Archiv des Monats: September 2025

Das Kind juchzt mit: Melanie Diener und Thomas Hampson bringen Opernklasse nach Waiblingen

Das Baby ist fast durchweg ruhig. Während seine Mutter Jasmin Etminan die Arie der Tosca erarbeitet, hört ihr sieben Monate alter Sohn gemeinsam mit der Oma zu. Dozentin Melanie Diener hat nichts dagegen, im Gegenteil: sie scherzt, wenn er sich glucksend meldet, und macht weiter mit dem Unterricht. So entspannt, familiär und hochprofessionell zugleich ist die Atmosphäre bei der Opernwerkstatt Waiblingen. Sie findet in diesem Jahr zum 6. Mal statt, im Bürgerzentrum des kleinen, nahe Stuttgart gelegenen Ortes. Die Idee hatte Diener, die in Waiblingen aufgewachsen ist und bis heute hier lebt. Die Sopranistin, berühmt für ihre Wagner- und Mozartinterpretationen, holte Thomas Hampson mit ins Boot. Die beiden kennen sich seit zwanzig Jahren, traten beispielsweise in Salzburg zusammen in Don Giovanni auf. Und sie haben ein gemeinsames Anliegen: die Förderung des Nachwuchses. Zusammen bilden sie ein harmonisches Team, auch wenn sie mittlerweile unterschiedliche künstlerische Schwerpunkte setzen: Hampson, einer der Superstars der Klassikszene, gibt zwar Meisterklassen, etwa beim Heidelberger Frühling, ist aber noch mit kaum glaubhaften siebzig Jahren auf allen Bühnen der Welt unterwegs; Melanie Diener lehrt als Professorin für Gesang und IGP (Instrumental- und Gesangspädagogik) an der gut 100 Kilometer entfernten Musikhochschule Trossingen und wirkt eher bodenständig. Wofür auch spricht, dass sie 2025 zur Remstälerin des Jahres gekürt wurde. Die Auszeichnung erhielt sie für „ihr klares Bekenntnis zur Region und damit zum Remstal“.

Thomas Hampson und Melanie Diener / © Peter Oppenländer

In Waiblingen arbeitet das Duo seit Gründung der Werkstatt 2019 zusammen. Sie wird unter anderem finanziell durch die Eva Mayr-Stihl – Stiftung gefördert, erzählt Brigitta Diel, die innerhalb der städtischen Kulturabteilung für das Projekt zuständig ist. Sie organisiert und koordiniert, scheint überhaupt omnipräsent zu sein. Sie brenne für die Werkstatt, wird sie nicht müde, zu betonen. Die Stipendiaten – sie sind zwischen 22 und 32 Jahren alt – erhalten eine Woche lang ein kostenloses „Gesamtpaket“: es beinhaltet tägliche Lockerungsübungen vor dem Einzelunterricht, Ensembleproben und die Teilnahme am abschließenden Konzert mit der Württembergischen Philharmonie Reutlingen unter Leitung der aufstrebenden Dirigentin Ariane Matiakh, dazu freie Verpflegung und Logis bei Waiblinger Gastfamilien. Solch Angebot macht die Werkstatt wohl attraktiv: in diesem Jahr gab es rund 150 Bewerbungen für zwölf Plätze. Zu den Ausgewählten gehört der Chinese WenBo Shuai. Beim Studium wurde seine Stimme zunächst als Bariton eingestuft, bis ein Gastdozent seine Fähigkeit zum Countertenor entdeckte. In diesem Fach schloss Shuai als erster in der Geschichte der Hochschule von Shanghai mit dem Bachelor ab. Ab Oktober wird er seine Ausbildung in Stuttgart fortsetzen.

6. Internationale Opernwerkstatt Waiblingen / © Peter Oppenländer

Von weit her kommt auch der Südafrikaner Lonwabo Mose, eine Hüne von Mann mit ausgesprochen sympathischer Ausstrahlung. Sein imposanter Bass prädestiniert ihn für Rollen wie Sarastro und Verdis Banquo, aber auch als Leporello macht er gute Figur. Mose wird erstmal nach Kapstadt zurückkehren, hofft aber auf Auftritte in Europa und den USA.

