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Henzes „Das verratene Meer“ aus der Wiener Staatsoper

Capriccio C5460 (2CD); EAN: 8 45221 05460 5

Die Erstaufführung von Hans Werner Henzes Oper Das Verratene Meer an der Wiener Staatsoper musste im Dezember 2020 coronabedingt noch live ohne Publikum aufgezeichnet werden. Die Dirigentin Simone Young und das Regieteam von Jossi Wieler und Sergio Morabito hatten aus den beiden existierenden Fassungen von 1986-89 und 2003-2005 eine musikalisch absolut schlüssige Version ausgearbeitet, die nun auf CD brillieren kann.

Schon im Titel seiner Einführung zu Hans Werner Henzes Das verratene Meer, die anlässlich der Uraufführung an der Deutschen Oper Berlin am 5. 5. 1990 erschien, wies Peter Petersen auf ein Alleinstellungsmerkmal unter dem (bis dato) guten Dutzend abendfüllender Musiktheaterwerke des Komponisten hin: Das Stück sei Henzes erste Zeit-Oper, „in der unsere Gegenwart nicht nur das Thema, sondern auch die Spielzeit und den Spielort bildet“. Neben den märchenhaften, mythischen bzw. in einer näher bestimmbaren Vergangenheit verortbaren Opernsujets steht die Dramatisierung von Yukio Mishimas 1963 veröffentlichtem Roman Gogo no Eiko (deutsch: Der Seemann, der die See verriet) in der Tat mit beiden Beinen in der Realität; nur in seiner allerletzten Oper Gisela! (2010) – die freilich mit einem fiktiven Ausbruch des Vesuvs endet – wagte sich Henze nochmals so dezidiert an die Jetztzeit.

Die Handlung ist schnell erzählt: Als sich die verwitwete Fusako in den Seemann Ryuji verliebt, beobachten ihr 13-jähriger Sohn Noboru – durchaus voyeuristisch – und dessen Halbstarken-Gang dies zunächst mit Faszination. Ryujis Entscheidung gegen die Seefahrt zugunsten einer Heirat mit Fusako wird von den Jugendlichen jedoch als Verrat gedeutet, so dass sie ihn schließlich grausam ermorden. Dahinter verbergen sich bereits bei Mishima höchst komplexe wie divergierende gesellschaftskritische und psychologische Aspekte, die Henze zu seiner vielleicht besten Kammeroper inspiriert haben. Kammeroper deshalb, weil im Gegensatz etwa zu den Bassariden – wo neben grandios besetzten Figuren für nahezu alle klassischen Gesangsfächer ein gewaltiger Chor der eigentliche Star ist – nur die drei obigen Hauptpersonen plus die „Gang“, ein namenloses Herrenquintett mit Noboru als „Nummer Drei“, auftreten. Das Orchester hingegen ist sehr üppig besetzt, mit nur ein paar Japonismen, Das verratene Meer daher nur für die größten Bühnen realisierbar.

Trotz einer musikalisch prächtigen Premiere in Berlin unter Markus Stenz war Henze mit der Regie von Götz Friedrich sehr unzufrieden; nach drei weiteren Produktionen (u. a. in San Francisco) verschwand das Werk von den Spielplänen. Henze war sehr wohl klar, dass er hier seine womöglich psychologisch differenzierteste und am besten instrumentierte Oper geschaffen hatte. So kam es 2003–2005 zu einer Neufassung mit einigen Erweiterungen, namentlich der Zwischenspiele, aber auch kleineren Streichungen, vor allem jedoch einer Rückübersetzung von Hans-Ulrich Treichels Libretto ins Japanische – was man überaus fragwürdig finden mag. Jedenfalls wurde diese Version als Gogo no Eiko nach Japan dann konzertant bei den Salzburger Festspielen 2006 gegeben; der Mitschnitt unter Gerd Albrecht ist auf CD greifbar.

Dem Produktionsteam an der Wiener Staatsoper, allen voran der Dirigentin Simone Young, waren gewisse Inkonsistenzen der Neufassung sofort bewusst. Sie gingen textlich auf das ursprüngliche Deutsch zurück, übernahmen sämtliche neu komponierte Musik, öffneten aber auch wenige Striche teilweise wieder (Youngs Videobeitrag dazu auf Youtube: siehe hier). Das Booklet gibt darüber dankenswert detailliert Auskunft – und diese Version erweist sich nun als wirklich optimal. Youngs Dirigat ist insgesamt energischer, dabei gleichzeitig über Strecken langsamer als bei Albrecht. Young hebt gewisse, oftmals äußerst raue Züge dramatisch hervor; und die bruitistischen Elemente der Partitur (Alltagsklänge vom Band wie Möwengeschrei, Presslufthämmer, Abrissbirne usw.) sind im Gegensatz zu Salzburg natürlich alle wieder da.

