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Das Kind juchzt mit: Melanie Diener und Thomas Hampson bringen Opernklasse nach Waiblingen

Das Baby ist fast durchweg ruhig. Während seine Mutter Jasmin Etminan die Arie der Tosca erarbeitet, hört ihr sieben Monate alter Sohn gemeinsam mit der Oma zu. Dozentin Melanie Diener hat nichts dagegen, im Gegenteil: sie scherzt, wenn er sich glucksend meldet, und macht weiter mit dem Unterricht. So entspannt, familiär und hochprofessionell zugleich ist die Atmosphäre bei der Opernwerkstatt Waiblingen. Sie findet in diesem Jahr zum 6. Mal statt, im Bürgerzentrum des kleinen, nahe Stuttgart gelegenen Ortes. Die Idee hatte Diener, die in Waiblingen aufgewachsen ist und bis heute hier lebt. Die Sopranistin, berühmt für ihre Wagner- und Mozartinterpretationen, holte Thomas Hampson mit ins Boot. Die beiden kennen sich seit zwanzig Jahren, traten beispielsweise in Salzburg zusammen in Don Giovanni auf. Und sie haben ein gemeinsames Anliegen: die Förderung des Nachwuchses. Zusammen bilden sie ein harmonisches Team, auch wenn sie mittlerweile unterschiedliche künstlerische Schwerpunkte setzen: Hampson, einer der Superstars der Klassikszene, gibt zwar Meisterklassen, etwa beim Heidelberger Frühling, ist aber noch mit kaum glaubhaften siebzig Jahren auf allen Bühnen der Welt unterwegs; Melanie Diener lehrt als Professorin für Gesang und IGP (Instrumental- und Gesangspädagogik) an der gut 100 Kilometer entfernten Musikhochschule Trossingen und wirkt eher bodenständig. Wofür auch spricht, dass sie 2025 zur Remstälerin des Jahres gekürt wurde. Die Auszeichnung erhielt sie für „ihr klares Bekenntnis zur Region und damit zum Remstal“.

Thomas Hampson und Melanie Diener / © Peter Oppenländer

In Waiblingen arbeitet das Duo seit Gründung der Werkstatt 2019 zusammen. Sie wird unter anderem finanziell durch die Eva Mayr-Stihl – Stiftung gefördert, erzählt Brigitta Diel, die innerhalb der städtischen Kulturabteilung für das Projekt zuständig ist. Sie organisiert und koordiniert, scheint überhaupt omnipräsent zu sein. Sie brenne für die Werkstatt, wird sie nicht müde, zu betonen. Die Stipendiaten – sie sind zwischen 22 und 32 Jahren alt – erhalten eine Woche lang ein kostenloses „Gesamtpaket“: es beinhaltet tägliche Lockerungsübungen vor dem Einzelunterricht, Ensembleproben und die Teilnahme am abschließenden Konzert mit der Württembergischen Philharmonie Reutlingen unter Leitung der aufstrebenden Dirigentin Ariane Matiakh, dazu freie Verpflegung und Logis bei Waiblinger Gastfamilien. Solch Angebot macht die Werkstatt wohl attraktiv: in diesem Jahr gab es rund 150 Bewerbungen für zwölf Plätze. Zu den Ausgewählten gehört der Chinese WenBo Shuai. Beim Studium wurde seine Stimme zunächst als Bariton eingestuft, bis ein Gastdozent seine Fähigkeit zum Countertenor entdeckte. In diesem Fach schloss Shuai als erster in der Geschichte der Hochschule von Shanghai mit dem Bachelor ab. Ab Oktober wird er seine Ausbildung in Stuttgart fortsetzen.

6. Internationale Opernwerkstatt Waiblingen / © Peter Oppenländer

Von weit her kommt auch der Südafrikaner Lonwabo Mose, eine Hüne von Mann mit ausgesprochen sympathischer Ausstrahlung. Sein imposanter Bass prädestiniert ihn für Rollen wie Sarastro und Verdis Banquo, aber auch als Leporello macht er gute Figur. Mose wird erstmal nach Kapstadt zurückkehren, hofft aber auf Auftritte in Europa und den USA.