6. Internationale Opernwerkstatt Waiblingen / © Peter Oppenländer

Shuai und Mose sind nur zwei der Gesangstalente, mit denen Melanie Diener und Thomas Hampson intensiv arbeiten. Sie feilen an jedem Detail, an der Technik, dem Atem, der Aussprache, dem Ausdruck, korrigieren hier einen Ton, dort an der Stütze. Und es ist erstaunlich, welche Fortschritte sie erzielen. Beispielsweise bei Maria Melts, die den Cherubino beim Einstieg bereits überzeugend vorträgt. Melanie Diener aber dringt noch mehr in die Tiefe, erklärt die Figur mit viel Humor, gibt Tipps für eine freiere Höhe („ich brauche mehr und schnellere Energie“) und siehe da: Melts klingt danach gelöster und noch pointierter.

6. Internationale Opernwerkstatt Waiblingen / © Peter Oppenländer

Oder Wilma Kwamme, die einen außergewöhnlich klangschönen Mezzo besitzt. Hampson analysiert mit ihr die Dorabella-Arie, seziert gleich das Rezitativ und bringt die Schwedin, die momentan in Wien studiert, zu einer ausgewogeneren Balance zwischen optimiertem Körpergefühl und musikalischer Linie. Dabei schöpft Hampson aus einem enormen Repertoirefundus und weitet manche Stunde zu einer musikhistorischen Lektion aus.

6. Internationale Opernwerkstatt Waiblingen / © Peter Oppenländer

Das ist ungemein lehrreich, nicht nur für die Teilnehmenden, sondern auch für das Auditorium. Denn die Opernwerkstatt ist keine abgeschlossene Blase. Im Gegenteil, sie will offen sein für die Bevölkerung der Stadt. Die Meisterklassen können bei freiem Eintritt besucht oder per Stream mitverfolgt werden, nur das abschließende Konzert kostet etwas. Und wer noch Berührungsängste zur Klassik hat, kann sie beim Happening auf dem historischen Marktplatz abbauen. Da nämlich hört man von den Stipendiaten ganz andere Klänge: sie singen aus dem Fenster des ersten Stocks vom alten Rathaus heraus typische Lieder ihrer Heimat. Obendrein liegt in der Auslage der Buchhandlung Tauber passende nationale Lektüre, etwa persische Gedichte oder ein historischer chinesischer Roman. Und auch an das Publikum der Zukunft ist gedacht. An einem Vormittag sind Schulklassen eingeladen. Sie erhalten auf spielerische Weise eine unterhaltsame Lektion in Sachen Operngesang. Wie sich dabei Kinder und Profis begegnen, miteinander singen und Gemeinsamkeiten entdecken („Meine Eltern stammen auch aus China“, ruft ein Junge ), ist wunderbar mitzuerleben – und der Gedanke der Werkstatt, musikalische Exzellenz mit interkulturellem Austausch zu verbinden, besonders greifbar. Kurzum: Waiblingen ist ein gelungenes Beispiel dafür, wie Musik Weltoffenheit fördern kann.

[Karin Coper, September 2025]