Die Wiener Sängerriege agiert ähnlich: Staatsopern-Neuzugang Vera-Lotte Boeckers Fusako gerät durchaus vielschichtig, die lyrischen Seiten der Figur werden nicht derart überbetont wie von Mari Midorikawa, die ihre reine Stimmschönheit fast zu sehr zelebriert. Die Momente von Sehnsucht, Unsicherheit, gar Wut, schlagen bei Boecker schnell in pure Dramatik um. Bo Skovhus hat sich in den letzten 25 Jahren etliche Rollen des modernen, deutschen Repertoires gründlichst erarbeitet – darunter Wozzeck, Dr. Schön, Karl V. und Lear. Ryuji wird er ebenfalls mehr als gerecht; ganz anders als der merkwürdig blasse Tsuyoshi Mihara in Albrechts Japan-Riege. Trotz seiner guten, klaren Diktion und bewusster dynamischer Gestaltung muss sich Skovhus aber mittlerweile einen gewissen pauschalen Klang eines immerzu heldischen Baritons vorwerfen lassen. Dem spielt Henze hier freilich noch in die Hände, wenn er z. B. ausgerechnet bei der Stelle „Willst Du mich heiraten? Ob Du mich heiraten willst?“ die Vortragsanweisung „brüllend, als müsse er gegen einen Sturm anschreien“ gibt. Derlei Paradoxien werden dann beinahe zur Karikatur. An die eindringliche, glaubwürdige Emotionalität eines Andreas Schmidt bei der Uraufführungsserie 1990 in Berlin kommen beide nicht heran.

Problematischste Rolle des Verratenen Meers bleibt allerdings Noboru: Wirkte Jun Takahashi mit seinem extrem hell timbrierten Tenor geradezu weibisch, kann Josh Lovell rein stimmlich und ausdrucksmäßig zwar überzeugen, sein Deutsch ist dafür leider noch alles andere als akzentfrei. Warum lässt man das an der Wiener Staatsoper so durchgehen? Bei der „Gang“ ist Erik Van Heyningen (Nummer Eins, hoher Bariton) immer bedrohlich, kann sich gleichzeitig gut ins fünfstimmige Ensemble – neben Lovell kommen dazu Kangmin Justin Kim, Countertenor, Stefan Astakhov, Bariton und Martin Häßler, Bass – einfügen; ein Mitglied des Opernstudios, das sogleich aufhorchen lässt. Bei den bewusst polyphonen Passagen erscheint das japanische Ensemble dennoch etwas souveräner einstudiert.

Albrecht wirkt mit dem Turiner Orchester des RAI in vielen Details sensibler, dafür jedoch matter, unentschiedener als Young – genau jenes Geschmäcklerische, das Kritiker Henze immer vorgeworfen haben. Young liefert robustes Musikdrama, mit einem natürlich absolut hervorragend mitgehenden Orchester der Wiener Staatsoper, das selbst bei Grobheiten farbig bleibt, wie den Mordszenen der beiden Aktschlüsse: Zunächst probieren die Jungs das Töten an einer Katze aus. Aufnahmetechnisch ist der Mitschnitt des Österreichischen Rundfunks aus der Wiener Staatsoper dem aus Salzburg zumindest leicht überlegen und für einen Live-Mitschnitt schön durchsichtig. Für dieses hochbedeutende Werk, das der Rezensent auf gleichem Niveau ansiedelt wie die Bassariden, wünscht man sich gerne ein Video der Wiener Aufführung – die CD-Ausgabe mit enorm informativem Booklet samt Libretto ist bereits fraglos eine der wichtigsten Einspielungen der letzten Jahre und Pflicht für alle Opernfreunde.

