Nicolas Hodges überwältigt den Herkulessaal mit Rebecca Saunders‘ Klavierkonzert

Das letzte Konzert der musica viva Saison 24/25 am 23. Mai brachte Claude Viviers spätes Ensemblestück „Et je reverrai cette ville étrange“, Helmut Lachenmanns „Klangschatten – mein Saitenspiel“ und Rebecca Saunders‘ Klavierkonzert „To An Utterance“ mit einem überragenden Nicolas Hodges. Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks leitete Matthias Hermann.

Matthias Hermann und Nicolas Hodges mit dem BRSO © BR/Astrid Ackermann

Nicht ganz so gut besucht wie die Veranstaltungen zuvor, hatte das letzte Konzert der musica viva Saison 24/25 im Herkulessaal doch ein paar Schmankerl parat, die unterschiedlicher kaum sein konnten. Zweifellos war der gebürtige Kanadier Claude Vivier (1948–83) ein höchst unkonventioneller Künstler, der – zeitweise Schüler von Karlheinz Stockhausen – avantgardistische Moden oder Darmstädter Prämissen mutig über den Haufen warf und bald einem ganz eigenen Stil vertraute, der seinem Primat der Melodie in aufregender Weise Raum gab und damit auch seinen Hörern oft zu mystischer Versenkung verhalf.

Als Dirigenten hat man den Lachenmann-Schüler Matthias Hermann eingeladen, der vor zwei Jahren bei der Neufassung von My Melodies für den bereits erkrankten Peter Eötvös eingesprungen war (siehe unsere Kritik). Für Viviers Et je reverrai cette ville étrange von 1982 muss er kunstvoll verschnörkelte Monodien, die von sieben Solisten des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks meist quasi im Unisono – im ersten und da capo im letzten der sechs Abschnitte mal in Terzen – vorgetragen und von fernöstlichem Schlagwerk fast rituell untermalt werden, klanglich fein abstimmen. Dies gelingt z. B. bei einigen sehr hübschen Mixturen äußerst ansprechend, aber etliche Stellen könnten präziser zusammen sein.

Man könnte Hermann auch mangelnde Präzision bei den zunächst zeitlich recht vereinzelten, harten Knalleffekten, vor allem Bartók-Pizzicati, in Helmut Lachenmanns (*1935) Klangschatten – mein Saitenspiel (1972) vorwerfen – zumindest da, wo sie tatsächlich punktgenau zusammen sein sollten. Zum Glück werden diese für die 48 solistisch agierenden Streicher schnell vom Komponisten mit zunehmenden Unschärfen versehen, bis in der Mitte des Stücks alles flächiger wird, was sofort eine ungeahnte Sogwirkung erzeugt und erstaunlich farbig und fantastisch klingt. Die drei Klaviere wirken hier entgegen ihrer Natur meist wie klangverlängernde Echokammern, aber keinesfalls solistisch – trotzdem großes Lob für Yukiko Sugawara, Tomoko Hemmi und Alexander Waite, die sich wie die enorm konzentrierten Streicher des BRSO natürlich mit allen erdenklichen, ungewöhnlichen Spieltechniken auseinandersetzen müssen. Faszinierend etwa, wie gegen Schluss einige der Cellistinnen ein instabiles Bassfundament auf dem mit Bogen gestrichenen Saitenhalter erzeugen. Hermanns Timing und sein Überblick über die gesamte Vielfalt der Geräuschentwicklung kann jedenfalls überzeugen. Zu Recht erfährt das Stück, das heutzutage natürlich niemanden mehr zu provozieren vermag, allgemeine Zustimmung.

Für ihr Klavierkonzert To An Utterance (2020) mit nicht nur im Schlagzeug riesiger Orchesterbesetzung musste sich die britische Komponistin Rebecca Saunders – Ernst von Siemens Musikpreisträgerin 2019 – schon etwas Besonderes ausdenken, um dem Solisten ein klangliches Gegengewicht zu ermöglichen. Jede Menge Cluster, vor allem jedoch allgegenwärtige Glissandi, oft über die gesamte Tastatur und in teils derart atemberaubender Geschwindigkeit und Dynamik, dass man fast glaubt, einem Player Piano von Conlon Nancarrow zuzuhören. Was hier die Hände von Nicolas Hodges – durch fingerfreie Handschuhe vor Abschürfungen geschützt – leisten, geht weit über das hinaus, was etwa Stockhausen in seinem berüchtigten Klavierstück X fordert, gerade auch an emotionaler Energie. Die geht hier tatsächlich meist vom Klavier aus; das grandios instrumentierte Orchester der lange auf kammermusikalische Besetzungen spezialisierten Komponistin – immer spannungsvoll, dabei wie der drohende Abgrund für den hyperaktiven Pianisten – nimmt dessen Anregungen auf und transformiert dessen häufig als Haltepunkt genutzten Resonanzraum zu wilden und schönen Klängen: z. B. enorm differenzierten Streicherflageoletts, die dann noch mit Akkordeon in höchster Lage bekrönt werden. Das an sich sehr gelungene Werk zerfasert formal allerdings durch zu schnelle Wechsel zwischen ungezähmter Brutalität und deutlich gemäßigterem Material – gibt es da eine Anspielung auf Tristan? – und bringt dramaturgisch daher nicht nur den Pianisten im Sinne der weniger geläufigen Bedeutung des Titels bis „zum bitteren Ende“. Hodges ist mit seiner phänomenalen Technik und unermüdlichen Präsenz einmal mehr ein Erlebnis im Herkulessaal, und Orchester und Dirigent fühlen sich in Saunders‘ kalkulierter Klangorgie sichtlich wohl: tosender Applaus.

[Martin Blaumeiser, 24. Mai 2025]

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