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Wie Dr. Clockwork Orange die Fuge liebte

Anthony Burgess (1917-1993): The Bad-Tempered Electronic Keyboard: 24 Preludes and Fugues (Stephane Ginsburgh: Klavier)

 

Grand Piano, GP 773: EAN 7 47313 97732 1

 

Wie bitte? Anthony Burgess? Das ist doch der von “Clockwork Orange”, diesem  ‚strangen’ Film aus den frühen 80ern, oder? Was hat denn der mit Musik zu tun, doch, obwohl, in dem Film spielte Musik – vor allem von Beethoven – eine große Rolle, aber Burgess als Komponist?

Doch, doch, bevor der sich nämlich der Literatur zuwandte und diesen Erfolg mit seiner Schreiben und der daraus resultierenden Filmadaption durch Stanley Kubrick verbuchen konnte, war er Musiker und vor allem auch Komponist. Das Booklet (nur auf englisch und französisch) gibt umfassend Auskunft über Werdegang und Weg des Anthony Burgess. Und dass es einen Pianisten und Komponisten reizt, sich auf die Spuren von Johann Sebastian Bach zu begeben und einen andAlternativzyklus zum ‚Wohltemperierten Klavier’ zu kreieren, teilt er mit vielen anderen Komponisten, wie z.B. Dimitri Shostakowitsch, Hans Gal – oder sogar Mario Castelnuovo–Tedesco mit ‚The well-tempered Guitar’! Immer wieder hat diese Aufgabe Komponisten gereizt, und so eben auch Anthony Burgess. Auch wenn die Literatur die Hauptfrucht seines sehr spannenden und interessanten Lebens war, das ihn von Manchester – seiner Geburtsstadt – bis nach Brunei und wieder zurück nach Europa führte, und seine letzte Lebensjahre verbrachte er in Monaco: er hörte doch nie auf zu komponieren, unter anderem drei Symphonien, Konzerte, Kammermusik und Lieder.

Der 1986 entstandene Zyklus unter dem ironischen Namen „The Bad-Tempered Electronic Keyboard“ zeigt schon Burgess’ nichtakademische Herangehensweise an diese Aufgabe.

Das erste, was mir beim Anhören auffiel, ist die quasi improvisatorische Musizierlust, die allen Stücken eignet. Als hätte der Komponist sie zu allererst einmal für sich selber geschrieben, zu seiner eigenen Vergnügung und Freude, ohne das so übliche Schielen nach Aufführung und Ruhm, also ähnlich wie Charles Ives, der ja sein Geld auch nicht mit seiner Musik verdiente, sondern als Mitinhaber einer großen Versicherung. So konnte er schreiben, was er wirklich wollte ohne Rücksicht auf den Musikbetrieb. Bei Burgess war nach der Ablehnung eines Musikstudiums der Lebensunterhalt und damit auch der „Ruhm“ durch seine Literatur und seine pädagogische Tätigkeit mehr als gesichert. Er sagte sogar einmal, am liebsten hätte er sein ‚Clockwork Orange’, das ihn unsterblich machen sollte, nie geschrieben, denn darauf würde er meistens reduziert. Auch bei den Stücken aus diesem Zyklus  – mit großem Enthusiasmus gespielt und lebendig gemacht vom belgischen Pianisten Stephane Ginsburgh –  ist die Freude am Komponieren durch alle 24 Dur und Moll-Tonarten deutlich zu spüren. Welches der Stücke besonders gut gefällt, ist eine so subjektive Frage, dass ich selber  keine Aussage machen kann und möchte, allerdings ist die Fuge über das Weihnachtslied „Good King Wenceslas“, ein besonders wunderbares Meisterstück, das den ganzen großartigen Bogen des gar-nicht-’bad-tempered keyboard’ grandios abschließt.

Natürlich sind die Stücke tonal und bewegen sich gekonnt und überzeugend im Rahmen des Tonartenkreises, man erwarte also keine Morton Feldman’schen oder Cage’schen Experimente, sondern eher das, was sich sicher mancher Klavierspieler selber schon vorgenommen hat: In allen 24 Dur und Moll-Tonarten einfach mach à la JSB selber loszuspielen und zu erleben, was dabei rauskommen kann und will.

[Ulrich Hermann, Februar 2018]

Hochseil-Sonaten

Cypres, CYP1674; EAN: 5 412217 016746

0047

Der belgische Pianist Stéphane Ginsburgh spielt für Cyprès alle neun mit Opuszahl versehenen Klaviersonaten von Sergei Sergejewitsch Prokofieff ein: Op. 1, Op. 14, Op. 28, Op. 29, Op. 38, Op. 86, Op. 83, Op. 84 und Op. 103.