Ersteinspielung: Maximilian Steinbergs Symphonie Nr. 3

Fuga Libera, FUG 831; EAN: 5400439008311

Den Namen Maximilian Steinberg hat wohl jeder schon einmal gehört, der sich mit russischer Musik des frühen 20. Jahrhunderts befasst hat. Man kennt ihn zumindest als Schüler, Schwiegersohn und Herausgeber Nikolai Rimskij-Korsakows, als Mitschüler Igor Strawinskijs und als Kompositionslehrer Dmitrij Schostakowitschs. Dass der 1883 in Vilnius geborene und seit 1901 in Sankt Petersburg ansässige Steinberg zu jenen Persönlichkeiten gehörte, die sich im Zentrum der musikgeschichtlichen Entwicklung Russlands bewegten und dort keine ganz unbedeutende Rolle spielten, lässt sich mithin nicht abstreiten. Zwar konnte Steinberg zu Lebzeiten als Komponist einige Erfolge im In- und Ausland feiern, doch geriet sein Schaffen nach seinem Tode 1946 weitgehend in Vergessenheit. Dass sich sein Schüler Schostakowitsch frühzeitig seinem Einfluss entzogen hatte und Strawinskij nicht gut auf ihn zu sprechen war, da er sich in jungen Jahren in den Augen Rimskij-Korsakows zugunsten Steinbergs zurückgesetzt sah, dürfte in den Nachkriegsjahrzehnten nicht dazu beigetragen haben, das Interesse an Steinbergs Musik zu steigern. Erst in der jüngeren Vergangenheit haben es Einspielungen seiner Werke ermöglicht, sich von seinen kompositorischen Fähigkeiten ein genaueres Bild zu machen – ein Prozess, der noch lange nicht abgeschlossen ist, denn eine größere Zahl seiner Hauptwerke wartet bis heute auf ihre Erstaufnahme. Bis vor kurzem zählte noch Steinbergs 1928 vollendete Symphonie Nr. 3 g-Moll op. 18 zu diesen auf Tonträger nicht greifbaren Stücken. Im vergangenen Jahr wurde dies durch das Uralische Jugend-Symphonieorchester (Ural Youth Symphony Orchestra) unter der Leitung von Dmitrij Filatow (Dmitry Filatov) geändert: Sie nahmen die Symphonie gemeinsam mit der Orchestersuite aus Dmitrij Schostakowitschs Ballett Der Bolzen op. 27a für die belgische Musikproduktion Fuga Libera auf.

Steinberg komponierte insgesamt fünf Symphonien. Die ersten beiden entstanden noch vor dem Ersten Weltkrieg, die letzten drei datieren von 1928, 1933 und 1942. Steinberg gehört also, ähnlich dem ungefähr gleichaltrigen Mikolai Mjaskowskij, dem die Dritte Symphonie gewidmet ist, zu jenen Symphonikern, deren Schaffen die Zarenzeit mit der sowjetischen Epoche verknüpft. Von Steinbergs Frühwerk konnte man sich bereits seit der Jahrtausendwende ein gutes Bild machen, da die Göteborger Symphoniker unter Neeme Järvi damals für Deutsche Grammophon zwei CDs mit den ersten beiden Symphonien und weiteren frühen Orchesterwerken aufnahmen. Wenn dieses Projekt als Zyklus geplant gewesen ist, so kann man nur bedauern, dass er nicht vollendet wurde. Erst 2017 erschien wieder eine CD mit Steinbergscher Orchestermusik, als Martin Yates mit dem Royal Scottish National Orchestra für Dutton die Vierte Symphonie Turksib und das Violinkonzert einspielte, und damit erstmals Werke aus Steinbergs sowjetischer Schaffensphase präsentierte. Die nun erstmals aufgenommene Dritte Symphonie markiert in gewissem Sinne einen Wendepunkt in Steinbergs Entwicklung. Die frühen Symphonien stehen zwar fest in der Tradition des Mächtigen Häufleins und Alexander Glasunows und sind entsprechend von Elementen slawischer Folklore durchdrungen, doch sind sie keine folkloristischen Werke im engeren Sinne. Das ändert sich mitten in der Dritten Symphonie, wenn Steinberg, Nachkomme einer jüdischen Familie, dem langsamen dritten Satz das jüdische Volkslied El Yivneh Hagalil als Hauptthema zugrunde legt. Dieses findet auch im Finale Verwendung und darf die Symphonie apotheotisch gesteigert beschließen. In den beiden folgenden Symphonien geht Steinberg diesen Weg weiter und greift auf kasachische bzw. usbekische Volksmelodien zurück. Dass er damit durchaus konform mit den Wünschen der Propagandisten des „Sozialistischen Realismus“ ging, ist ihm in der Musikliteratur wiederholt verübelt worden.

