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80 Jahre musica viva: K. A. Hartmann, Alberto Posadas und ein hinreißendes Cellokonzert von Benjamin Attahir

Anlässlich des 80. Geburtstags der Münchner musica viva bewältigte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks am 24. Oktober 2025 im Herkulessaal unter Duncan Ward ein beachtliches Programm: Zu Ehren des Begründers der Konzertreihe erklang Karl Amadeus Hartmanns späte 8. Symphonie. Zuvor gab es zwei neuere Instrumentalkonzerte: Das „Königsberger Klavierkonzert“ von Alberto Posadas (*1967) mit dem Pianisten Florian Hölscher sowie das Cellokonzert „Al Icha“ von Benjamin Attahir (*1989) mit Jean-Guihen Queyras.

Jean-Guihen Queyras, Christopher Ward, BRSO / © Astrid Ackermann-BR

Kaum zu glauben: Die Münchner Konzertreihe für moderne Musik, musica viva, wurde nun 80 Jahre alt. Die Verteilung des Programms quer über die gesamte Spielzeit eines Spitzenorchesters sucht wohl weltweit ihresgleichen und hält das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, oft einschließlich des Chores, in stetem Kontakt zu aktuellen Kompositionen. Als der Münchner Komponist Karl Amadeus Hartmann (1905–1963) am 7. Oktober 1945 im Prinzregententheater das erste Konzert veranstaltete – mit Musik von Mahler, Debussy und Busoni – war der anhaltende Erfolg der Reihe noch nicht absehbar. Längst zählt die musica viva zu den absoluten Aushängeschildern Münchner Kultur und das Konzert am Freitag war nicht nur wegen des Jubiläums wieder gut besucht – mit einem heterogenen und ungewöhnlich langen Programm.

Der Spanier Alberto Posadas hat kurz zuvor in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste den Happy New Ears-Preis 2025 für Komposition der Hans und Gertrud Zender-Stiftung entgegengenommen. Der Preis für Publizistik zur Neuen Musik ging diesmal an Christian Utz. Posadas richtet sich häufig an mathematischen Modellen aus – z. B. im Streichquartett-Zyklus Liturgia fractal an komplexen Fraktalen. Derlei Konzepte mögen bei Kammermusik noch aufgehen. In seinem Königsberger Klavierkonzert (2023) ist es der Eulerkreis, den der Mathematiker im Umfeld des berühmten Königsberger Brückenproblems entwickelt hatte, eine der Grundlagen der Graphentheorie. Dass sich dies musikalisch auf klangliche „Brücken“ zwischen Klavier und Orchester übertragen lässt, zeigt Posadas mit einer völlig hypertrophen Orchestrierung, die zwar erstaunliche und interessante Einzelereignisse hervorbringt, jedoch mangels wahrnehmbarer motivischer Arbeit auf den Hörer ziellos, fast beliebig wirkt: ein mit zudem 40 Minuten Länge völlig unverdaulicher Klops. Florian Hölscher, der Posadas bereits den Klavierzyklus Erinnerungsspuren abgerungen hatte, muss einen exorbitant schwierigen Part bewältigen: auf der Tastatur Cluster und schnellste Bewegungsmuster in ständigem Wechsel, im langsamen Mittelsatz unkonventionelles, sonores Spiel im Innern des Flügels. Der Brite Duncan Ward steuert die Klangmassen erneut souverän, kann aber bei dieser Musik keinen Funken überspringen lassen, weder aufs Orchester noch das Publikum: wohlwollender Applaus allenfalls für den Solisten.

Völlig andere musikalische Qualitäten zeigt dann das Cellokonzert Al Icha des französischen Komponisten Benjamin Attahir. Kulturell gleichermaßen in der westlichen wie der arabischen Musik verwurzelt, hat sich Attahir sogar mit Klezmer beschäftigt. In der Zeit des Corona-Lockdowns entstanden, verbindet er hier, im letzten, nächtlichen Stück eines Zyklus, der sich den fünf täglichen muslimischen Gebetszeiten widmet, Elemente von Gregorianik, Rak’ahs und eben jiddischer Melodik zu einer genialen Symbiose. Auch für den Solisten bietet das Werk emotional traumhaft differenzierte und klanglich bestechende Entfaltungsmöglichkeiten. Attahir war 2021 nach den ersten Proben nicht ganz mit der zu barocken Auffassung des Cellisten Jean-Guihen Queyras einverstanden und änderte den Solopart in einigen Details so, dass ein „postromantischer Klang“ erreicht wird. Attahirs Musik ist allerdings keinesfalls mit amerikanischer Neoromantik – Schwantner, Rouse etc. – zu verwechseln. Er benutzt hochkomplizierte Strukturen und Rhythmen, Mikrotonalität, beherrscht zugleich sensationell geschickt altbewährte Formen wie Fugati, ob deren Schönheit man durchaus in Verzückung geraten kann. Man sieht es an der bei dieser Darbietung gestalterisch viel mehr eingreifenden linken Hand des Dirigenten und an den Reaktionen des Orchesters, dass diese Musik unmittelbar lebendige Kommunikation bewirkt. Queyras hat das Stück – dies ist die vierte Aufführung – mittlerweile so verinnerlicht, dass bei ihm eine Freiheit und Tiefe des Ausdrucks entsteht, wie man sie sonst nur von Klassikern des Repertoires erwartet. Der Saal bejubelt die Musiker und den noch jungen Komponisten enthusiastisch wie selten.

