„Brahms war ein Kontrollfreak!“

Zhen Chen sprach mit Stefan Pieper über die Kunst, einen intensiven durchgängigen Bogen herzustellen, aber auch über die imaginäre Linie, jenseits derer sich ein respektvoller Interpret mit dem Willen des Komponisten auseinandersetzt. Anlass ist die neue CD mit Johannes Brahms drei Sonaten für Klavier und Violine, die für Zhen Chen zugegebenermaßen der Annäherung an einen Giganten gleichkommt.

Zusammen mit der Violinistin Elmira Darvarova kam es zu einer neuen Art der Darbietung, die vor allem den ungefilterten Blickwinkel favorisiert. Zurück zum Notentext, zurück zu dem, was Brahms mit seinen Kompositionen sagen will jenseits aller aufgesetzten Manierismen und exaltierten Rubati; das war das selbst auferlegte Gebot!

Die drei Sonaten von Johannes Brahms fangen eine ganz andere Stimmung ein, als jene, wie ich mir Ihre Lebenswirklichkeit im dynamischen, schnell getakteten New York vorstelle. Spielt dieser Kontrast eine besondere Rolle für Sie? Welche Haltung haben Sie als junger in New York lebender Musiker in Bezug auf Johannes Brahms?

Wenn wir über Brahms reden, ist das eine sehr ernsthafte Sache. Unsere Haltung wollen wir letztlich mit der Covergestaltung der CD unterstreichen: Unsere Herangehensweise ist klassisch, ja in gewisser Hinsicht sogar altmodisch. Aber dafür sehr natürlich und ehrlich. Eben so, wie wir beide uns auf dem Coverfoto präsentieren. Das drückt schon aus, wie wir Brahms spielen wollen.

Welche Ideale verfolgen Sie bei der Darbietung?

Wir wollen die Musik fließen lassen. In den letzten Jahren haben wir vor allem an diesem Musizierideal gearbeitet. Wir haben dafür viele Aufnahmen gehört, aber kaum eine ging in jene Richtung, die wir verfolgen wollten. Jeder spielt Brahms. Viele Aufnahmen klingen sehr dunkel und sind voller Schwere. Warum spielen das alle Leute so? Vermutlich produziert dies jene landläufige Meinung, dass Brahms ja naturgemäß langweilig, oder lang-atmig und voller Schwere ist. Dieser Eindruck liegt wirklich an zu vielen Spielern, die bei diesen Stücken die Zeitmaße zu sehr ausdehnen. Wenn ich mir aber die Noten ganz vorurteilsfrei ansehe, sehe ich keine Anweisungen, die darauf hindeuten. Deswegen suchen wir unseren eigenen Weg. Die Musik soll wieder natürlich und fließend sein. Ich glaube, es gibt keine Aufnahme wie unsere aktuelle. Wir haben ganz bewusst die Tempi gestrafft. Unser erster Satz ist gerade mal 9 Minuten kurz. Bei vielen andere Interpretationen läuft es auf fast 11 Minuten hinaus.

Nicht falsch verstehen: Ich möchte nicht bevormunden. Ich bin noch sehr jung und respektiere die Erfahrung anderer. Aber man muss das Stück als Ganzes sehen, als Stück für Klavier und Violine. Wenn Du zu viele Rubato einbaust, zerschneidest Du sehr schnell alles und es entstehen keine Bögen mehr dabei. Klar, dass sich das Publikum dann verzettelt. Wir beabsichtigen mit unserer Herangehensweise andere Wirkungen. Nach einem Konzert in Seattle kam eine Zuhörerin in den Backstagebereich und wollte wissen, warum sie diese Musik so anders, so neu erlebt hat bei uns. Ich bin sehr glücklich über so ein Feedback. Fazit: Brahms ist eben nicht langatmig und auch alles andere als langweilig. Es kommt eben auf die Art zu spielen an. Wir spielen nicht einfach nur schneller. Aber wir übertreiben die Rubatos nicht und verzetteln uns darin nicht.

War dies ein langer Weg?

Im Jahr 2010 habe ich die erste Sonate gespielt. Es war erstmal unglaublich schwer. Ich blieb manchmal mittendrin stecken. Nicht wegen der Technik, sondern wegen des mentalen Spannungsbogens. Wenn man wirklich diese weitgespannten Linien konsequent ausgestaltet, fordert dies immens. Ich bin so oft an meine Grenzen gestoßen dabei. Ich habe dann auch die Sonaten Nr. 2 und Sonate Nr. 3 erarbeitet. Das Verständnis wuchs immens und daraus auch verschiedene Wege, sie zu spielen.

Welchen Gewinn bringt es, sich mit dem Urtext auseinanderzusetzen?

Wir entnehmen alles vom Originaltext. Allein das gibt schon ein Gefühl für das richtige Tempo. In dieser Hinsicht liegen viele Interpretationen meiner Meinung nach falsch. Das hat einen Verlust des Storytellings zur Folge. Dadurch verspielen viele Interpreten die Chance, wirkliche Emotion zu zeigen.

Welche Bedingungen mussten im Duo erfüllt sein für diese Herausforderung?