Es scheint unter Musikhistorikern eine Tradition zu geben, Steinberg – der nie ein schlechtes Wort über seinen berühmten Kommilitonen verloren hat – als Kontrastfigur zu benutzen, um zu zeigen, wie großartig Igor Strawinskij ist und welch tristem Schicksal dieser entging. So meint etwa Stephen Walsh (Stravinsky: A Creative Spring), dass sich Steinberg zu einem „langweiligen, respektierten sowjetischen Komponisten und Lehrer“ entwickelt habe. Und für Richard Taruskin (Stravinsky and the Russian Traditions) ist Steinberg ein Komponist, „für den man kein besonderes Interesse entwickeln kann“, anhand dessen sich aber zeigen lasse, wie Strawinskij wohl komponiert hätte, wäre er in Russland geblieben. Er hätte dann nämlich ziemlich genau solche Sachen geschrieben wie Steinbergs Dritte Symphonie. Beim Lesen dieser Zeilen spürt man geradezu die Erleichterung des Autors, dass Strawinkij durch seine Emigration nach Paris darum herum gekommen ist, so etwas schreiben zu müssen…

Aber halt! Die Leute, die sich hier offenbar posthum an Steinberg dafür rächen wollen, dass Rimskij-Korsakow ihn Strawinskij vorzog, vergessen, dass die Begabungen Steinbergs und Strawinskijs, obwohl sie beide der gleichen Schule entstammten, unterschiedlich gewichtet waren und auf unterschiedliche Betätigungsfelder hinzielten. Um es kurz zu sagen: Strawinskij wurde ein Ballettkomponist, der auch Symphonien, Steinberg ein Symphoniker, der auch Ballette schrieb. Man höre sich einmal die jeweils ersten Symphonien beider Komponisten an! Strawinskijs Symphonie op. 1 ist ein gutes Werk in der guten Tradition seiner damaligen Vorbilder Rimskij-Korsakow und Glasunow, die auch in der gleichzeitig entstandenen Ersten Symphonie Steinbergs als Vorbilder erkennbar sind. Aber verglichen mit Steinbergs Symphonie wirkt diejenige Strawinskijs in der Entwicklung der musikalischen Gedanken deutlich weniger souverän, obwohl nach den Regeln auch hier alles korrekt ist. Für Strawinskij, dessen spätere Symphonien aus dem Geist seiner Ballettmusiken geboren sind und ganz anders klingen, war die traditionelle Symphonik ein Lehrbuchstoff, den er als Kompositionsschüler zu bewältigen lernte. Für Steinberg war sie die natürliche Umgebung, in der er sich fühlte wie der Fisch im Wasser. Strawinskij fand seinen Stil, indem er zur symphonischen Tradition in schroffe Opposition ging, aber warum hätte Steinberg mit ihr brechen sollen?

Wie die drei zuvor auf CD erschienenen Symphonien Steinbergs zeugt auch die Dritte von seiner außerordentlichen Begabung als Symphoniker. Mit den klassischen Formmodellen geht er durchweg phantasievoll um. Man höre nur, wie er im ersten Satz die Reprise unmerklich aus der Durchführung herauswachsen lässt und dann das Seitenthema, das in der Exposition als lyrisches Intermezzo erschien, kontrapunktisch über das Hauptthema schichtet und dadurch den Höhepunkt der musikalischen Handlung an eine sehr späte Stelle im Satz verlagert! Das Finale ist als zyklisches Fazit angelegt, wobei Steinberg weniger als acht Minuten benötigt, das mit Zitaten aus den Sätzen 1 und 3 gespickte Geschehen zur Abrundung zu bringen – Längen gibt es bei ihm nicht. Das Hauptthema des Finales ist zudem eine freie Umformung des Volksliedthemas aus dem dritten Satz; ein weiteres Thema, das fugiert verwendet wird, leitet sich deutlich vom Seitenthema des Kopfsatzes ab. In der Partitur stellt Steinberg es dem Dirigenten frei, die zwei Schlusstakte des dritten Satzes zu spielen, oder sie wegzulassen, um das Finale direkt anzuschließen. Dmitrij Filatow hat sich für den Attacca-Übergang entschieden, was der Dramaturgie des Werkes förderlich ist.