Am Schluss gibt es dann nochmal eine halbstündige kalte Dusche: Karl Amadeus Hartmanns achte und letzte Symphonie entstand 1962. Der Nazi-Terror war in der BRD nicht ansatzweise aufgearbeitet und der Kalte Krieg hatte in der Kuba-Krise einen neuen Tiefpunkt erreicht. In der für ihn typisch zweisätzigen Form gelingt Hartmann ein Höhepunkt an orchestraler Expressivität, die hörbar eine Linie Mahler–Berg fortsetzt. Die Wucht, mit der Emotionen hier geradezu eruptiv aufwallen und doch gegen Wände zu rennen scheinen, kann zutiefst verstören, auch heute noch. Trotzdem muss so etwas schon damals – als die Gattung Symphonie fast verschwunden schien und der Serialismus sich für viele Komponisten als Irrweg erwies – etwas antiquiert, wenn nicht stur gewirkt haben. Letztlich hat Alban Berg in seinem dritten Orchesterstück aus Op. 6 schon zu Beginn des Ersten Weltkriegs ähnlich dystopische Visionen fast bis an die Grenze ausgelotet. Hartmanns kompositorische Meisterschaft steht außer Frage, und das BRSO gibt wieder sein Bestes für den bedeutendsten Symphoniker der Stadt. Ward setzt die Mechanismen perfekt um, mit denen hier beängstigende Dramatik in immer neuen Wellen aufgebaut wird und hält die (An)-Spannung bis zum Schluss. Die wunderbare Ausgewogenheit seiner 6. Symphonie – Hans Werner Henze hat diese mit größter Empathie beschrieben – ist dafür weit weg, und man darf sich fragen, ob Hartmann, hätte er noch länger gelebt, diesen Weg weiter beschritten hätte. In ihrer humanistischen Warnung vor der Apokalypse muss man die Achte heutzutage leider wieder absolut ernstnehmen. Die Münchner wissen sowieso, was sie K. A. Hartmann zu verdanken haben und applaudieren anhaltend.

[Martin Blaumeiser, 25. Oktober 2025]

Musica viva: Bewegendes Bratschenkonzert von Gubaidulina und eine überzeugende Borboudakis-Uraufführung

Neben drei neuen Werken – „Mali svitac“ und „Čvor“ von Milica Djordjević sowie „sparks, waves and horizons“ von Minas Borboudakis als Uraufführung – spielte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung von Duncan Ward am 23. Februar 2024 im Münchner Herkulessaal noch Charles Ives‘ Klassiker „Central Park in the Dark“. Als eigentliches Hauptwerk erwies sich allerdings Sofia Gubaidulinas Konzert für Viola und Orchester mit dem überragenden Solisten Lawrence Power.

Lawrence Power spielt mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Leitung von Duncan Ward, Photo © Astrid Ackermann/BR

Wohl um das 150. Geburtsjahr – 2024 gibt es noch weit mehr Jubiläen als Bruckner und Schönberg – des Vaters der amerikanischen Neuen Musik zu feiern, hatte man an den Anfang des musica viva Konzerts letzten Freitag Charles Ives‘ (1874‒1954) Klassiker Central Park in the Dark von 1906 gesetzt: immer noch erstaunlich aktuell mit seiner Collage von zunächst Naturlauten (Streicher), die nach und nach von menschlichen Klängen überlagert werden. Schon hierbei zeigte der junge britische Dirigent Duncan Ward, dass er einen komplexen Apparat – mit Fernorchester – absolut im Griff halten und klanglich subtil steuern kann.

