsatzes auf den Grund ging, die Phrasierung der melodischen Linien in Haupt- und Nebenstimmen bis ins kleinste Detail nachvollzog und über all dem nie vergaß, dass Instrumente Stellvertreter menschlicher Stimmen sind. Seine Dirigate vermitteln den Eindruck eines zwanglosen Entfaltens der in den Partituren angelegten Kräfte, denen nichts von außen hinzugefügt werden muss, um sie zur Wirkung zu bringen.

Und was fördert Celibidache auf diese Weise nicht alles zu Tage! Beide, Haydn und Tschaikowskij, stehen als runde Charaktere vor uns, als scharf profilierte Persönlichkeiten, die man nicht auf wenige Schlagworte reduzieren kann. Natürlich ist Haydn auch unter Celibidache geistvoll, witzig, von nie nachlassendem Spieltrieb durchdrungen, aber bereits die sehr breit genommene Einleitung des ersten Satzes verrät, dass dem Komponisten das Feierliche und Erhabene durchaus vertraut gewesen ist. Die liebevoll ausmusizierten Sechzehntelnoten in breit schwingendem 3/4-Takt verleihen dem langsamen Satz eine Stimmung apollinischer Gelassenheit. Der hervortretende Trompetenton kurz vor seinem Ausklang wird nicht zum groben Effekt, sondern sendet sanftes Licht von innen. Die von langen Noten geprägten Takte in der Coda des Finales klingen wie ferne Choräle in den Trubel dieses Satzes hinein. Dass auch die turbulente Seite der Haydnschen Kunst in Celibidaches Händen bestens aufgehoben ist, davon zeugen etwa der äußerst markant herausgemeißelte Kanon in der Durchführung des Kopfsatzes und der unaufhaltsame Schwung des Finales.

Die bei EMI (später Warner) erschienenen Mitschnitte der letzten drei Symphonien Pjotr Tschaikowskijs mit den Münchner Philharmonikern dokumentieren, dass Celibidache wie kein anderer Dirigent berufen war, die ganze Größe dieses Symphonikers deutlich werden zu lassen. Vergleicht man die hier vorliegende Sechste mit der späteren Aufnahme, fällt zwar auf, dass der 80-jährige Celibidache sich gegenüber den knapp 50 Minuten der Stuttgarter Aufführung insgesamt 10 Minuten mehr Zeit nimmt, doch die Herangehensweise an die Musik ist im Wesentlichen gleich geblieben. Wir erleben denselben Menschen in unterschiedlichen Lebensphasen, aber stets seinen Prinzipien treu. Diese frühe Pathétique vermittelt unmissverständlich, nicht anders als die späte, wie schlüssig Tschaikowskij komponiert hat. Die extremen Tempo- und Ausdruckskontraste des Kopfsatzes, in welchem zudem mehrfach Themen eingeführt werden, die im weiteren Verlauf nicht wiederkehren, haben schon manchen Kapellmeister dazu verführt, das Stück als bloße Abfolge locker miteinander verbundener Episoden aufzufassen und entsprechend zerrissen darzubieten. Celibidache erkennt, wie eng aufeinander bezogen die einzelnen Abschnitte des Satzes sind, wie ihre stark gegensätzlichen Stimmungen einander gegenseitig beleuchten und wie durch diese Gegensätze die musikalische Handlung vorangetrieben wird. „Verweile doch, du bist so schön“, meint man es aus dem Seitensatz tönen zu hören, wenn der Dirigent in Übereinstimmung mit dem harmonischen Gefälle Phrasenenden leicht verlangsamt, um mit dem jeweils nächsten Phrasenanfang wieder ins Grundtempo zurückzukehren. Und ist dann scheinbar Ruhe eingetreten, bricht mit einer manischen Energie sondergleichen die Durchführung in die friedliche Szenerie herein wie die apokalyptischen Reiter. Das largamente forte possibile vor der Wiederkehr des Andante-Themas hat die Intensität eines alles mit sich reißenden Lavastroms. Aber nicht nur im Extremen ist Celibidache in seinem Element. Auch die feineren Schwankungen arbeitet er trefflich heraus. Man höre etwa im zweiten Satz, wie der Mittelteil durch die deutliche Hervorhebung der lastenden Blechbläsertöne und eine geringfügige Verlangsamung des Tempos einen ganz anderen Klang erhält als der lichte Hauptteil. Die Überleitung, die zu ihm zurückführt, wirkt wie ein erneutes Aufblühen nach vorübergehender Eintrübung. Das vielleicht Wunderbarste an dieser Tschaikowskij-Darbietung ist, dass man merkt, mit welchem Geschick der Komponist Neben- und Gegenstimmen eingesetzt hat. Celibidache hatte die Gabe, seinen Musikern eine konkrete Vorstellung von ihrer Rolle im Ganzen zu vermitteln. Nicht nur wer gerade das Thema hat, hat etwas zu sagen, sondern auch diejenigen, die es begleiten, oder die ihm einen Kontrapunkt zur Seite stellen. Man kann nahezu in jedem Moment darüber staunen, welch ein Leben hier in allen Stimmen pulsiert.

Es besteht also ein guter Grund, SWR Classic für die Veröffentlichung dieser CD dankbar zu sein. Da Haydns Symphonie Nr. 102 in den Celibidache-Editionen von Audite, Deutsche Grammophon und EMI/Warner fehlt, wird zudem eine diskographische Lücke geschlossen. Ein Begleittext, der ein lebendiges Bild von Celibidache als Mensch und Künstler vermittelt, rundet die Produktion trefflich ab.

Norbert Florian Schuck [Dezember 2022]