Mit Strawinskij verbindet Steinberg sein überragendes Instrumentationstalent. Der Orchesterklang der Dritten Symphonie ist fein abgestuft, farbensatt, konturenscharf und wirkt selbst im Tutti nie dick. An zahlreichen Stellen merkt man, dass man keine Symphonie des 19. Jahrhunderts mehr vor sich hat. Der in dieser Hinsicht „modernste“ Satz ist das Scherzo, ein leichtfüßiges, spielerisches Stück, das nichtsdestoweniger durch die ständigen unregelmäßigen Wechsel von 2/4- und 3/4-Takten recht unruhig wirkt und mit seiner oft kammermusikalisch anmutenden, durch Celesta, Harfe, Triangel und Glockenspiel stark aufgehellten Instrumentation kaum mehr „spätromantisch“ erscheint.

Mit dem dritten Satz kehrt das romantische Pathos freilich in die Symphonie zurück. Wie Steinberg das einfache, in melodischem Moll gehaltene Liedthema in einen durchaus mit Chromatik stark angereicherten Tonsatz einbettet, ohne dass der Charakter des Themas verloren geht und das Ganze harmonisch überladen wirkt, zeugt vom Einfallsreichtum wie vom guten Geschmack des Komponisten. Überhaupt ist Steinberg ein fesselnder Harmoniker: Seine Musik gründet sich auf einfache diatonische Verhältnisse, die er aber durch chromatische Zwischentöne stets interessant zu beleuchten weiß.

Filatow und das Uralische Jugendorchester leisten treffliche Arbeit dabei, diese Symphonie, die man in jeder Hinsicht ein Meisterwerk nennen kann, wieder zum Leben zu erwecken. Auf ihrer CD haben sie das Stück mit einem Werk von Steinbergs Schüler Schostakowitsch gekoppelt: der Suite aus dem Ballett Der Bolzen, das zur gleichen Zeit wie die Symphonie des Lehrers entstand. Musikalisch bietet sie einen starken Kontrast. Auch Schostakowitsch bedient sich folkloristischer Motive, allerdings in derb karikierender, grotesk zuspitzender Absicht, wobei er bewusst mit der Trivialität spielt – Tendenzen, die Maximilian Steinberg fremd waren. Steinberg blieb letztlich ein von den Idealen der vorrevolutionären russischen Musik geprägter Komponist, allerdings einer, der künstlerisch nicht erstarrte und lebenslang seinem Stil neue Seiten hinzuzugewinnen vermochte.

Nach Järvis Einspielungen dauerte es 16 Jahre, bis eine weitere Symphonie Steinbergs auf CD kam. Von dieser bis zur vorliegenden CD waren es immerhin noch sieben Jahre. Möge die Ersteinspielung der Fünften Symphonie Steinbergs, einer Symphonie-Rhapsodie auf usbekische Themen, nicht ähnlich lange auf sich warten lassen!

[Norbert Florian Schuck, September 2025]

Musikalisches Gipfeltreffen – Impressionen vom Enescu-Festival in Bukarest 2025

George Enescu ist nicht zu übersehen. Wer dieser Tage durch die prächtigen Straßen Bukarests flaniert, begegnet ihm an allen Ecken und Enden. Denn das Konterfei des berühmtesten nationalen Komponisten hängt an Wimpeln in der ganzen Stadt, markante Plakate – ein leuchtend orangener Kreis vor blauem Hintergrund – werben für Konzerte des „Internationalen George Enescu Festival“. Der Spätsommer 2025, genauer die Wochen zwischen dem 24. August und dem 21. September, steht ganz im Zeichen der größten Festspiele für klassische Musik in Rumänien. In Zahlen: rund 4000 Kunstschaffende aus 28 Nationen sind in über 100 Konzerten zu hören. Finanziert wird das Ganze zu etwa 90 % vom Staat, den Rest decken private Sponsoren ab. Die Tickets sind im Vergleich zu ähnlichen Festivitäten moderat, die günstigsten kosten 5 Euro, Studierende haben freien Eintritt und es gibt Rabatte für Senioren. Auch außerhalb der Hauptstadt werden Konzerte angeboten, etwa in Timișoara oder Sibiu.