6. Internationale Opernwerkstatt Waiblingen / © Peter Oppenländer

Shuai und Mose sind nur zwei der Gesangstalente, mit denen Melanie Diener und Thomas Hampson intensiv arbeiten. Sie feilen an jedem Detail, an der Technik, dem Atem, der Aussprache, dem Ausdruck, korrigieren hier einen Ton, dort an der Stütze. Und es ist erstaunlich, welche Fortschritte sie erzielen. Beispielsweise bei Maria Melts, die den Cherubino beim Einstieg bereits überzeugend vorträgt. Melanie Diener aber dringt noch mehr in die Tiefe, erklärt die Figur mit viel Humor, gibt Tipps für eine freiere Höhe („ich brauche mehr und schnellere Energie“) und siehe da: Melts klingt danach gelöster und noch pointierter.

6. Internationale Opernwerkstatt Waiblingen / © Peter Oppenländer

Oder Wilma Kwamme, die einen außergewöhnlich klangschönen Mezzo besitzt. Hampson analysiert mit ihr die Dorabella-Arie, seziert gleich das Rezitativ und bringt die Schwedin, die momentan in Wien studiert, zu einer ausgewogeneren Balance zwischen optimiertem Körpergefühl und musikalischer Linie. Dabei schöpft Hampson aus einem enormen Repertoirefundus und weitet manche Stunde zu einer musikhistorischen Lektion aus.

6. Internationale Opernwerkstatt Waiblingen / © Peter Oppenländer

Das ist ungemein lehrreich, nicht nur für die Teilnehmenden, sondern auch für das Auditorium. Denn die Opernwerkstatt ist keine abgeschlossene Blase. Im Gegenteil, sie will offen sein für die Bevölkerung der Stadt. Die Meisterklassen können bei freiem Eintritt besucht oder per Stream mitverfolgt werden, nur das abschließende Konzert kostet etwas. Und wer noch Berührungsängste zur Klassik hat, kann sie beim Happening auf dem historischen Marktplatz abbauen. Da nämlich hört man von den Stipendiaten ganz andere Klänge: sie singen aus dem Fenster des ersten Stocks vom alten Rathaus heraus typische Lieder ihrer Heimat. Obendrein liegt in der Auslage der Buchhandlung Tauber passende nationale Lektüre, etwa persische Gedichte oder ein historischer chinesischer Roman. Und auch an das Publikum der Zukunft ist gedacht. An einem Vormittag sind Schulklassen eingeladen. Sie erhalten auf spielerische Weise eine unterhaltsame Lektion in Sachen Operngesang. Wie sich dabei Kinder und Profis begegnen, miteinander singen und Gemeinsamkeiten entdecken („Meine Eltern stammen auch aus China“, ruft ein Junge ), ist wunderbar mitzuerleben – und der Gedanke der Werkstatt, musikalische Exzellenz mit interkulturellem Austausch zu verbinden, besonders greifbar. Kurzum: Waiblingen ist ein gelungenes Beispiel dafür, wie Musik Weltoffenheit fördern kann.

[Karin Coper, September 2025]

Grace – The Music of Michael Tilson Thomas

Pentatone PTC 5187 355 (4 CDs & Buch)

EAN-Nr.: 8 717306 263559

Michael Tilson Thomas gehört zu den namhaftesten Dirigenten unserer Zeit. Anlässlich seines 80. Geburtstags hat Pentatone eine 4-CD-Edition veröffentlicht, die es ermöglicht, Tilson Thomas nun auch als Komponisten umfassend kennenzulernen.

Am 21. Dezember des vergangenen Jahres feierte Michael Tilson Thomas seinen 80. Geburtstag. Seit den Siebzigerjahren ist der Dirigent bekannt und beliebt – nicht nur in seiner amerikanischen Heimat. Sein Repertoire ist zwar vielfältig, aber auch von konkreten Vorlieben geprägt. Oper gehört nicht dazu, die Musik des Barock auch eher weniger. MTT, wie er von seinen Freunden und Fans genannt wird, hat sich vor allem in der Sinfonik des 20. Jahrhunderts hervorgetan. Besonders die Werke amerikanischer Komponisten haben in Tilson Thomas einen ebenso begeisterten wie hochkompetenten Interpreten gefunden: Er ist bislang der Einzige, der das Gesamtwerk von Carl Ruggles einspielte, seine Ives-Einspielungen zählen zu den besten, die es auf dem Markt gibt, und auch die Musik Aaron Coplands, den er persönlich kannte, zählt zu seinen Spezialitäten: Im Juni 2022 brachte er mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks im Münchner Herkulessaal Coplands Dritte Symphonie zur umjubelten Aufführung.

