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Robin Hood bei den Zisterziensern: Innsbrucks geheimer GMD mit historisch signifikanten Premièren

Das Orchester der Akademie St. Blasius spielte unter der Leitung von Karlheinz Siessl im Zisterzienserstift Stams die Uraufführung von Elias Praxmarers Orgelkonzert Die Heilige Stadt (Solist: der Komponist) sowie die Tiroler Erstaufführungen der Musik für Orchester von Rudi Stephan und der Symphonie Nr. 2 von Alfredo Casella.

In Deutschland wüsste ich derzeit keinen Dirigenten, der sich unter derart unwägbaren finanziellen Bedingungen und entsprechend knapp bemessenen Einstudierungszeiten das traut, was Karlheinz Siessl mit seinem freiberuflichen Orchester der Akademie St. Blasius in Innsbruck nun schon seit weit mehr als einem Jahrzehnt unbeirrbar verfolgt. Ich habe Siessls Wirken kennengelernt, als er – auf Initiative von Peter Kislinger und in Anwesenheit des Komponisten – die musikalisch hoch anspruchsvolle Sinfonia per archi von Anders Eliasson zur mitteleuropäischen Erstaufführung brachte. Seither bewundere ich die unersättliche Erkundungslust, getragen von solidem Kapellmeisterhandwerk und immer offenen Ohren für alle historischen und aktuellen Phänomene des Dirigierens, mit welcher Siessl regelmäßig Unbekanntes, Vergessenes und vor allem sehr viel ganz Neues ganz ohne ideologische Scheuklappen einem treuen und mittlerweile längst auch genau das von ihm erwartenden Publikum in der tirolischen Landeshauptstadt und im Tiroler Umland präsentiert, darunter bereits drei der vertrackten Solokonzerte des herausragenden lebenden finnischen Komponisten Kalevi Aho und die stets eigentümliche und urwüchsig querständige Musik seines Landsmanns Michael F. P. Huber. Mit Karlheinz Siessl hat Innsbruck seinen essenziellen Pfeiler wider das träge musikalische Establishment, und nicht ohne Grund genießt er unter seinen Orchestermusikern und weiteren Anhängern eine Art Heldenstatus, so als eine Art Robin Hood der Komponisten.

Diesmal lud die Akademie St.Blasius zum Festkonzert am 19. Juli in die prachtvoll renovierte Basilica minor im Zisterzienserstift Stams im Oberinntal. Trotz oder wegen des widrigen Wetters war das Publikum zahlreich erschienen, und nach knapp zwei Stunden Musik ohne Pause herrschte spürbar eine allgemeine Atmosphäre des ehrfürchtigen Staunens und heiterer Erfülltheit.

Zu Beginn erklang als Uraufführungsheimspiel ein Concertino für Orgel und Streicher von Elias Praxmarer, dem Stiftsorganisten von Stams, das Die Heilige Stadt in der Johannes-Offenbarung in Tönen zu malen beabsichtigte. Ein orthodox dreisätzig gegliedertes Werk im Windschatten des offenkundig verehrten Olivier Messiaen, eine ganz unverhohlene Huldigung an den französischen Kultkomponisten einer Majorität heutiger Organisten. Um ungestört Synchronisation zu erreichen, befand sich das Streichorchester mit Dirigent oben bei der Orgel, außerhalb des Sichtbereichs des Publikums, das dem Solisten auf einem großen Bildschirm auf die Finger schauen, Kontrabässe besichtigen und gelegentlich von der Seite einen Blick auf die Gestik des Dirigenten erhaschen durfte.

Dann kamen die Musiker nach unten, und das eigentliche Konzert begann. Siessl hatte es gewagt, zwei herausfordernde Werke für großes Orchester aufs Programm zu setzen, die leider fast nie zu hören sind und innerhalb von fünf Jahren entstanden. Dies war für einige Zuhörer Grund genug, hunderte Kilometer weit nach Stams zu pilgern.

Zunächst erklang als äußerst überfällige Tiroler Première das orchestrale Hauptwerk von Rudi Stephan (1887–1915), dem viel zu jung an der galizischen Ostfront gefallenen Wormser Meister, der seinerzeit als die „große Hoffnung der deutschen Musik“ betrauert wurde. Seine Musik für Orchester (nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen, weit umfangreicheren ersten Musik für Orchester, aus der dieses endgültige Werk hervorging) ist 1912 entstanden und bildet einen absoluten Gipfelpunkt des frühen Expressionismus. Es muss nicht gesagt werden, dass Stephan als 25jähriger bereits sein Handwerk vollendet beherrschte und zu einer unverkennbar eigenen Tonsprache gefunden hatte; dass die einsätzig kompakte Komposition zwei extrem kontrastierende Welten – die eine schicksalhaft dunkel lastend und sehr breit, die andere dramatisch gezackt, auffahrend und sehr rasch – in immer wieder übergangslos aneinandergeschnittenem Wechsel gegeneinander agieren lässt, bis eine Art lakonische Euphorie dem wild sich aufbäumenden Geschehen ein rasches Ende bereitet. Die Aufführung bestach mit identifikatorischer Kraft und dem Willen zu sachlich gebändigter Expressivität. Lediglich bezüglich der Temporelationen gab es einige pragmatisch nachvollziehbare, jedoch rein musikalisch einigermaßen willkürliche Entscheidungen des Dirigenten.