Gegründet wurde das Internationale George Enescu Festival 1958, es fand zunächst mit Unterbrechung alle drei Jahre statt, seit 2001 sind es nur zwei. Doch wer ist der 1881 geborene Musiker? In Rumänien kennt ihn jedes Kind, er ziert die Vorderseite der Fünf-Lei-Banknote und seine folkloristisch inspirierten Stücke, etwa die beiden Rhapsodies Roumaines, sind populäres Allgemeingut. Enescu studierte in Paris, machte als Geiger und Dirigent Karriere und prägte das rumänische Musikleben bis Mitte der 40er Jahre. Das kommunistische Regime aber lehnte er ab, deshalb emigrierte er 1946 nach Frankreich, wo er 1955 starb. Als Komponist hinterlässt er ein vielseitiges, zwischen Spätromantik und Moderne stilistisch weitgefächertes Oeuvre, das mit wenigen Ausnahmen außerhalb Rumäniens immer noch eine Außenreiterrolle einnimmt. Das will das Festival ändern und Enescu über die Grenzen hinaus bekannter machen. Rund 50 seiner Werke werden gespielt, ein Höhepunkt wird die Inszenierung der einzigen Oper Oedipe sein. Doch die Festwochen bieten weit mehr als eine Enescu-Schau, sie sind gleichzeitig ein Gipfeltreffen künstlerischer Eminenzen. In einem Monat geben sich die Stars der klassischen Musikszene und internationale Spitzenorchester buchstäblich die Klinke in die Hand, gefühlt ist jeder von Rang und Namen vor Ort. Diesmal reisen beispielsweise Magdalena Kožená mit dem Orchestra dell’Academia Nazionale di Santa Cecilia an, Martha Argerich mit dem Orchestre de Monte-Carlo (geleitet vom Exgatten Charles Dutoit) und Anne-Sophie Mutter mit dem Orchestre National de France.

Die 27. Ausgabe steht 2025 unter dem Motto „Celebration“. Gefeiert werden Jubiläen bedeutender Komponisten und einiger Ensembles: die runden Geburtstage von Ravel, Pierre Boulez und Luciano Berio, der 50. bzw. 70. Todestag von Enescu und Schostakowitsch spiegeln sich in den Programmen wieder. So wird etwa Lady Macbeth von Mzensk, multimedial aufbereitet, erstmals in Rumänien gespielt.

Ravel: L’heure espagnole / © Petrica Tanase

Beim besuchten zweiten Wochenende dominiert Vokalmusik. Zum Auftakt gibt es in der Oper Bukarest eine komödiantisch pralle Produktion aus Cluj-Napota von Maurice Ravels Buffa L’heure espagnole. Das Ensemble, darunter die peruanische Tenorhoffnung Iván Ayón-Rivas, der vor Kraft strotzende Bariton Armando Noguera und die sinnliche Gaëlle Arquez, trifft charmant den frivolen Geist des Einakters. Deftiger langt Dirigent James Gaffigan zu: er entfacht mit dem Orquestra de la comunitat Valenciana spanisches Temperament, französische Subtilität bekommt weniger Raum. Die hat am nächsten Tag die Alte Musik-Truppe Les Ambassadeurs – La Grande Écurie, die mit auffällig vielen Instrumentalistinnen besetzt ist, reichlich im Gepäck. Auf dem Programm steht Dardanus von Jean-Philippe Rameau. Die Vertonung der griechischen Sage um den titelgebenden Halbgott und seine Liebesbeziehung zur feindlichen Prinzessin Iphise bereitet musikalisch viel Plaisier. Der Geiger und Dirigent Emmanuel Resche-Caserta entfaltet eine mitreißende, farbige Klangpracht, der Chœur de Chambre de Namur setzt als Zauberwesen, Ungeheuer und höfisches Personal chorische Glanzlichter und das Gesangsquintett – Judith Van Wanroij , Benoit-Joseph Meier, Thomas Dolié und Stephan Macleod – zeichnet sich durch stilistisches Können und vokalgestalterische Delikatesse aus. Die Krone aber gebührt Marie Prevost: als Venus lässt sie reinste Jubeltöne hören, spinnt zauberhafte Bögen und nimmt durch ihre sympathische Ausstrahlung zusätzlich für sich ein.

