Nordische Folklore und persönlicher Fingerabdruck

Toccata Classics, TOCN 0004; EAN: 5 060640 070042

Der Organist Gunnar Idenstam und der Nyckelharpa-Spieler Erik Rydvall führen den Hörer in die Welt der skandinavischen und estnischen Volksmusik ein. Neben traditionellen Melodien spielen sie auch neuere Stücke und improvisieren; die Arrangements stehen dabei nirgends geschrieben, sondern entstanden mehr oder weniger im Moment der Aufnahme.

Auf vorliegender CD erleben wir die nordische Welt gleichsam historisch wie zutiefst persönlich. Gunnar Idenstam und Erik Rydvall wählten sich einige traditionelle Melodien aus, die teils ins sechzehnte und siebzehnte Jahrhundert zurückreichen, und kombinierten sie mit neueren Kompositionen und eigenen Improvisationen, die jedoch stets in der Folklore verwurzelt bleiben. Die Aufnahme entstand in der Kathedrale von Kristiansand in Norwegen, deren neue Orgel erst 2013 von der deutschen Firma Klais erbaut wurde und einige Besonderheiten wie Glocken- und Wind-Register aufweist. Erik Rydvall spielt dazu die Nyckelharpa, ein mittelalterliches Instrument, das im siebzehnten Jahrhundert unerwartet und modifiziert in Schweden auftauchte, während seine Blütezeit auf dem Kontinent bereits abklang. Die Nyckelharpa, Schlüsselharfe, ist ein Streichinstrument, das Ähnlichkeiten zur Geige aufweise, dessen Saiten allerdings mit Tasten (‚Schlüsseln‘) niedergedrückt und somit verkürzt werden, was die Tonhöhe definiert. Resonanzsaiten und teils (vor allem bei alten Instrumenten) Bordunsaiten geben dem Instrument den charakteristischen, nachhallenden Klang. In Schweden hat das Instrument seit seinem Aufkommen eine lebendige Tradition und wurde im Laufe der letzten etwa achtzig Jahre deutlich weiterentwickelt.

Das spannende Element dieser Aufnahme liegt in der Symbiose aus jahrhundertelanger Überlieferung und persönlicher, spontaner Ausarbeitung auf modernen Instrumenten. So lebt gleichzeitig die Tradition weiter (und wird sogar auf CD festgalten) und bleibt doch neu wie unverbraucht. Den zahllosen Versuchen, nordische Volksmusik zu transkribieren, schlossen sich die Musiker dabei nicht an, sondern fokussierten sich auf mündliche Tradition, der sie neue Tänze hinzufügten.

Trotz aller oberflächlicher Einfachheit mit unermüdlich unverändert wiederkehrenden Themen und kleinem Ambitus herrscht ansprechende Komplexität vor, besonders im Bereich der Rhythmik: Duolen und Triolen stehen eng nebeneinander, Punktierungen verleihen zusätzliche Würze. Harmonisch schätzen die nordischen Länder besonders die große Septim, die immer wieder ein aufregendes Kribbeln verleiht, aber auch andere Dissonanzen werden gerne stimmig eingebunden. Manche der Werke dieser CD waren sicherlich genuin für die Nyckelharpa gedacht, andere haben ihren Ursprung wohl auf der Fiedel, beispielsweise der norwegischen Hardingfele, deren Klang heute vor allem durch Howard Shores Filmmusik zu Herr der Ringe vertraut erscheint. Doch Fiedelklänge lassen sich durch die anatomischen Ähnlichkeiten leicht auf der Harpa umsetzen. Die Orgel spielt ebenso eine Rolle in nordischer Folklore, nachdem die Länder teils gewaltsam christianisiert worden sind. In Liedtranskriptionen finden wir zahllose religiöse Lieder und Psalmen, viele große Volksmusiksammler waren selbst Organisten beziehungsweise komponierten auch Kirchenmusik; so beispielsweise die Lindeman-Dynastie.

Gunnar Idenstam hat Spaß daran, an der Orgel zu experimentieren und ihr einzigartige Klangkombinationen und Geräuscheffekte zu entlocken, die er stets in den Dienst der Musik stellt. Sein Hintergrund im Bereich der symphonischen Rockmusik bleibt dabei unverkennbar und so bringt er ein atmosphärisches Element mit in die Folklore. Erik Rydvall nutzt eben dies für seine Höhenflüge, bleibt parallel immer wachsam und aufmerksam auf seinen Mitspieler. Gemeinsam erschaffen sie funktionierende Formen und teils lange Spannungsbögen, haben Freude an den ungeraden Rhythmen und tänzerischen Elementen, werfen sich die Melodien einander zu und greifen sie auf. So entsteht ein vielseitiges, stimmiges und lebendiges Album, das uns in die Volksmusik einführt und zugleich ein persönlicher Fingerabdruck ist.

[Oliver Fraenzke, Juni 2019]

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