Dies gilt auch für das abschließende Werk, fiel hier, in den weiten Gefilden der ausufernden Form, jedoch naturgemäß nicht so offenkundig ins Gewicht. Alfredo Casellas 1908–09 in Paris entstandene und unumwunden Gustav Mahler huldigende Zweite Symphonie, ein recht gigantisch dimensioniertes Opus ultimum eines 25jährigen, der bereits die Kunst der Orchestration in einer schwindelerregenden Vollendung beherrschte, die seine russischen Vorbilder gerne vergessen lässt, führt uns in vier Sätzen ein bombastisch imponierendes Panorama der Ausdrucksvielfalt und ins Extrem gesteigerten Klangpracht des großen Orchesterapparats vor. Zum Schluss tritt schließlich auch noch die große Orgel hinzu und verwandelt, zusammen mit vor allem dem massiven Blech und dem luxuriös betrauten Schlagzeug, den hohen Raum in ein panharmonisch tosendes Universum. Man muss nun hervorheben, dass für die Aufführenden vor den Kirchenbänken eigentlich viel zu wenig Platz ist; dass deshalb das Orchester maximal in die ersatzweise verfügbare Breite gezerrt werden musste, dass es dadurch sehr schwierig war, Holzbläser und Blechbläser, die sich gegenseitig niemals rechtzeitig hätten hören können, in Abstimmung zu halten (das einzige, was hier zusammenhält, ist die glücklicherweise sehr ökonomische und entschiedene Zeichengebung Siessls, der man anmerkt, dass er mit seiner stürmischen Truppe schon so manches Wagnis bestanden hat); dass die Raumakustik ab einer bestimmten Massierung der Klanggewalten keine Transparenz mehr ermöglicht und auch der überschattende Nachhalleffekt nicht gering ist; dass angesichts der großen Bläserbesetzung – aus Kosten- und Raumgründen – eigentlich viel zu wenige Streichinstrumente mitwirkten, die überdies in der heute in Mode gekommenen Aufstellung mit auf rechts und links verteilten ersten und zweiten Geigen die Struktur eher zerstreuend abbilden; dass also die Bedingungen für eine erfolgreiche Aufführungen äußerst riskant und schwierig waren. All dessen eingedenk, ist Siessl und seinem Orchester ein exzellentes Gelingen einer heroischen Tat zu bescheinigen, und man darf annehmen, dass fast alle Anwesenden sehr berührt von dem gewaltigen Werk waren und sich über eine baldige Wiederbegegnung mit demselben freuen würden – obwohl Casella auch in diesem Werk, einem seiner besten und substanziellsten, nicht durchgehend edelste Erfindung und geistige Tiefe offenbart, jedoch stets hypnotische Klangwirkungen und zündendes Musikantentum, zugleich auch klar orientierende Formgebung mit unmissverständlicher Dramaturgie des großen Aufbaus. Es spricht also überhaupt nichts dagegen, dass sich in Österreich – oder überhaupt im deutschsprachigen Raum und natürlich auch in Italien und Frankreich – bald Nachahmer finden, gerne auch im Bereich der sogenannten Toporchester, die sich auf dieses monumentale Spektakel einlassen. Ganz besonders gelungen sind das Scherzo und der langsame Satz, doch auch der Kopfsatz ist mit vollendetem Aufbau und glänzender Erfindung gesegnet, und lediglich im Finale mag sich die Frage stellen, die ja auch Mahler regelmäßig zu stellen ist: Hält es letzten Endes wirklich zusammen? Um diese zu beantworten, wären weitere Aufführungen nach dieser so verdienstvollen späten österreichischen Erstaufführung die besten Gelegenheiten. Fürs Orchester und für die Zuhörer ist es jedenfalls ganz besonders dankbare Musik, die mit Ovationen gefeiert wurde. Und Innsbruck darf dann irgendwann getrost Karlheinz Siessl ein Denkmal errichten, tut er doch mehr für die Sache der Musik und dies nachhaltiger als jeder Generalmusikdirektor und andere offiziell bestallte Würdenträger von Land und Landeshauptstadt. Mut und Interesse an der Musik hat er ohnehin mehr als alle anderen.