Jean-Philippe Rameau: Dardanus / © Andrada Pavel

Dardanus findet im prachtvollen Athenäum, dem historischen Schmuckstück unter den Bukarester Konzertsälen, statt. Dort gibt auch Asmik Grigorian, die gerade in Salzburg für ihren Crossover-Liederabend bejubelt wurde, zu später Stunde einen Soloabend traditioneller Art. Romanzen von Tschaikowski und Rachmaninoff, dazu zwei Enescu-Songs als Liebeserklärung an das rumänische Publikum stehen auf dem Programm. Die Sopranistin singt sie glorios, mit fülliger Stimme, samtigen Höhen und dramatischem Ausdruck. Sie macht aus den melancholischen Melodien große Arien, was der Atmosphäre der Lieder zwar nicht entspricht, aber beeindruckt. Auf Effekt setzt auch ihr Pianist Lukas Geniušas. In Gestus und Mimik ähnelt er einem exzentrischen Tastenlöwen, doch wie er sich in die Klavierbegleitungen versenkt und seine Solostücke zelebriert, ist bezwingend.

Asmik Grigorian und Lukas Geniušas / © Andrada Pavel

In bestem Licht präsentiert sich die Sinfonia Varsovia. Unter Leitung von Constantin Grigore bringt sie zusammen mit dem Kammerchor PRELUDIU – Voicu Enăchescu das Requiem for My friend von Zbigniev Preisner zu ergreifender Wirkung. Der Filmkomponist schuf es im Gedenken an den Regisseur Krzysztof Kieślowski, er verbindet liturgische Sequenzen mit einer weltlich-meditativen Klanglandschaft. Zwei Tage später beweist das Orchester in einem klug konzipierten Programm erneut seine Höchstform. Diesmal wird es von Marta Gadolinska, derzeit noch GMD in Nancy, beflügelt. Mit präziser Zeichengebung und gestalterischer Kraft lässt sie schon die Ouvertüre von Grażyna Bacewicz vor Spannung vibrieren, tritt dafür im anschließenden Klavierkonzert Nr. 1 von Chopin ganz zurück und ist aufmerksame Begleiterin für Rafał Blechacz bei seinem poetisch-sensiblen Ausflug in die Romantik. Nach der Pause entwickelt die Dirigentin dann eine enorme, stets kontrollierte Sogkraft für Wojciech Kilars Tondichtung Krzesany und Enescus‘ Chor-Symphonie Vox maris, der Sound ist geschmeidig und voll, dabei aber nie kompakt. Wunderbar! Das Gastspiel des Warschauer Orchesters ist Teil der rumänisch-polnischen Kultursaison 2024-2025 und setzt damit in zunehmend nationalistisch geprägten Zeiten ein wichtiges Zeichen zur Völkerverständigung. So wie es auch der Auftritt des Ukrainian Freedom Orchestra zur Eröffnung ist, der sowohl als Geste wie als politisches Statement verstanden werden kann.

Marta Gadolinska / © Maria Gindac

Was gibt es noch? Nicht alles kann erwähnt werden angesichts der Fülle von Veranstaltungen. Es gibt Kammermusik im Sala Auditorium, eine konzertante Zauberflöte und György Kurtags Fin de partie als Referenz an den fast 100-jährigen Komponisten. Und auch an junge Menschen wird gedacht. Eine phantasievoll gestaltete Matinee im altehrwürdigen Odeontheater vermittelt Kindern Enescus Biographie in einer Mischform aus Musikausschnitten und Texten. Das Jugendorchester Orchestra Sinfonietta unter Mihnea Ignat offenbart hohes Niveau, das Manuskript liest der omnipräsente künstlerische Leiter und Dirigent Cristian Măcelaru selbst. Es ist sein Anliegen, das Festival für die junge Generation zu öffnen. Und er hat Erfolg damit: „Enescu in Control“ heißt ein Projekt – es präsentiert Programme unterschiedlichster Couleur, von Bachbearbeitungen bis zum Jazz, im angesagten Club Control, die offenbar den Geschmack der Youngsters treffen. Die Karten sind heiß begehrt – ein gutes Omen für die Zukunft.

Mihnea Ignat, Orchestra Sinfonietta / © Maria Gindac

[Karin Coper, September 2025]