Mit meiner Partnerin auf der Violine besteht eine hervorragende gemeinsame Basis. Elmira Darvarova ist eine sehr leidenschaftliche Spielerin mit extrem viel Energie. Sie hat einen viel größeren Erfahrungshorizont, allein, weil sie älter ist als ich. Ich habe mir viel von ihr abgeschaut – vor allem, wenn es um das nötige Selbstbewusstsein geht, um ein solches Werk darzustellen. Ich gewinne auf jeden Fall immer mehr persönliche und künstlerische Stärke durch diese Verbindung. Wenn Elmira spielt, erzählt dies immer eine Geschichte.

Was ist die größte Herausforderung bei diesen Sonaten?

Es geht darum, die Intensität zu steigern. Du kannst wirklich in einen harten Widerstreit mit der Melodie eintreten. Und es sind ja auch zwei Instrumente, die bei aller Symbiose auch einen intensiven Widerstreit pflegen. Um diese Dramatik geht es – und sie geht sehr schnell verloren, wenn die Balance nicht mehr stimmt.

Sie sind sehr fasziniert davon, die Dinge von Grund auf zu erforschen. Diskutieren Sie beide solche Prozesse kontrovers oder ergibt sich alles von selbst aus dem Spiel heraus?

Wir reden viel, vor und während der Proben. Elmira und ich reflektieren und testen verschiedene Spielweisen aus. Es klingt daher auch immer wieder anders. Es gibt aber ein Leitprinzip: Wir versuchen, uns in die Art und Weise hinein zu versetzen, wie Johannes Brahms es gesehen und gefordert hat. Aber wir wollen auch eigene Gefühle zeigen. Nach jedem Spiel lesen wir nochmal den Notentext und reflektieren, was wir vernachlässigt haben. Wir nähern uns dadurch immer mehr an dem Zustand an, wie Brahms ihn eingefordert hat. Es ist sehr viel vorgegeben in den Noten, immens viele Vortragsbezeichnungen. Fast könnte man meinen, dass Brahms ein echter Kontrollfreak war (lacht!).

Wo bleibt der Raum für eigenständigen Ausdruck?

Die Räume für eigene interpretatorische Freiräume sind von Brahms sehr eng gesteckt. Trotzdem möchten wir in diesem Rahmen individuelle Farbe bekennen und ein subjektives Verständnis unserer Musik zeigen. Aber es geht es vor allem immer darum, was Brahms wirklich wollte. Dann darfst Du nicht zu viel auftragen an persönlichen Extravaganzen.

Also ist es ein Dialog zwischen Ihren Emotionen von heute und dem Personalstil von Johannes Brahms?

So kann man es nennen. Ich habe einiges über die biografischen Hintergründe von Brahms gelesen. So etwas muss man wissen. Meine eigene Rolle ist hier die eines Geschichtenerzählers. Aber es geht nicht um meine Geschichte, sondern um die, die der Komponist geschrieben hat. Der Komponist ist ein Mensch und ich auch. Ich respektiere den Komponisten. Es bleibt eine imaginäre Grenze, die ich als verantwortungsvoller Interpret nicht überschreiten kann. Ich muss dem Komponisten folgen. Klar, ich kann rubato machen, es ist schließlich ein romantisches Stück. Aber es muss kontrollierbar bleiben. Ich darf die Linie, die der Komponist gelegt hat, nicht zerstören.

Sie sind beide in recht vielseitigen musikalischen Disziplinen unterwegs. Sie komponieren selber Musik für die Gegenwart und beschäftigen sich mit klassischer chinesischer Musik. Elmira ist auch im Jazz und anderen heutigen Musikgenres zuhause. Wie wird Ihre Brahms-Interpretation durch solche Erfahrungen bereichert? Andersherum: Wie sehr beflügelt die Auseinandersetzung mit Brahms Ihre freien Betätigungen?

Das ist eine sehr interessante Frage. Ich begann 2015 mit dem Komponieren und hatte bis dahin auch Brahms sehr gründlich studiert. Daraus ging ein tiefes Verständnis für kompliziertere Strukturen hervor – und die halfen wieder meinem Feeling, um eigene Stücke zu kreieren. Brahms ist ein Meister, der immer haushoch über meinem Versuchen rangieren wird. Aber ich lerne eine Menge aus solchen Meisterwerken. Etwa, wie ich mit Harmonien Emotionen erzeuge, wie man eine lange Linien aufbauen kann und es dadurch nicht länger beliebig ist. Ich lerne so viel.

Wie sehr fühlen Sie sich von New York inspiriert?

In New York bekommt man so viele Impulse: Diese Stadt markiert die Vereinten Nationen wie in einem Mikrokosmos. Alle Farben, Kulturen, Traditionen, sämtliche Arten zu leben und zu feiern sind hier auf engem Raum versammelt. Du hörst afrikanische Musik oder Klänge aus Indien. Diese Metropole macht offen, sensibel, hellhörig und wach. Es ist eine gute Stadt für Musiker. Der Ideale Ort, um lebendig zu sein. Man lernt Menschen kennen und Menschen finden Dich, dass sich immer wieder neue Chancen und Möglichkeiten ergeben. Ich bin sehr glücklich, hier leben zu können.

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