[Christoph Schlüren, Juli 2025]

Casellas Aufbruch in die Musikmoderne: Von Noseda fast zu schön dirigiert

CHANDOS/note 1
Katalog-Nr.: CHAN10880
EAN: 095115188026

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Schon lange verfolge ich die äußerst spannenden Reihen mit Einspielungen der klassischen italienischen Musikmoderne bei den Labels Chandos und Naxos. Beide Labels haben sich ihre Meriten redlich verdient. Während bei Naxos solide gemachte Einspielungen in großer Vielfalt vorliegen, scheint sich Chandos eher die Rosinen aus dem Kuchen zu picken.

Als übergreifendes Motto könnte man ausloben: Bei Chandos regiert perfekter, polierter Schönklang ohne die Ecken und Kanten dieser Musik zu überbetonen, bei Naxos gibt es ruppig-solides Orchesterabenteuer mit ausdrücklicher Betonung der modernistisch/futuristischen Aspekte dieser Musik.

Daraus geht schon hervor, dass beide Konzeptionen nicht restlos überzeugen können. Klar, denn weder Gianandrea Noseda (mit dem in allen Gruppen vorzüglich besetzten BBC Philharmonic) wird hier Casella ganz gerecht noch das inzwischen tragischerweise liquidierte Orchestra Sinfonica di Roma unter der Leitung Francesco La Vecchias. Beide Parteien bieten keine wirklich ausgewogene, sondern eher eine tendenziöse Interpretation.

Nun muss man aber froh sein, dass es überhaupt Einspielungen dieser Musik gibt, denn bis vor wenigen Jahren waren Casellas Sinfonien das vielleicht bedauerlichste aller Desiderate am CD-Markt. Dabei sei darauf hingewiesen, dass jedenfalls bei Casellas sinfonischem Erstling eine durchaus breite Hörergruppe zu gewinnen sein müsste, denn die Musik kommt einerseits den Anhängern der Fraktionen Strauss, Mahler, Bruckner und Wagner entgegen und bietet andererseits denjenigen, die sich für den aufkeimenden Expressionismus interessieren, zahlreiche Ansatzpunkte und durchaus auch einige Überraschungen. Mich persönlich erinnern Casellas Sinfonien (und dabei vor allem die hier zu hörende Erste) immer wieder an die Gattungsbeiträge George Enescus, vor allem auch im Hinblick auf den gewaltigen Orchesterapparat, der hier zum Einsatz kommt.

Und was in dieser Musik alles drin steckt! Hier haucht der Jugendstil gerade noch seinen Lebensodem aus und wird live vor den Ohren des Publikums überrollt von der Dampfwalze der Moderne. Und auch, wenn man Zeitgeschichte und Musikgeschichte nicht ohne Weiteres verquicken soll, ist es doch auch aufschlussreich darüber nachzudenken, dass diese Musik „am Vorabend“ des Ersten Weltkriegs in den Jahren 1912-13 geschrieben wurde.

Gianandrea Noseda erreicht mit dem BBC Philharmonic einen sahnig-saftigen Schönklang, den weder die Berliner Philharmoniker besser hinbekommen hätten noch Mariss Jansons beim Concertgebouw Orkest. Das Niveau des BBC Philharmonic ist bei dieser Einspielung wahrlich bestechend. Ob es, wie gesagt, der richtige Weg ist, um der Musik Casellas wirklich nahezukommen, sei dahingestellt. Ich persönlich finde diesen Sound sehr reizvoll. Auch, weil er einem die Annäherung an diese schwierig zu rezipierenden Werke fraglos erleichtert.

Die weiteren Stücke auf diesem Album sind die wuchtige Elegia eroica Op. 29 von 1916, eine Musik mit fahl-gespenstischen Marschrhythmen und voller Anklänge an eine fatale Zeit. Dieses Werk ist mit seiner erschütternden Aura ganz atemberaubend. Etwas weniger tragend, nichtsdestotrotz schön anzuhören und in ihrer frappierenden „Wunderhorn“-Klangwelt sicherlich am nächsten am Kollegen Mahler angesiedelt, sind die Sinfonischen Fragmente aus „Le Couvent sur l’eau“, Überraschungsauftritt von Sopranistin Gillian Keith inklusive.

Kurz und gut: Dies ist eine gelungene, wichtige, mitreißende und auch sehr schöne CD mit ganz hervorragender sinfonischer Musik, die häufiger gespielt und gehört werden sollte. Aber diese Aufnahme ist ebensowenig wie die der Kollegen vom Naxos-Label als objektiv zu bezeichnen, wenn man sich exemplarisch mit Casellas sinfonischem Schaffen beschäftigen möchte. Eine Referenzaufnahme der ersten Sinfonie gibt es derzeit schlichtweg nicht am Markt, und diese Einspielung von Gianandrea Noseda ändert diesen bedauerlichen Zustand nicht wirklich.

[Grete Catus, Februar 2016]