Leider wurde vor einigen Jahren ein bösartiger Gehirntumor beim Dirigenten festgestellt; nach Behandlungen ist er wiedergekehrt, und so wie es jetzt aussieht, wird MTT Ende April sein Abschiedskonzert mit des San Francisco Symphony Orchestra geben, dem er von 1995 bis 2020 als Chefdirigent vorstand.

Dass sich Michael Tilson Thomas immer auch als Komponist betätigte, ist allerdings zumindest außerhalb Amerikas nie so recht ins Bewusstsein der Öffentlichkeit getreten. Daher hat die Firma Pentatone zu Tilson Thomas‘ 80. Geburtstag eine luxuriöse Box mit 4 CDs herausgegeben, auf der zumindest ein großer Teil seiner Musik vertreten ist. Und nicht nur das: Die Box kommt in Form eines luxuriösen Buchs daher, in dem sich zahlreiche Fotografien, Kommentare und Einführungstexte finden, letztere meist von Tilson Thomas selbst. Die Qualität dieser Hommage ist kaum zu übertreffen – das betrifft nicht nur die wunderschöne Aufmachung, sondern auch durchweg die Klangqualität und vor allem die Interpretationen: Natürlich ist zumeist MTT persönlich (als Dirigent) an ihnen beteiligt, und die diversen Solisten lesen sich wie ein Who is Who der Musikszene: Renee Fleming, Thomas Hampson, Jean-Yves Thibaudet und andere. Nicht zu vergessen sind sämtliche Gesangstexte mit abgedruckt. Ein tolles Geburtstagsgeschenk also.

Kommen wir nun wenigstens kurz zur Hauptsache der Box: Michael Tilson Thomas‘ Musik. Die meisten werden es schon ahnen: Wer hier Avantgarde europäischer Prägung erwartet, wird enttäuscht werden. Größtenteils bewegt sich Tilson Thomas auf dem Boden der Tonalität, und er hat auch keine Angst vor Polystilistik: Jazz, Broadway, Vaudeville: Alles taucht in den Stücken auf, und sei es nur ganz kurz. In ihrer Ablehnung jeder Form von Purismus erinnert diese Musik an die von Thomas‘ Kollegen wie André Previn und vor allem Leonard Bernstein, mit dem er auch befreundet war.

Einige kurze Stücke sind Musikerfreunden gewidmet – nicht zuletzt das Lied Grace, das der Sammlung ihren Namen gab und Lenny Bernstein zugeeignet wurde. Oder (für mich einer der Glanzpunkte der Box) Symphony Cowgirl, ein echter Country-Song für Nancy Bechtle, die für das San Francisco Symphony Orchestra arbeitete und maßgeblich daran beteiligt war, MTT in die Stadt zu holen; sie liebte Country Music, und dies ist ihr Abschiedsgeschenk.

Insgesamt lässt sich konstatieren, dass Tilson Thomas sich in (relativ) kleiner Form am glücklichsten äußerte: Dazu zählt das Orchesterstück Lope, das die Liebe des Komponisten zu Hunden thematisiert, die drei Klavierstücke Upon Further Reflection (hier gespielt von John Wilson) oder Urban Legend, ein kleines Konzert für Kontrafagott und Orchester, hier vorgetragen in einer Version für Bariton-Saxophon.

Zwei große Gesangszyklen (Poems of Emiliy Dickinson und Meditations on Rilke) finden sich ebenso wie Tilson Thomas‘ wohl bekannteste Komposition From the Diary of Anne Frank für Sprecherin und Orchester. Tilson Thomas schrieb dieses Stück für die Schauspielerin Audrey Hepburn, mit der er es auch uraufführte; Solistin der vorliegenden Aufnahme ist Isabel Leonard. Kurz gesagt: Wer sich für Michael Tilson Thomas interessiert, wird um die Box nicht herumkommen. Ein hochsympathischer Dirigent, Komponist und – Mensch.

[Thomas Schulz, März 2025]