Fingerübung und Enzyklopädie

Cpo 555 169-2; EAN: 7 61203 51692

Vorliegende Doppel-CD beinhaltet alle 120 Präludien aus Carl Czernys Opus 300, der Kunst des Präludierens, gespielt von Kolja Lessing.

Klavierschüler kennen und fürchten Carl Czerny für seine schier nie enden wollende Vielzahl an stumpfen Fingerübungen, und dieses Bild hat sich bis heute in unsere Köpfe eingebrannt. Dahinter zurück bleiben teils bedeutende Werke aus seiner Feder wie die Klavierkonzerte oder zahlreichen Symphonien. Franz Liszt und Sigismund Thalberg wählten nicht umsonst Czerny als Lehrer: nicht die Virtuosität, sondern die dahinterstehende Kunst überzeugten sie.

Zu Czernys Lehrern wiederum zählten Ludwig van Beethoven, Muzio Clementi, Antonio Salieri und Johann Nepomuk Hummel, was auch die Vielfältigkeit seines Stils begründet. Czerny vermochte es, chamäleonartig zwischen den Klangwelten des Barocks, der Wiener Klassik und der beginnenden Romantik (bis hin zu Mendelssohn und Chopin) zu changieren, sie teils gar miteinander zu verschmelzen. In seinen größeren Werken erinnert er oftmals an die Musik von Hummel, die zwar vor virtuosen Höchstleistungen strotzen, welche allerdings nur selten dem reinen Selbstzweck dienen.

Als „musikalische Enzyklopädie in aphoristischer Konzentration“ beschreibt Kolja Lessing die Kunst des Präludierens op. 300 und vergleicht sie mit den etwa zur gleichen Zeit aufkommenden Wörterbüchern der Deutschen Sprache, vor allem demjenigen der Vorreiter Jacob und Wilhelm Grimm. Die Kunst des Präludierens aus der Feder Czernys umfasst insgesamt 120 Präludien, von denen viele nur wenige Sekunden dauern und manche sogar lediglich eine Modulation umspielen. Andere jedoch erstrecken sich über bis zu fünf Minuten (öfter jedoch zwei bis vier) und beinhalten ganze Kosmen en miniature, komprimierte Opernszenen inklusive Ouvertüre oder kurze Sonat(in?)ensätze. Czerny versetzt sich in die Rolle des musikhistorischen Beobachters und greift für seine Präludien gewisse Elemente vergangener Epochen heraus, barocke Sätze und Techniken, klassische Formen, frühromantische Verspieltheit und beginnende Erweiterungen der Tonalität. Oftmals winken uns Komponisten wie Bach, Mozart, Mendelssohn, Chopin und Paganini, teils wörtlich zitiert; manchmal ahnt man schon die späteren Techniken von Liszt vor.

Es gestaltet sich als schwierig, etwas Allgemeingültiges über dieses Sammelwerk zu sagen, da die Präludien nicht einheitlich zusammengehören, sondern die Vielfalt als Ästhetik sehen. Viele von ihnen dürften als reine Fingerübungen anzusehen sein, andere hingegen zeugen von inspiriertem Können. Ob nun die Kunst des Präludierens als Gesamtheit aufgenommen sich lohnt? Dies ist kaum zu beantworten: Eine kleine Auswahl der aussagekräftigen Präludien würde deren Präsenz besser unterstreichen und sie nicht in der Masse untergehen lassen; und doch offenbart uns der Blick auf die epochenübergreifende Stilvielfalt spannende Gegenüberstellungen, Kontraste wie Gemeinsamkeiten. Auch der Pianist Kolja Lessing schwimmt etwas in der Masse, kann die individuellen Merkmale der einzelnen Präludien nicht voll zur Geltung bringen. In den reinen Fingerübungen scheint er gar teils zu stolpern, während er den romantischen Präludien wenig Gefühl zu entlocken weiß. Lessing konzentriert sich auf die Wiedererkennbarkeit von Zitaten und dort blüht er auch auf, so beispielsweise im letzten Präludium mit der Quelle aus Bachs cis-Moll-Fuge aus dem Wohltemperierten Klavier Band I; auch die opernhaften Figuren lässt er aus den instrumentalen Tönen auferstehen und holt Bellinis Flair aufs Klavier.

[Oliver Fraenzke, Mai 2019]

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