Wie der Amerikaner George Antheil, wenngleich unvergleichlich begabter, gehört Sergei Sergejewitsch Prokofieff wohl zu denjenigen bekannten Pianisten, die man als Enfant Terrible bezeichnen würde. Bereits in seiner frühen Jugend geriet Prokofieff durch außerordentliche technische Fähigkeiten in den Blickpunkt der Öffentlichkeit. Herausragendes Ereignis diesbezüglich war die Uraufführung seines zweiten Klavierkonzerts in der 1912/1913 entstandenen Originalfassung, die heute verschollen ist. Prokofieff spielte der Presse zufolge trocken und scharf akzentuiert, die Musik wirkte auf einen großen Teil abstoßend und ließ die Menge der Zuschauer im Saal schnell schütter werden. Doch Prokofieff, angespornt von dem divergierenden Getöse aus Ablehnung und Zuspruch, ließ sich dazu hinreißen, es gar da capo zu spielen, wie er es noch in seiner Autobiographie schelmisch erfreut beschreibt. Nun gilt es allerdings zu bedenken, dass Prokofieff zu dieser Zeit schon eine riesige Auswahl an Werken geschrieben hatte, für Klavier alleine sechs nicht mit Opuszahlen versehene Sonaten (die letzte davon ist nicht erhalten) und eine große Anzahl weiterer nicht gezählter Stücke, dann die ersten beiden nummerierten Sonaten f-Moll op. 1 von 1909 und d-Moll op. 14 von 1912, die noch heute gerne als Zugabe präsentierte Toccata d-Moll op. 11 von 1912 und kleinere Einzelstücke wie auch Etüden. Als junger Mann bereits dermaßen produktiv und vor allem technisch herausfordernd, behielt er seine prägenden Stilmerkmale bis zu seinem Tod am 5. März 1953, dem gleichen Tag wie Josef Stalin, bei, und schuf fundamentale Werke höchster Komplexität und Virtuosität in einem unverwechselbar eigenen Stil. Seine Musik ist hart, rhythmisch prägnant, mit einer gewissen Kühle versehen, wild und gerne dissonant, wobei durchweg eine tonale Grundlage unüberhörbar ist, die jedoch durch Harmoniechangierungen in wahnwitziger und kaum nachvollziehbarer Geschwindigkeit ins Virtuose gesteigert ist und für ein Verständnis auch den Hörer zu äußerst aktiv aktiver Hörhaltung zwingt.

Jede einzelne der insgesamt neun nummerierten Klaviersonaten ist für sich eine enorme Aufgabe und ein wahrer Hochseilakt. Der Belgier Stéphane Ginsburgh wagt sich nun in einer 3-CD-Box an eine Gesamteinspielung dieser neun Meilensteine. Der Pianist geht mit einem trocken-harten Grundgestus an diese Werke heran, der auch dem bekannten Klischee der  Sonaten entspricht. Dabei vermittelt er einen beschwingten und teilweise gar spielerisch leichten Charakter, der selbst in den physikalisch an die Grenzen des Machbaren reichenden Passagen beibehalten ist. Eine interessante Note verleiht Ginsburgh den Sonaten durch einen tendenziell lyrischen Ton in manchen Stellen, der bei genauem Blick in die Noten durchaus vorhanden und nur von den meisten Pianisten vollständig vernachlässigt ist. Aber tatsächlich, Prokofieffs Klaviermusik kann auch singen!

Weniger hält er sich hingegen an manche unerlässliche Angabe in den Noten, vor allem im Bereich der Dynamikbezeichnungen. So reicht sein Spektrum bisweilen meist nur bis in ein Mezzo hinab, die Piano- und Pianissimobereiche werden kaum tangiert. Dadurch werden als logische Konsequenz fundamentale Strecken des Spannungsaufaufbaus und -abbaus unkenntlich, lassen also die stringente, bei Prokofieff immer wieder im fortwährenden Precipitato-Charakter nach vorne weisende Form durch Gleichförmigkeit verfließen. Deutlich beispielsweise im wohl bekanntesten Satz aus der reichen Fundgrube der Klaviersonaten, dem ohnehin auch mit „Precipitato“ bezeichneten Finale der siebten Sonate. Der Satz wirkt eher entspannt als nach vorne treibend, der zwingende Aufbau der ersten 45 Takte vom Mezzopiano zum Fortissimo mit abruptem Abbruch zurück ins Piano bleibt vollkommen aus. Manche besonders sperrigen und strukturell undurchsichtigen Passagen geraten unförmig, beispielsweise der Kopfsatz sowie der Beginn des zweiten Satzes der vierten Sonate – hier scheint sich Ginsburgh mit der lupenreinen und sicherlich beachtlichen technischen Beherrschung begnügen zu wollen. Auch kommt es immer wieder zu mir nicht innerlich nachvollziehbaren Rubati.

Wesentlich packender gelingen vor allem die frühen Sonaten, die einsätzige erste Sonate in ihrem tänzerischen Schwung und ihrer Dualität zwischen Verspieltheit und Gewalt, die vielseitige und bis ins Brachiale sich steigernde Zweite sowie die stellenweise gar verträumte, wiederum einsätzige Dritte. Interessant gestalten sich auch die ersten beiden Sätze der Siebten, der toccatenhaft im strengen non legato gehaltene, perkussive Kopfsatz und der zweite Satz, hier gar als sachliche Nocturne genommen. Auch in guten Teilen der anderen, hier nicht dezidiert besprochenen Sonaten kann Ginsburgh seine Stärken gut ausspielen.

Trotz einiger Schwächen der Darbietung – was aufgrund der Tatsache, dass hier alle neun dieser Mammutwerke in weniger als einer Woche am Stück eingespielt wurden, schwerlich anders zu erwarten wäre – liegt hier doch eine recht hörenswerte Gesamteinspielung vor und so ist diese durchaus zu empfehlen, um einen umfassenden Einblick in das Klaviersonatenschaffen von Sergei Prokofieff bekommen.

[Oliver Fraenzke, Mai 2016]