Hatte die aus Serbien stammende Komponistin Milica Djordjević (*1984) vor 1½ Jahren den Rezensenten noch mit Mit o ptici überzeugen können, war die Wirkung der beiden jeweils unter 6-minütigen nun dargebotenen Stücke eher blass. Mali svitac, žestoko ozaren i prestravljen nesnošljivom lepotom [Kleines Glühwürmchen, grell beleuchtet und erschrocken von unerträglicher Schönheit], 2023 für die Berliner Philharmoniker komponiert, bezieht sich neben Naturerfahrungen der Kindheit auch wieder auf Dichtung Miroslav Antićs. Die Streicher sind hochdifferenziert geteilt, flirrend bis ins Geräuschhafte; Schlagzeug, Kontrafagott etc. machen unten Dampf. Leider wurde es dann ganz schnell langweilig; über die Bedeutung der chromatischen, offenkundigen Mahler-Allusion im Blech [Trauermarsch der 5. Symphonie, Zif. 18] hätte man gerne mehr erfahren. Farbigkeit und Dichte täuschten nicht darüber hinweg, dass mangels Zeit für zwingende Entwicklung – maximal 5 Minuten waren hier Vorgabe – vieles arg gewollt erschien: trotzdem starker Beifall.

Obwohl durch einen schmerzlichen Krankenhausaufenthalt geprägt, ist Djordjevićs Knoten [Čvor] bei vielen Zuhörern überhaupt nicht geplatzt. Das streicherlose Ensemble erzeugt von Beginn an unentwegt vor allem Schalldruck: lautes Gerappel in Klavier und Schlagwerk. Das sollte sicher absichtsvoll nervig sein, gewissermaßen zeitlichen Stillstand symbolisieren; eine existentielle Bedrohung wurde dadurch jedoch keinesfalls erfahrbar – schwach.

Ganz andere Dimensionen eröffnete der schon lange in München tätige kretische Komponist Minas Borboudakis (*1974) in seinem 26-minütigen Stück sparks, waves and horizons. Mit nur 3-facher Bläserbesetzung, aber gewaltigem Schlagzeugapparat wurde hier die Figur der Welle formgebend. Plumpen Naturalismus vermeidet der ehemalige Schüler u. a. Wilfried Hillers dabei konsequent. Im Orchester hörte man sehr vielschichtige Klänge: spektral geprägte Klangflächen neben distinkten Einzelereignissen und sehr individuellen Instrumentationsideen an den Höhepunkten. Schöne, klare Effekte – besonders im Klavier und melodischem Schlagwerk –, nie zu viel gleichzeitig, sogar mal tonale Akkorde im Blech, vermittelten teils echte Dramatik. Dort, wo die Musik quasi „steht“, wurde es leider auch wieder ziemlich uninteressant – eher Flaute statt Funken. Das mit komplexen Mitteln – Loops, Polyrhythmik, „Morphing“ – bewirkte Auf und Ab schien letztlich doch recht vorhersehbar. Duncan Ward pinselte dies anfangs ziemlich trocken und steif, fast so eckig wie Stop-Motion-Animationen à la Ray Harryhausen, zeigte mit der linken Hand nur wenig. Vieles lief bei ihm über Grimassen – was indes erstaunlich präzise funktionierte. Dafür hörte er genau hin und reagierte extrem vorausschauend und umsichtig – das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks spielte erneut hochengagiert und in Top-Form. Insgesamt zweifellos eine gelungene Uraufführung, die entsprechend honoriert wurde.

Der Höhepunkt des Abends war allerdings dann ganz klar das über eine halbe Stunde währende Bratschenkonzert (1996) von Altmeisterin Sofia Gubaidulina (*1931), sensationell vorgetragen vom Briten Lawrence Power, der von Beginn an nicht nur mit enormer Klangfülle, sondern zudem mit einem schon akustisch ungewöhnlich tragfähigen Instrument aufwarten konnte. Gubaidulina hat den Solopart 2015 gründlich revidiert; vieles ist nun nochmals differenzierter, teils zugleich roher als in der Fassung für Yuri Bashmet. Power – der in der anstrengenden Partie viele Soli zu gestalten hat – agierte sowohl sensibel als auch äußerst kratzbürstig, oft unzähmbar wie ein Wespennest, wo es die Partitur fordert. Solist und Orchester finden in diesem Werk kaum das Miteinander – zwei Welten stehen sich unvereinbar gegenüber, höchstens mal vermittelt durch ein um einen Halbton tiefer gestimmtes Streichquartett innerhalb des Ensembles. Und wie unheimlich wirkten hier die nach einem Drittel zum Einsatz kommenden Wagner-Tuben, gerade im Unisono! Derartige musikalische Zeichen klappen emotional halt punktgenau. Ward dirigierte nun weitaus elastischer als zuvor. Das zutiefst beeindruckende Konzert lag offensichtlich allen Beteiligten – am Schluss nicht enden wollender Applaus, jedoch keine Zugabe. Was soll man solchen Gänsehaut-Momenten auch noch hinzufügen?

[Martin Blaumeiser, 25. Februar 2024]