Vergleichsaufnahme: Midorikawa, Mihara, Takahashi etc., Orchestra Sinfonica Nazionale della Rai, Gerd Albrecht (Orfeo C 794 092 I, 2006)

[Martin Blaumeiser, April 2022]

Einems Urteil gegen den Prozess

Capriccio, C5358; EAN: 8 45221 05358 5

Wir erleben Gottfried von Einems Oper „Der Prozess“ in einer Darbietung mit dem ORF Vienna Symphony Orchestra unter HK Gruber. Michael Laurenz singt den Josef K., Jochen Schmeckenbecher den Aufseher, Geistlichen, Fabrikanten und Passanten; als Student und Direktor-Stellvertreter hören wir Matthäus Schmidlechner, Lars Woldt als Untersuchungsrichter und Prügler. Johannes Kammler spielt den Gerichtsdiener und den Advokaten, Jörg Schneider Titorelli. Als Frau des Gerichtsdieners, Leni und buckliges Mädchen spielt Ilse Eerens, Anke Vondung als Frau Grubach. Als Kanzleidirektor und Onkel Albert wirkt Tilmann Rönnebeck. Alexander Hüttner, Martin Kiener und Daniel Gutmann schließlich sind die drei Herren und die drei jungen Leute, ersterer zudem ein Bursche.

Bei diesem Prozesses, den Kafka in Worte fasste und Einem in Töne setzte, läuft es einem eiskalt den Rücken runter. Das Geschehen wirkt surreal, und doch wissen wir, dass es hundert- und tausendfach so ähnlich abgelaufen ist. Wenn wir die Geschichte von Josef K. hören, der aus heiterem Himmel verhaftet und schließlich zum Tode verurteilt wird, denken wir sogleich an das Hitlerregime oder an Stalins Schreckensherrschaft; Kafka hat beide nicht mehr miterlebt, was die universelle Aussagekraft und den sich auf unterschiedlichste Art und Weise wiederholenden Terror vor Augen führt. 

Als Josef K. von seiner Verhaftung erfährt, weiß er um seine Unschuld, beziehungsweise, kann sich nicht einmal einen Grund für die Gefangenname ausmalen. Doch nach und nach entdeckt er, dass scheinbar alle in irgendeiner Weise in Kontakt mit dem Gericht stehen und die Aussichten für eine Freisprechung immer weiter schwinden. Ohne es zu wissen, treibt er mit seinem – in keiner Weise verwerflichen – Handeln den Prozess immer weiter voran, die Meinungen über seine Schuld und den Ausgang der Verhandlung werden immer düsterer und der Schuldspruch immer unausweichlicher. Schließlich ist Josef K. selbst von seiner Schuld überzeugt, nimmt das Todesurteil regungslos an und spricht sogar nachsichtig: „Die Herren werden schwere Arbeit haben“. Besonders schaurig wirkt die ganze Geschichte, da eine bürokratische Ausdruckslosigkeit bei vollendeter Höflichkeit nie durchbrochen wird, was eine Aura der pedantischen Richtigkeit vorgibt.

„Der Prozess“ betont die detaillierte Schilderung der Handlung und besitzt ein umfangreiches Libretto, geschrieben von Boris Blacher und Heinz von Cramer. In Folge dessen nimmt Einem den Gesang zurück zu einem Parlandostil, der in Nachfolge zu den späten Straussopern und einigen Beiträgen von Emil Nikolaus von Reznicek (Benzin, Spiel oder Ernst?) noch mehr einen reinen Sprechgesang in den Vordergrund stellt. Die so entstehende Gleichförmigkeit unterstreicht das Bürokratische, welches so wesentlich für diese Oper ist. Gottfried von Einem legte dennoch schon bei der Uraufführung großen Wert auf Starbesetzung. Umso expressiver gestaltete er das Orchester, welches in fadenscheiniger Beschwingtheit, dämonischem Tanz und offen sarkastischer Heiterkeit immer weiter in die Tiefe treibt. Drohende Fratzen durchziehen gleißend die Musik, es herrscht ein stetes Gefühl der Bedrohung vor. Dabei wechselt Einem rasch die orchestralen Klangfarben und Stimmungen sowie die verwendeten Stilmittel von tonal bis modern, stellt sogar eine für ihn sonst unübliche Zwölftonreihe an den Beginn, die jedoch vor allem als umspielte absteigende Linie in Erscheinung tritt und nicht als thematisches Material Verwendung findet.

Die Darbietung überzeugt durchweg sowohl von der sängerischen als auch der orchestralen Leistung. Die Sänger behalten eine stimmige Distanz bis zu einer Neutralität, die aber ebenso gewünscht ist in dieser Musik. Die langsame Metamorphose von Josef K. bis zu seinem Schuldbekenntnis setzt Michael Laurenz präzise und sogar gewissermaßen einfühlsam um, was seine Rolle sich vom bürokratischen Umfeld absetzen lässt. Mit expressiver Kraft befeuert HK Gruber das Vienna Radio Symphony Orchestra und treibt es so intensiven Höchstleistungen an, unnachgiebig im Ausdruck und der Wechselhaftigkeit.

[Oliver Fraenzke, Dezember 2019]